06.05.2019, 12:28
Mit der freien Hand ergriff er Enriques, die sich an seinem linken Unterarm festgeklammert hatte. Seine Stimme war leise und weich, als er nun sprach:
"Bitte, fang nicht schon wieder damit an. Verschließ dich nicht schon wieder vor mir. Das Leben hat dir offensichtlich bedeutend mehr Bürden aufgehalst als mir und ich sehe es nicht als Schwäche an, wenn dir nach so langer Zeit, in der du - wie du selbst sagtest - mit niemandem darüber reden konntest, die Gefühle durchgehen. Ich bin dein Bruder und ich weiß, wie stark du eigentlich bist."
"Wenn du es erst einmal geschafft hast, wenn du mit mir dein Leid geteilt und dadurch halbiert hast, wird es dir bedeutend besser gehen, davon bin ich überzeugt. Das Leben hat dich gebeutelt und dadurch geschwächt, was du nun krampfhaft mit starkem Verhalten zu überspielen versuchst. Nimm meine Hilfe, die Stärke, dich ich dir geben kann und auch gerne geben möchte, an. Eröffne mir dein Leid, öffne dich für mich, dann kann ich dir auch etwas von meiner Stärke abgeben. Wie soll ich dir helfen, wenn du dich vor mir verschließt?"
Er verstummte und erwartete Enriques Reaktion.
Cornelis hätte gerne noch etwas gesagt oder getan, um zu unterstreichen, wie ernst ihm diese Angelegenheit war. Und plötzlich hatte er tatsächlich eine Idee. Unvermittelt ließ er Enriques Hand los, stand auf und watete kurz zurück zum Ufer. Gleich darauf kehrte er mit seinem Messer zurück und setzte sich erneut neben seinen Freund. Er schnitt sich mit der Klinge in den unteren Teil des Ballens seiner rechten Hand, so daß das Blut in die Handfläche lief. Dann drehte er das Messer in seiner linken und hielt es Enrique mit dem Griff voraus entgegen. Dann sah er ihn mit ernstem Blick an.
"Wenn du möchtest, können wir ab sofort auch Brüder des Blutes sein."
"DU HAST DOCH KEINE AHNUNG!", schrie er ihn an und riss sich los, kam aber nicht weit, sondern sackte nur wenige Zentimeter weiter, wieder unter Schmerzen zusammen, so dass Cornelis sowohl Zeit als auch Gelegenheit zur Verfügung hatte, um die Klinge zu holen.
Der Blick, der ihn dann traf, war kalt und dunkel.
"Wenn du es wirklich wissen willst, dann BITTE!"
Mühsam stemmte er sich hoch und es blieb nur noch die steinerne Maske und der gleichgültige Offizier in seiner reinsten Form zurück, das Extrem, dass hier auf der Sphinx nur Skadi kannte.
"Dann aber zu meinen Bedingungen:
"Du wirst mich nicht unterbrechen, nicht ansprechen, anfassen oder ähnliches.
"Wenn ich dir sage: Geh! dann WIRST du gehen, oder tun, was auch immer ich sage.
"Und wenn ich aufhöre, oder ein Thema fallen lasse, dann ist es tabu, bis ich es von mir aus anspreche.
"Falls du das da", er deutet auf das Messer, "dann immer noch willst, können wir darüber reden, aber finde dich besser jetzt schon damit ab, dass dir das, was du sehen und hören wirst, nicht gefallen wird.
"Falls du doch lieber verzichten willst, dann ist jetzt deine letzte Gelegenheit. Wenn ich erst angefangen habe, dann gibt es kein Zurück mehr.
"Haben wir uns verstanden?!"
Enriques Ausbruch ließ in ihm das Blut und den Zorn hochkochen, doch er schloß die Augen und dachte an das Versprechen, das er seinem kleinen Bruder gegeben hatte, daß er viel Zeit und Mühe in ihn stecken wollte. Dennoch konnte er das nicht so stehen lassen.
Also erhob er sich ebenfalls und ließ das Messer fallen, so daß die Klinge im weichen Sand stecken blieb und ein Stück des Griffes noch aus dem flachen Wasser herausragte.
Mit ruhiger fester Stimme, mit keinem Funken Furcht oder Beugung darin, sagte er:
"Steck dir deinen Marineoffizier sonst wohin. Ich bin Pirat, Piratenkapitän, um genau zu sein. Vielleicht abgesetzt gerade, aber dennoch nichts anderes! Ich werde nicht vor dir kuschen wie einer deiner Soldaten."
"Wenn der Enrique, der mein Bruder ist, bereit ist, das anzunehmen...", er hob einmal kurz die blutüberströmte Rechte, "... dann sag mir Bescheid."
Und dann ließ er Enrique einfach stehen und watete weiter ins Wasser hinein.