06.05.2019, 13:39
Ganz egal, wie oft man dieses Gefühl spürte – es war immer wieder neu, aufregend und trieb einem die Endorphine durchs Blut. Besonders, wenn man nicht damit gerechnet hatte und das hatte Liam bis vor wenige Sekunden tatsächlich nicht. Im Gegensatz zum letzten Mal, als er sie lediglich zum Tanz geladen hatte, zierte sie sich dieses Mal nicht, sondern gab sich bereitwillig seiner Berührung hin, als wäre es tatsächlich das, worauf sie die ganze Zeit abgezielt hatte. Als hätte sie sehen wollen, wie viel Zeit es bedurfte, ihn aus der Reserve zu locken. Und jetzt hatte sie ihn für einen Moment genau da, wo sie ihn haben wollte. Der Lockenkopf allerdings fühlte sich ganz und gar nicht unwohl bei diesem Gedanken. Sie hatte etwas magisches, etwas aufregendes und hätte er keine Lust gehabt, sich darauf einzulassen, wäre es ihm nicht schwer gefallen, ihrem Charme zu widerstehen. Aber was hielt ihn davon ab? Sie waren frei. Es gab niemanden, der ihnen irgendetwas verbot, außer ihnen selbst. Und ihr Ziel schien zumindest im Moment in der gleichen Richtung zu liegen. Außerdem wirkte Skadi gewiss nicht wie die Frau, die einem fortan am Rockzipfel hängen würde. Genau das also, worauf sich Liam gerne einließ, ohne nähere Verpflichtungen damit einzugehen. Ihre Augen funkelten verführerisch, als er sich von ihr löste und ihren Blick still erwiderte. Und schließlich wiederholte sie den Kuss, als würde sie sichergehen wollen, dass Liam ihre Einigkeit verstand. Das hier war keine Romanze, es war eine Herausforderung. Eine Einladung, wenn man so wollte, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Eine Einladung, die jetzt noch leicht und unbeschwert wirkte, aber Probleme mit sich bringen würde, sobald die Sphinx wieder in See gestochen war. Bis dahin allerdings musste man keinen Gedanken daran verschwenden.
Er wandte sich nur langsam von ihr ab und löste den Blick als letztes, ehe er sich den Kissen zuwandte und die Naht mit seinem Dolch durchtrennte. Schließlich achtete er nicht mehr genau darauf, welche Schmuckstücke er nun im Speziellen hineinfüllte. Alles würde sich irgendwie zu Geld machen lassen. Jetzt noch das Beste herauszupicken, wäre selbst ihm im Anbetracht ihrer Lage etwas zu mutig vorgekommen. Mittlerweile war ihm auch tatsächlich jegliches Zeitgefühl abhandengekommen. Nicht wegen der Dunkelheit, sondern viel eher wegen des kleinen, aber feinen ungeplanten Zwischenfalls. Er würde den Teufel tun und sich darüber beschweren.
„Wenn wir der Hauptstraße weiter in die Richtung folgen, in die wir ursprünglich gegangen sind, sollten wir bald zum Stadtrand kommen.“, überlegte er auf ihre Frage hin laut und rollte die dritte Kissenrolle zusammen. Als sie ihm seine Möglichkeiten aufzeigte, schmunzelte er, zuckte dann aber wieder lässig mit einer Schulter. „Es ist keine Entführung mehr, wenn das ‚Opfer‘ freiwillig mitkommt.“
Und davon war im Augenblick auszugehen. Er lächelte siegessicher, als er sich mit seinen gepackten Paketen zurück zur Leiter begab, wo Skadi bereits damit begonnen hatte, ihre Beute im provisorischen Rucksack zu verstauen. Er reichte ihr auch seine Rollen und begutachtete ihre Arbeit im Stillen, bis sie das umfunktionierte Kleid vor sich hielt, um ihren Plan zu verdeutlichen. Liam wog überlegend den Kopf und musste ihr Recht geben, aber zum Glück ging niemanden außer sie das Gewicht ihres ‚Kindes‘ etwas an. Trotzdem kam er nicht umhin, sehr belustigt zu glucksen. Liam trat hinter sie und half ihr, nachdem sie ihr Bustier wieder geschlossen hatte, den Rucksack glaubhaft um den Oberkörper zu binden.
„Fett ist immer gut. Jedenfalls in diesem Fall.“ Er zog noch einmal am Stoff, um zu prüfen, ob es so halten würde, wie sie hofften, ehe er einen Blick über ihre Schulter hinab zu ihrem Zuwachs warf und grinste. „Süßer Fratz. Der lässt sich auf der nächsten Insel bestimmt gut zu Gold machen.“ Kurzerhand entleerte er noch ein weiteres Kissen und steckte den Bezug so in die Öffnung des Goldkindes, dass man meinen könnte, man hätte ihm bloß ein leichtes Tuch vors Gesicht gelegt, um seinen Schlaf vor der Sonne zu schützen. So sollte ihnen zumindest auf den ersten Blick niemand auf die Schliche kommen.
„Gut. Der kleine William und du bleibt vorerst im Dunkeln. Ich seh‘ nach, ob die Luft rein ist. Ich schätze nämlich, dass du von Verfolgungsjagden für heute bereits genug hast. Sollte mir jemand an den Fersen hängen – Auf die Straße zurück, links und immer geradeaus. Wir treffen uns spätestens auf der Sphinx wieder.“
Er wies auf das kleine Knäul um ihren Oberkörper, dann auf sie und verschwand schließlich die Leiter hinauf, um mögliche Wachen bereits im Vorfeld abzuhängen und Skadi eine sichere Flucht mit ihrer Beute zu ermöglichen. Doch trotz aller Befürchtungen war die Gasse vor dem Tunnel leer. Liam warf einen kurzen Blick um die Ecke zurück die Gasse hinunter, die sie schließlich wieder auf eine der Hauptwege führen würde, doch auch dort schien alles seinen ganz gewohnten Gang zu gehen. Na, er war wirklich der letzte, der sich darüber beschweren wollte. Mit einem kurzen Pfiff – es hätte auch ein Vogel sein können, wäre er nicht zu scharf dafür gewesen – bedeutete er Skadi, dass die Luft rein war und wartete darauf, dass sie gemeinsam wieder in der Menschenmenge ungesehen untergehen konnten.