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Kapitel 5 - Melodie des Frühlings
Crewmitglied der Sphinx
für 0 Gold gesucht
dabei seit Feb 2016
Je unauffälliger sie aus der Stadt kamen, desto besser für sie, keine Frage. Wenn sie Glück hatten, waren die Wachen noch immer zu sehr mit dem Aufruhr auf den Plätzen beschäftigt, sodass sie freie Bahn hatten. Blieb zu hoffen, dass die Kinder in ihrer Furcht tatsächlich davon gelaufen waren, um so viel Distanz wie möglich zwischen sie zu bringen. Hier drin hatten sie kaum eine Möglichkeit, zu entkommen, wenn man sie erst einmal festgesetzt hatte. Und Liam hatte wirklich keine große Lust, abermals in einen Kampf zu geraten, den sie vermutlich nur gewinnen konnten, wenn sie über Leichen gingen. Skadis Vorschlag, alles, was klimperte und klirrte noch einmal in eines der Kissen zu packen, war keine schlechte Idee. Im Augenblick wusste er auch nicht genau, wie weit sie vom Stadtrand entfernt waren. Hätten sie erst einmal die Wildnis der Insel erreicht, würde wohl kein Hahn mehr nach ihnen krähen. Aber bis dahin mussten sie auf Glück hoffen. Aber das Glück war Liam ja normalerweise eher milde gestimmt. Wenn sie schon nicht mehr fanden außer Gold und Schmuck, dann sollte ihnen wenigstens die unerkannte Flucht gelingen.

Den Plan, sich zu beeilen und schnellstmöglich das Weite zu suchen, durchkreuzte er allerdings selbst. Eigentlich war das hier keine Situation, die dazu einlud, sich alle Zeit der Welt zu lassen. Ein düsterer Tunnel, dessen Geheimnis einem ohnehin schon ein flaues, wenn auch aufgeregtes Gefühl in die Magengegend trieb. Das Wissen, dass jeden Augenblick die Wachen Spalier stehen konnten, um sich ihrer anzunehmen. Jegliche Vernunft rief dazu auf, sich nicht länger als nötig mit der Suche nach besonderen Dingen aufzuhalten. Doch dann war da auch noch die Neugier, die Abenteuerlust und der Reiz, den das Ganze in ihm auslöste. Als gäbe es noch mehr Geheimnisse, die sich zwischen den staubigen Ziegeln der Mauer versteckten. Geheimnisse, von denen der kleine Reichtum hier drin ablenken sollte. Entgegen seiner Hoffnung allerdings fand er dieses Geheimnis nicht im Form eines weiteren Ganges, der weiter in die Tiefe führte. Genaugenommen hatte es nicht einmal etwas mit diesem Ort hier zu tun, was seiner Faszination aber keinen Abbruch tat, sie viel mehr nur noch etwas weiter schürte für die Frau, die grinsend vor ihm stand und zu ihm hinuntersah, ohne dass Liam ihr Lächeln wirklich zu deuten wusste. Er erwiderte ihren Blick und glaubte, ebenfalls einen Hauch Faszination darin zu erkennen, bis sie schließlich antwortete. Noch bevor der Ältere sich wirklich Gedanken darum gemacht hatte, ob er diese Abmachung überhaupt einhalten konnte, nickte er bereitwillig und nahm sich dem Anblick an, den sie ihm kurz darauf gewährte. Physisch wie psychisch.

Seine Augen wanderten nur kurz über die freigelegten Rundungen der Jägerin zurück zu der Malerei, die unter ihren Brüsten die Aufmerksamkeit auf sich zog. Er war kein Archäologe, der sich mit Völkern und Symbolen auskannte, doch er erkannte zumindest – oder glaubte zu erkennen – die Ewigkeit, die Skadi ansprach. Die Linien, die ohne Ende und ohne Anfang ineinander übergingen und fest verankert zusammenhielten, als könne sie nichts auf dieser Welt je trennen. Und je länger er sich das Symbol besah, desto deutlicher wurden auch die beiden ineinander verketteten Herzen. Ihre Stimme wurde leiser, schwerer und Liam fühlte ihre Stimmung für diesen flüchtigen Augenblick fast greifbar über ihnen hängen. Nicht, weil er mit der Nordskov fühlte, sondern weil er selbst unweigerlich daran erinnert wurde, was er verloren hatte und was ihn früher oder später erwarten würde. Unsterblichkeit. Etwas, von dem er wohl am aller weitesten entfernt war. Sein Blick hatte sich für wenige Herzschläge auf ihrer Haut verloren. Er blinzelte, als es ihm auffiel und hob den Blick wieder hinauf zu ihrem Gesicht. Ein leises Lächeln ruhte auf seinen Lippen, aber keines, welches mit der ausgelassenen Stimmung von eben zu vergleichen war.

„Es ist ein gutes Gefühl, sie ständig bei sich tragen zu können.“

Auch dieses Mal sprach er mehr oder minder aus Erfahrung. Auch, wenn er kein Mal trug, welches ihn an seine Familie erinnerte, so trug er doch zumindest noch immer das Armband mit sich herum, welches er unter Anleitung damals für seine Mutter gebastelt hatte. Er hätte es sich vermutlich wirklich nicht verziehen, hätte er es im Dschungel verloren. Im Stillen gebührte abermals Shanaya ein Dankeswort, die das Lederband mit den drei kleinen, purpurnen Steinen wiederentdeckt hatte. Er wusste, dass nun er an der Reihe war, ihre Abmachung einzuhalten. Liam überlegte, aber wirklich vieles, was er als ‚Geheimnis‘ betrachtet hätte, gab es in seinem Leben nicht. Vor allem nichts, was sie groß interessieren würde. Eine kurze Ewigkeit erwiderte er den Blick Skadis noch, ehe er die Augen zu Boden senkte und sich wieder aus seiner Hocke erhob, um sich kurzerhand abermals dem rostigen Brieföffner zuzuwenden, den er vorhin entdeckt hatte. Nicht, dass er plötzlich einen ungeahnten Wert darin erkannt hatte, aber er bewahrte ihn davor, Skadis Reaktion zu sehen. Dass er kein guter Pirat war, wusste er. Aber er rechnete nicht damit, dass sie ähnlich reagieren würde wie Talin. Besonders nicht mit ihrer Anerkennung dafür, dass er Prinzipien hatte, die er ungern über Board warf, die aber manchmal einfach umschifft werden mussten.

„Ich weiß nicht, ob das die Art von Geheimnis ist, die du dir vorstellst.“, begann er und drehte den Brieföffner zwischen den Fingern, ohne ihn wirklich anzusehen. „… Aber der Anblick der Morgenwind, die in ihre Einzelteile zerspringt, lässt mich immer noch nicht los. Ich habe kein Problem damit, mein Leben zu verteidigen, besonders nicht bei Menschen, deren Tod auch für die Allgemeinheit besser ist. Auf der Morgenwind waren aber nicht nur Verbrecher.“

Und mit ‚Verbrecher‘ meinte er gewiss nicht die gesellschaftliche Bedeutung, sondern die Menschliche. Er meinte Menschen, die andere instrumentalisieren und für ihre dunklen Machenschaften missbrauchten. Er meinte den Abschaum, der im Hintergrund agierte, weil er zu feige war, sich offen preiszugeben. Liam wusste nicht einzuschätzen, ob es schlau war, Skadi davon zu erzählen, aber um darüber nachzudenken, war es jetzt ohnehin zu spät. Sie musste nicht verstehen und wenn sie nun lachen und mit ihrem Anteil des Schatzes verschwinden würde, würde Liam auch gut damit leben können. Er trauerte nicht um das, was noch kommen konnte. Er wusste das, was war, zu schätzen und so erging es ihm auch mit den letzten beiden Tagen, in denen sie sich ein wenig besser kennengelernt hatten.

„Heute Morgen habe ich ein kleines Mädchen gesehen. Es hat bitterlich um ihren Vater geweint. Ihr Vater war wohl ein Teil der Besatzung der Morgenwind. Irgendein kleiner Fisch, der bloß versucht hat, genug Geld zu verdienen, damit sie nicht jämmerlich verhungern muss. Und nur wegen mir wird sie sich nicht einmal von ihm verabschieden können.“

Vielleicht hätte es wirklich eine andere Möglichkeit gegeben. Aber ihnen hatte die Zeit gefehlt. Und es hatte auch nicht mehr viel gefehlt und Liam wäre mit ihnen in die Luft gegangen. Mit einer langsamen Bewegung legte er den Brieföffner zurück ins Regal. Er brauchte einen Augenblick, um durchzuatmen und sich wieder um das Lächeln zu bemühen, dass seinen Ausbruch ein wenig herunterspielte. Jetzt waren sie zumindest quitt und Skadi konnte selbst entscheiden, was sie mit dieser Information anfangen wollte. Er hatte nichts zu verbergen und nichts zu verlieren.

„Ich fürchte, ich muss mir ein paar Dinge einfallen lassen, wenn du sie jedes Mal gegen eines deiner Geheimnisse tauscht.“, fiel ihm schließlich auf, als Skadis Blick wieder auffing und sein Lächeln wurde wieder ehrlicher, wahrer.


{ Skadi | Tunnel unter der Erde }
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