04.05.2019, 17:33
Die erste, die nach dem Schuss etwas hervorbrachte, war Talin. Ihre Worte lenkten Luciens Aufmerksamkeit zurück zu ihr und der Ausdruck in den tiefgrünen Augen hellte sich für einen Moment auf, als er ihrem genervten Blick begegnete. Trocken-amüsierter Spott lag auf seinen Zügen, der verriet, wie ernst er ihren gezischten Tadel tatsächlich nahm. Wahrscheinlich genau so ernst, wie sie ihn meinte.
Dann jedoch verlangte der Fremde seine Aufmerksamkeit, der seine Fassung offensichtlich wiedergefunden hatte. Und seinen Hang zum Schwafeln gleich mit. Der 21-Jährige musste schwer an sich halten, nicht die Augen zu verdrehen. Offensichtlich hatte er es mit jemandem zu tun, der Gefahr lieber mied, statt ihr zu begegnen. Eine Eigenschaft, die Lucien völlig abhanden gekommen war. Es gab weit schlimmere Dinge, als den Tod. Ihn fürchtete er nicht und demzufolge auch nichts, was ihn möglicherweise nach sich zog. Nicht mehr.
Demzufolge ließen ihn auch die Worte des Älteren völlig kalt. Er war niemandes Freund – wobei er sich ziemlich sicher war, dass Shanaya ihm zustimmen würde – Talin war nach wie vor nicht in Gefahr, solange sie beide am Leben und bei Kräften waren und Lucien hatte mit Predigern ungefähr so viel Geduld wie mit Gauklern und Wahrsagern. Im Endeffekt konnte er also zumindest das genervte Seufzen nicht unterdrücken.
„Ich hätte ihn doch lieber erschießen sollen.“
Als Shanaya ihm in diesem Augenblick mit vollendeter Gelassenheit das Schulterblatt tätschelte und ihn an ihre amüsante Faszination für seine linke Hand erinnerte, verlockte ihn das fast zu einem kleinen Schmunzeln. Doch die Bewegung vor ihm riss all seine Aufmerksamkeit wieder zurück auf den Fremden. Seine Finger schlossen sich unwillkürlich fester um den Griff seines Dolches, doch noch ließ er ihn stecken, bis der Ältere inne hielt und sich an Talin wandte. In diesem Augenblick wurde das Bedürfnis, die Klinge zu ziehen, geradezu übermenschlich. Bei allen Welten, dieser Kerl ahnte gar nicht, wie sehr er ihm gerade auf den Zünder ging.
Doch die organisierenden Rufe auf dem Platz hinter ihnen verhinderten, dass er die Waffe doch noch zog. Seine Hand blieb, wo sie war, doch er versteifte sich lediglich, als der Fremde auf einer Höhe mit ihm war und ihn anzurempeln wie bei einem verdammten Hahnenkampf – was für eine traumhafte Gelegenheit, um ihn einfach abzustechen – und entspannte sich, kaum war er an ihm vorbei.
Dann endlich warf er einen Blick über die Schulter zu seiner schwarzhaarigen Begleiterin. Auf seinen Lippen schon fast wieder ein amüsiertes Schmunzeln.
„Nach dir, Shanaya.“ Sie würden wieder kommen. Denn jetzt war ihm genauso danach, seinen Blutdurst zu stillen.
„Und du sei nicht so vorlaut.“, wandte er sich mit sanftem Spott an seine Schwester, schob die ungeladene Pistole in seinen Gürtel und ging zu ihr hinüber. „Alles in Ordnung?“ So viel Zeit muss sein und immerhin war das eh die Richtung, in die sie gleich flüchten mussten.