19.05.2019, 13:08
Neben ihm zog sich seine Schwester auf den Schreibtisch hinauf, streifte dabei mit dem Arm seine Schulter, bevor sie es sich spürbar gemütlich machte. Doch Lucien behielt den Leutnant im Blick und blieb als einziger in ihrer kleinen Runde stehen – wenn auch nach wie vor mit einer geradezu geselligen Haltung und ruhiger Freundlichkeit in den tiefgrünen Augen. Trotzdem – ihm entging keine Reaktion, die sich in der Mimik des Älteren spiegelte.
Ihm war vollkommen bewusst, dass ihre 'Pläne' keine echten Pläne waren. Zumindest nicht das, was über 'das Schiff reparieren' hinaus ging. Es waren die Träume und Wünsche zweier Jugendlicher, denen nie etwas Schlimmeres widerfahren war, als sich der Strenge der Eltern und den Hänseleien von Gleichaltrigen ausgesetzt zu sehen. Aber auch wenn er selbst dieser Junge nicht mehr war, wusste er, dass Talin sich dieses Kind bewahrt hatte. Für ihn zählte nichts anderes mehr, als an ihrer Seite zu stehen. Ihm war es gleich, wohin die Reise ging. Und wenn das hieß, mit ihr auf die Suche nach Drachen zu gehen und dabei jede einzelne Welt zu bereisen, weil es das war, was sie sich wünschte... dann würde er das tun, ohne zu zögern. Das war es, was die Geschwister ausmachte. Und für Lucien gab es sonst nichts mehr auf dieser Welt.
Er sah Enrique an, dass ihm die endgültige Antwort nicht gefiel. Weder die des 21-Jährigen, noch die seiner Schwester. Aber er arrangierte sich damit und das war auch gut so. Denn ein besseres Angebot würde er nicht bekommen. Zumindest noch nicht. Talin hatte Recht. Lucien mochte dem ehemaligen Soldaten gegenüber eher freundschaftlich gesonnen sein, aber mit Vertrauen hatte das nichts zu tun. Ob er das verdiente, würde sich früher oder später zeigen müssen. Allerdings hieß das nicht, dass sie nicht mit offenen Karten spielen konnten. Das zumindest schien Enrique fast zu überraschen.
„Es gibt keinen Grund, irgendetwas zu verbergen. Solltest du uns hintergehen, begleichen wir diese Rechnung. Du müsstest uns schon töten, um das zu verhindern.“ Ein flüchtiges Schmunzeln huschte über seine Lippen, doch an dem entspannten Ausdruck in seinen Augen, mit dem er Enrique ansah, änderte sich nichts. Nichts in seinem Tonfall ließ auf eine Drohung schließen. Es war schlicht und ergreifend eine Feststellung.
Schließlich neigte Lucien den Kopf auf die Seite, schloss kurz die Augen und nickte verstehend.
„Du musst dich nicht sofort entscheiden. Rede mit deinem Sergeant und trefft eure Wahl. Ihr habt Zeit, bis wir den nächsten Hafen erreichen. Dann könnt ihr uns entweder verlassen oder mit uns segeln.“
Wieder zeigte sich ein Lächeln auf seinen Lippen, als die grünen Augen zurück zu dem ehemaligen Soldaten wanderten. Dieses Mal mit einer geradezu kühnen Arroganz gegen alles, was andere Leute für selbstverständlich oder unausweichlich hielten.
„Und ja. Genau das heißt es. Ich kann nicht für jeden hier sprechen. Mit Sicherheit wird es einige geben, die sich aus deinen Angelegenheiten heraus halten wollen und die es nicht gutheißen, Schiff und Crew für die Fehden eines Einzelnen in Gefahr zu bringen. Aber Loyalität will verdient sein und wenn du beschließt, uns die deine zu erweisen, tun wir das gleiche für dich. Talin und ich haben Rechnungen zu begleichen und Schulden einzulösen und wir werden dieses Schiff und seine Mannschaft dafür benutzen. Es wird sich noch zeigen, wie weit jeder einzelne bereit ist, uns zu folgen. Doch im Gegenzug ist jedermanns Feind hier auch unser Feind und jedermanns Rechnung auch die unsere. Das bedeutet diese Carta für uns.“