19.05.2019, 18:54
Mit einem vernehmlichen Klonk stellte Lucien die drei Flaschen Alkohol in der Mitte des Tisches ab. Eine mit Rum, zwei mit starkem Portwein. Die Art und Weise, wie seine Züge dabei einen fast peinlich-belustigten Zug annahmen, verriet, dass er schon nicht mehr ganz unter Kontrolle hatte, mit wie viel Anlauf man volle Flaschen eigentlich irgendwo abstellen sollte, um zu vermeiden, was auch in diesem Moment geschah: Dass oben aus dem entkorkten Flaschenhals ein Schluck des Inhalts heraus hüpfte und sich auf dem Tisch ergoss. Erfreulicherweise ging jedoch nicht allzu viel daneben.
„Die Runde geht auf mich.“,
verkündete der junge Captain und ließ sich mit einem schweren Seufzen auf seinen Platz fallen. Die Welt kippte kurz ein bisschen, doch als sich sein Gleichgewichtssinn beruhigte und der Stuhl, auf dem er saß, ihm festen Halt versprach, ging es wieder. Er durfte nur nicht aufstehen. Der Weg von der Theke zurück zum Tisch, an dem er mit Sylas und Enrique saß, war der reinste Balanceakt gewesen. Obwohl der Trubel im Wirtshaus ein wenig nachgelassen hatte, das Gedränge längst nicht mehr so überwältigend war und ihm keiner nennenswert in die Quere kam. Freilich keine Tatsachen, die ihm ganz bewusst aufgefallen waren, sondern Umstände, die er in seinem von Alkohol umnebelten Verstand einfach als gegeben hinnahm. Genau so wollte er es. An nichts denken. An nichts, was ihm weltbewegender erschien, als die Frage, wie es eigentlich dazu gekommen war, dass er mit Enrique und ausgerechnet Sylas in geselliger Runde an einem Tisch landete und für sie drei den Alkoholnachschub organisierte. Gut, die Gesellschaft des ehemaligen Leutnants erschien ihm weniger ominös, als die des Kerls, der seine Schwester gegen eine Hauswand gepresst und den er dafür beinahe erschossen hätte. Aber was soll's. Die Wege des Alkoholrauschs waren unergründlich.
Lucien beugte sich über den Tisch, griff nach einer der Portweinflaschen und füllte sich seinen Krug bis zum Rand, bevor er mit seinem Trinkgefäß in der Linken zurück gegen seine Lehne sank und einen großzügigen Schluck des schweren, süßen Weins seine Kehle hinabrinnen ließ. Die tiefgrünen Augen wanderten über den Krug hinweg zu Sylas, der ihm gegenüber saß und genauso fleißig am Bechern war, die der 21-Jährige selbst. Das zumindest musste er ihm ja zugestehen: Trinken konnte er.
„Was sagst du, Sylas? Wäre das hier nicht der richtige Ort für dich?“
In den grünen Augen blitzte kurz herausfordernde Belustigung auf. Er machte keinen Hehl daraus, dass er den Hünen nicht auf dem Schiff haben wollte. Dass seine Anwesenheit nur toleriert wurde, weil Talin ihre kleine Schuld zu begleichen und ihm dafür eine Mitfahrgelegenheit geboten hatte. Allerdings klang er in diesem Moment eher scherzend, als wirklich provokativ. Oder irgendwas dazwischen.
„Wenn die hier jedes Mal so eine Party schmeißen, nur weil jemand heiratet, kann es eigentlich gar nicht so schlecht sein...“
Wieder setzte Lucien den Krug an die Lippen, trank einen großen Schluck und stellte das Gefäß auf dem Tisch ab. Allerdings ohne loszulassen. Die vergangenen Wochen auf See hatten ihm gut getan – zumindest körperlich. Er hatte einiges an Gewicht zugelegt, seine Rippen zeichneten sich nicht mehr unter der Haut ab und von der ständigen Arbeit auf dem Schiff kehrte seine Muskulatur langsam aber sicher zurück. Außerdem hatte er die Zeit ausgiebig dazu genutzt, seine Leber zu trainieren, die nach zwei Jahren Abstinenz deutlich an Leistung eingebüßt hatte. Inzwischen vertrug er wieder erstaunlich viel.