03.05.2019, 21:03
Was Menschen in ihren Taschen bei sich trugen war eine reine Ermessenssache. Je nach Vorstellungskraft und persönlicher Erfahrung konnten das allerlei Dinge sein. Abhängig vom Volumen sogar sperrige Gegenstände wie Bücher, Dolche oder ein ausfahrbares Fernglas. Doch da sie sich hier nur für all das gütlich taten, was der Sphinx und der Crew nützte, blieben es wohl hauptsächlich Gold und Edelsteine. Den Schmuck allerdings sollten sie fernab dieser Insel an den Mann bringen. Die Nordskov hatte bereits einmal erlebt, wie gesuchtes Diebesgut beim Verkauft erkannt und der Verkäufer schmerzhaft abgeführt wurde. Sie würde sich für solchen Plunder also ungern in eine Zelle sperren lassen.
“Am besten versuchen wir alles, was klimpert in die Kissenhüllen einzuwickeln. Dann bekommen wir das Zeug ohne Aufsehen zu erregen aus der Stadt raus.“
Es schien als habe sie just Liams Gedanken gelesen, während sie akribisch nach ihrem „Goldschatz“ suchte. Zumindest würde es sich als nützlich erweisen, sofern sie Krüge und weitere Münzen in das umfunktionierte Kleid stopften. Die Stadtwache würde mehr als misstrauisch werden, wenn sie vollbepackt über die Straße liefen. Obendrein noch mit einem provisorischen Sack, der voller Gold und Schätze bei jedem Schritt klimperte.
Auf seine Frage hin, schüttelte sie nur ihren Kopf. Bemerkte erst, als sie bereits ihr Gewicht auf ihn verlagerte, dass er ihre Reaktion wohl kaum hatte sehen können, wo sich seine hübsche Vorderseite doch den Schubladen zuwandte. Doch ihre Aufmerksamkeit fixierte sich ohnehin alsbald auf das kleine Kästchen in ihrer Hand, das sich recht schwer zwischen den langen Fingern wog. Mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte sie die dunkle Maserung des Holzes und erkannte erst nach mehrmaligem Drehen und Wenden, dass die Schatulle keinerlei Öffnung besaß. Kein Wunder, dass sie bereits im Regal verstaubte – die Kinder hatten mit dem nutzlosen Teil kaum etwas anfangen können. Wenn sie die kleinen Kratzer und abgeriebenen Kanten richtig deutete, waren die kleinen Diebe sogar bereits dazu übergegangen, das Ding mit Gewalt zu öffnen. Scheinbar erfolglos. Ob sie selbst das Geheimnis des Kästchens lüftete, war fraglich. Skadi würde einige Tage brauchen, vielleicht sogar Shanaya um Hilfe bitten, die sie für schlau und belesen genug hielt, um sich mit solchen Rätseln auszukennen. Oder vielleicht Liam, dem sie sich in Zeitlupe zuwandte und erst aufblickte, als dieser eine seltsame Frage in den Raum warf.
Kurz blinzelten die braunen Augenpaare. Folgten dann erst dem Blick des Lockenkopfes und endete an dem tiefen Ausschnitt des ledernen Bustiers. Erst im zweiten Moment ahnte sie worauf er anspielte.
Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. Wurde stetig breiter, je länger sie wieder auf das 3-Tage-Bart Gesicht vor sich starrte. Er wusste allmählich so viel über sie, dass sie sich fragte, ob er nicht irgendwelche Zauber benutzte, um sie derart redselig zu machen. Eigentlich war es nicht ihre Art viel von sich Preis zu geben. Geschweige denn über sich oder ihre Gedanken zu erzählen.
“Mh…ich verrate dir dieses Geheimnis, wenn du mir im Gegenzug eines von dir erzählst.“
Abwartend hingen die schimmernden Bernsteine auf dem Antlitz Liams. Sogen jede seiner Regungen in sich auf, während die langen Finger die Schatulle in ihren Hosenbund klemmten. Sie brauchte frei bewegliche Finger für das, was sie gleich tun würde. Erst als er seine Zustimmung gab, löste sie langsam die verschlossene Lasche ihres Oberteils und gewährte dem Musiker einen ungehinderten Blick auf die feinen Linien ihrer Körperbemalung.
“Es steht für die unsterbliche Seele.“ Und dieser Begriff – so wenig er auch augenscheinlich zu der Nordskov zu passen schien – bedeutete weitaus mehr, als man glaubte.
“Und für die ewig währende Liebe für unsere Familien und unsere Heimat.“
Für einen kurzen Moment sanken die noch erhobenen Mundwinkel hinab, während sie sprach. Verwandelten das freudige Grinsen in Wehmut. Zwar würde sie es nie laut aussprechen, doch sie vermisste ihre Brüder und Schwestern. Ihre Eltern. Ihre eigenen zwei Kinder. Doch genauso, wie sie um ihren Tod wusste, ganz gleich ob die verkohlten Überreste zu ihnen gehört hatten oder nicht, wusste die Nordskov instinktiv, dass sie ihre Liebsten in Valhalla wiedersehen würde. Bis dahin musste sie ihre Zeit in dieser Welt so sinnvoll wie nur irgend möglich verbringen.
[In einem Tunnel unter der Erde | direkt bei Liam]