19.05.2019, 00:48
Er hatte nicht die Absicht, es ihr unnötig schwer zu machen. Es war ihr gutes Recht, ihre Erinnerungen für sich zu behalten – Liam fragte absichtlich nicht. Die Vergangenheit war etwas, was einen Menschen zwar formte, ihn aber nicht ausmachte. So geheimnisvoll Skadi auch war und so wenig sie auch über ihre Vergangenheit durchblicken ließ – es war nichts, worauf er Wert legte. Sie hätte ähnlich wie Yaris etliche Leben auf dem Gewissen haben können. Für Liam spielte es keine Rolle, denn ihm oblag es nicht, über ihre Handlungen zu urteilen. Genauso wenig, wie es anderen oblag, über seine Entscheidungen zu urteilen. Er musste nichts wissen, wenn sie nichts erzählen wollte. Was sie zeigte, erzählte ihm im Grunde genug: Dass sie sich nicht gerne daran erinnerte, obwohl es ein wichtiger Teil von ihr war. Die Geschichte, die sie verlangte, war eine willkommene Abwechslung. Warum er ausgerechnet diese Geschichte wählte, wusste er nicht. Vielleicht, weil sie die erste war, die ihm in den Sinn kam. Weil es die Geschichte war, an die er sich gerne erinnerte. Zumindest schien sie die Schatten auf ihren Zügen ein wenig vertreiben zu können. „Er kam von aus einer Welt fernab unserer Welten. So klein, dass es dort nur ihn gab. Und er war aufgebrochen auf der Suche nach einem Freund. Aber seine Reise ist eine lange Geschichte. Für viele Abende.“ Die Geschichte war wirklich lang. Aber mit der Zeit würde Skadi besser verstehen, wo er her kam, was ihn bewegte und was er bei seiner Reise gelernt hatte. Liam erwiderte den neugierigen Blick aus ihren Augen, doch er hatte nicht vor, ihr alles an diesem Abend zu erzählen. So, wie der Mann die Geschichte des Jungen jeden Tag ein bisschen mehr verstand, würde es auch der Nordskov gehen.
Eine Weile dachte sie schweigend über seine Worte nach, hob dann die Hand gen Blätterdach, um durch die gespreizten Finger die wenigen Sterne zu erhaschen, die durch die Dunkelheit schimmerten. Irgendwie erinnerte sie diese Geschichte ein wenig an Liam selbst, ganz gleich wie wenig sie eigentlich von ihm wusste. Doch es gab Parallelen, die in ihren Augen gut auf den Lockenkopf zutrafen. Das verträumte Lächeln auf ihren Zügen wurde breiter, als sie abermals ihren Blick auf seine Züge richtete. Sog tief die angenehme Abendluft in ihre Lungen. “Ich bin sehr gespannt darauf wie die Geschichte weitergeht… der Zeichner erinnert mich sogar ein wenig an dich.“ Augenblicklich malte ihr Bewusstsein ein Bild in ihren Kopf. Liam mit gesenkter Lockenpracht auf dem Deck, die Nase tief in sein Skizzenbuch versunken, während der Rest der Crew tüchtig um ihn herum wuselte. Skadi konnte sich vorstellen, wie der Liam in vielen Situationen seines Lebens missverstanden wurde. Wie er irgendwie stetig auf der Suche nach jemandem war, der seine Leidenschaft für die kleinen Dinge teilte. Aber letztlich traf das irgendwie auf jeden Menschen zu – ganz gleich wie grauenvoll er auch war. “Hat dir dein Vater als Kind viele Geschichten erzählt?“ Ihr war nicht bewusst wie persönlich diese Frage sein konnte. War mehr damit beschäftigt in Erfahrung zu bringen, woher der Lockenkopf all seine Fantasie und Inspiration nahm.
Er runzelte die Stirn. „Findest du?“ Er hatte die Sache so tatsächlich noch nie betrachtet. Als Kind vielleicht, aber das war viel zu lange her, als dass er sich noch daran erinnern könnte. Das Bild, welches Skadi im Kopf hatte, konnte Liam selbstverständlich nicht sehen – hätte er es getan, hätte er zugeben müssen, dass es mehr von der Realität hatte, als ihm lieb war. Wie auch immer es war, der Zeichner hatte in dieser Geschichte nur die Nebenrolle. Worum es eigentlich ging, würde sie merken, wenn er den nächsten Abschnitt erzählte. Und er ahnte, dass sie tiefgründig genug war, um zu verstehen. „Er oder meine Mutter. Aber es verging kaum ein Abend ohne.“, bestätigte er ihre Annahme und spähte für einen Augenblick wieder ins Feuer, welches allmählich an Kraft verlor, wenn sie nicht bald etwas nachlegen würden. Kurzerhand warf er den Zweig in die Glut, den er eben noch benutzt hatte, um seine gefräßige Riesenschlange in den Waldboden zu zeichnen. „Jedenfalls so lange, bis ich sie vorlesen sollte.“ Er hatte nichts zu verbergen und ging offen mit dem um, was ihn ausmachte. Vermutlich hätte er ihr jede Frage beantwortet ohne zu zögern.
Ihr gefiel die Vorstellung eines kleinen Liams, dessen funkelnde Augen gespannt aufblickten, während er den Erzählungen seiner Eltern lauschte und nur schwer ins Bett zu kriegen war. Durstig nach Abenteuern und Sagen. Gefesselt von den Figuren und Legenden. Ein amüsierter Ausdruck zierte schlagartig ihre Lippen, versiegte jedoch zu einem sanften Hauch, als sie an ihren eigenen Sohn dachte. Er wäre heute ungefähr in Scortias Alter – was wohl einer der Gründe war, wieso sie sich des kleinen Jungen ohne Umschweife angenommen hatte. “Was für Geschichten habt ihr denn gemeinsam gelesen?“ Kurz erhob sich Skadi von ihrem Platz, löste damit den Druck auf seinem Oberschenkel, um seinem Beispiel zu folgen und neues Feuerholz in die zischelnden Flammen zu geben. Erst als das erste Knacken ertönte und der letzte Ast in die helle Feuerflut getaucht war, setzte sie sich wieder neben ihn. Wartete jedoch, ob er ihre Nähe überhaupt wollte, bevor sie sich wieder ungefragt auf ihm breit machte, wie eine Katze.
„Unterschiedlich. Anfangs natürlich Kindergeschichten, dann über Sagen und Mythen hin zu Abenteuergesichten. Aber ich habe mich im Grunde mit allem zufriedengegeben.“ Er grinste kurz, als er daran zurückdachte, wie er die Bücher über Schmuck und Steine von seiner Mutter stibitzt hatte, um einfach etwas zum Lesen zu haben. Irgendwann hatte sich das dann gewandelt, als sein Vater und er in See gestochen waren und sie ihre eigenen Abenteuer erlebt hatten. Gerade für einen Jungen von acht Jahren war das Leben auf See so aufregend, dass man abends bloß noch in die Hängematte gefallen war. Und auf jeder Insel hatte es so vieles zu erkunden gegeben, dass Bücher zweitrangig geworden waren. Viel lieber hatte er dann angefangen, seine Erlebnisse aufzuschreiben, zu beschönigen und schließlich zu eigenen Geschichten zu verfeinern. Als Skadi aufstand, um das Feuer erneut zu füttern, folgte Liam ihr mit dem Blick, ehe er einladend den Arm zur Seite hob, um ihr abermals auf seinem Schoß Platz zu machen. Er genoss ihre Nähe und gerade jetzt zeigte sie ihm, dass der Zwischenfall um ihre Ocarina keine große Bedeutung hatte. Im Gegensatz zu andere Frauen hatte er bei Skadi nicht das Gefühl, dass unter der Oberfläche etwas kochte, was sie nicht zeigen wollte. „Und irgendwann bin ich dann vom Lesen weggekommen und habe selbst angefangen, zu schreiben.“, wiederholte er seine Gedanken laut, um sie daran teilhaben zu lassen. Er hatte kein Problem damit, keine Gegenfragen zu stellen. Skadi fühlte sich wohler so und dieser Umstand überwog seiner Neugier. Als sie den Kopf wieder auf seinen Schoß gelegt hatte, legte er den Arm wieder ab. Seine Hand ruhte dabei auf ihrer Schulter, über die er langsam mit dem Daumen strich. „Allerdings waren wir viel unterwegs. Da blieb kaum Zeit dazu.“
Ein Kind, das mit allem zu begeistern war. Skadi lächelte bei dem Bild, das sie just vor Augen hatte, während sie den Ast ins Feuer steckte und sich dann wieder unschlüssig neben ihn hockte. Die braunen Augenpaare aufmerksam musternd, die unter einem Grinsen zu ihr hinüber sahen, ehe sich der von Stoff umhüllte Arm einladend zur Seite hob. Es brauchte kaum zwei Herzschläge, bis sich der schmale Körper der Nordskov erneut neben ihm niederließ und ihren dunklen Schopf mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen auf seinen Schoß bettete. Ganz offensichtlich machte sie keinen Hehl daraus, dass ihr das kleine Plätzchen ganz gut gefielt. Ließ ihre Wange kurz auf seinem Oberschenkel liegen, um die Wärme zu genießen, die durch den Stoff seiner Hose zu ihr hinauf wanderte. Genoss die Berührung seiner Finger auf ihrer Schulter und sog den Duft tief ein, der ihr Gesicht umspielte. “Ich würde gern mal etwas davon lesen.“, murmelte sie leise und öffnete langsam die Augen. Blickte aus den Winkeln verstohlen zu Liam hinauf und lächelte. “Es klingt fast so, als wärt ihr auf den verrücktesten Inseln dieser Welt gewesen.“ Sie selbst hatte außer Trithên und einigen kleineren Inseln in unmittelbarer Nähe nichts gesehen. Selbst in der Zeit auf dem Marineschiff war sie nicht viel herum gekommen. “Es gibt so vieles, was ich noch nicht kenne oder nie gesehen habe. Manchmal komme ich mir vor wie ein erwachter Einsiedlerkrebs.“, gab sie unter einem halben Auflachen zu.
Es war offensichtlich, dass sie im Grunde nur auf diese Einladung gewartet hatte. Liam musste unweigerlich schmunzeln, als sie die Wange wieder auf seinen Oberschenkel bettete. Für ihn hatte das hier nichts mehr mit dem Vergnügen von vorhin zu tun. Ein Mensch war nicht dazu da, alleine durch die Gegend zu wandern und trotzdem waren so viele einsam. Einfach, weil es als gesellschaftliche Etikette galt, den Leuten körperlich fern zu bleiben, bis einen ein größerer Bund vereinte. Liam hielt davon nicht viel, wie unweigerlich zu erkennen war. Für ihn waren Berührungen nichts, was man sich von der Gesellschaft verbieten lassen konnte – man stillte lediglich einen Drang, den jeder verspürte, wenn er nur ehrlich zu sich selbst war. Und auch, wenn es einvernehmlich geschah, musste es nicht zwangsweise etwas mit Erotik zu tun haben. Es zeigte, dass man sich vertraute und man sich geborgen fühlte. In welchem Maße – das blieb jedem selbst überlassen. „Ich habe leider alles auf dem Fest verkauft.“, gestand er ihr und und überlegte kurz, ob nicht doch noch irgendwo etwas herumflog. Die Zeit auf der Sphinx hatte er hauptsächlich damit verbracht, Dinge fertigzustellen, die er noch mit sich herumgetragen hatte. „Aber wenn ich wieder etwas vorzuweisen habe, darfst du es gerne probelesen.“ Auf ihre Vermutung hin allerdings schnaubte Liam bloß belustigt und schüttelte den Kopf. Sein Finger fuhr noch immer in einer langsamen, automatischen Bewegung über ihre Haut. „Das liegt bestimmt daran, dass ich damals noch ein Kind war und aus jeder Mücke einen Drachen machen konnte.“
Oder aus einer einfachen Begegnung einen geheimnisvollen Austausch an Informationen. Skadis Vergleich war amüsant. Sie kam ihm fast vor wie ein kleines Mädchen aus dem Dorf, welches noch nie gesehen hatte, was vor diesen Mauern lag, dafür aber jeden noch so kleinen Winkel ihrer Heimat kannte. Liam hingegen war meist rastlos von A nach B gereist, ohne die wirklich interessanten Ecken erkunden zu können. „Wart’s mal ab. Dein neues Leben beginnt doch erst.“, erinnerte er sie mit einem zuversichtlichen Lächeln und zuckte daraufhin beiläufig mit der Schulter. „Vielleicht bist du bald schon all die Reisen und Abenteuer leid.“ Möglich war alles, wobei Liam bezweifelte, dass es einen Ort gab, an den Skadi wirklich wollte, um dem Reisen zu entkommen. Irgendetwas hielt sie von dem Gedanken ab, nach Hause zurückkehren zu wollen, obwohl sie ihm so verbunden war.
Blinzelnd wandte Skadi den dunklen Schopf herum. Ihr dämmerte, dass sie diese Information tief unterhalb der Stadt im Versteck der Kinder schon einmal gehört hatte. Doch mit all den neu gewonnenen Informationen, machte sie diese Aussagen irgendwie … traurig? Leicht verzogen sich die geschwungenen Brauen und hinterließen einen matten Schatten auf ihren Zügen. “Um Geld für das Schiff zu sammeln oder weil du sie wirklich verkaufen wolltest?“ Entweder hing er nicht sonderlich an seinen Geschichten, weil sie überzogene Darstellungen seiner tatsächlichen Erinnerungen waren, oder aber er hatte nicht mehr länger mit ihnen leben können. Skadi wusste nicht, was davon zutraf. Schnaubte dann jedoch halbwegs zufrieden gestellt, als er ihr eine erste Kostprobe seines neuen Werkes anbot, sobald es denn geschrieben worden war. “Ich bitte darum… vielleicht kannst du etwas über diesen.. Wendigo schreiben, von dem du neulich gesprochen hast.“ Und von dem sie immer noch nicht so recht wusste, was er damit meinte. Doch die Nordskov bezweifelte nicht, dass es auf die damalige Situation mehr als zutreffen gewesen war. “Das wäre doch sicherlich auch eine gute Geschichte für Trevor.“, fügte sie breit grinsend hinzu und lachte kurz auf. Streckte sich dann genüsslich in voller Länge, ohne sich von Liam zu rollen. Sie würde so lange auf ihm liegen bleiben, bis sie entschlossen zum Schiff zurück zu gehen, oder er sie mit einer Handbewegung verscheuchte. Doch selbst dazu dürfte er kaum mehr in der Lage sein. Wie von selbst umschlossen ihre Finger, die ziellos in der Luft schwebende Hand des Lockenkopfes, die noch eben auf ihrer Schulter ruhte. Umspielten die langen Linien auf seiner Handfläche, während sie unbeirrt fortfuhr. “Mh… vielleicht. Aber gerade gefällt es mir ganz gut unterwegs zu sein. Das ist eine ungewohnte aber interessante Art von Freiheit… Dorthin zu gehen, wo einen der Wind und die See… oder auch Shanaya hintragen.“ Ein Schmunzeln zierte ihre Lippen. “Vielleicht wird es mir auch viel zu gut gefallen. Wer weiß das schon.“