02.05.2019, 19:55
Meerjungfrauen, Gnome, Elfen, Kobolde. Liam hatte zweifellos eine Faszination für allerlei Sagengestalten und saugte sämtliche Geschichten, die er darüber hörte, förmlich auf wie ein Schwamm. Besonders die Berichte über Sichtungen interessierten ihn hierbei: also die Art von Märchen, die sich Seemänner abends betrunken in den Tavernen erzählten, um sich gegenseitig zu übertrumphen. Doch dabei war er kein naiver kleiner Junge mehr, der mit einem Funkeln in den Augen allerlei Märchen glaubte, die man ihm erzählte. So lange, wie er die Gestalten nicht selbst zu Gesicht bekommen hatte, blieben die Legenden das, was sie nun eben einmal waren: faszinierende Märchengeschichten, die vermutlich zu Achzig Prozent aus Fantasie bestanden. Doch die Show, die Skadi gerade vollführte, brachte ihn wahrlich dazu, darüber nachzudenken, seine Ansichten zu Wendigowak in Zukunft ein bisschen anders zu behandeln. Es war ungemein amüsant, wie viele Gemeinsamkeiten man fand, wenn man nur gezielt danach suchte. Andererseits überraschte es auch nicht sonderlich, wenn man bedachte, wie unterschiedlich die Beschreibungen dieser Kreaturen im Allgemeinen waren. Vom leblosen, verwesten Körper bis hin zu einer gewaltigen Art Werwolf gab es alles, was man damit in Verbindung brachte – wobei Liam die Idee des felligen Werwolfs mit majestätischem Geweih dabei am besten gefiel. Ein magisches und gleichsam tödliches Geschöpf, dem man besser nicht begegnen wollte; allein schon wegen dem, wofür es stand.
Als sie die kleine Kinderscharr im unteren Raum zusammengetrieben hatten und der Lockenkopf eigentlich vorgehabt hatte, sich noch ein bisschen die Taschen voll zu machen und sie mit ihrem Schreck allein zurückzulassen, schien Skadi noch lange nicht genug zu haben. Wie eine Bestie im Käfig lief sie auf und ab und wirkte fast, als hätte sie ihre Gier noch lange nicht gestillt. Das hier war kein Schauspiel mehr. Es war ein Teil von ihr, den sie nicht spielen musste. Sie lebte ihn. Liam hätte es keinen Augenblick gewundert, wenn sie in ihrer Rage herumgefahren und sich statt der Kinder plötzlich ihn als Ziel ausgesucht hätte. Doch irgendetwas sagte ihm, dass nichts passieren würde. Irgendetwas, bei dem er sich noch nicht sicher war, ob es wirklich schlau war, darauf zu vertrauen. Statt aber die gebotene Ablenkung zu nutzen, stand er da, verschränkte die Arme und beobachte die wilde Bestie, in die sich Skadi verwandelt hatte und den Kindern die Bedeutung von Angst anschaulich näher brachte. Sie übertrieben. Das war Liam inzwischen mehr als bewusst. Doch die Faszination überwog, verwurzelte ihn an Ort und Stelle und ließ ihn unwillkürlich erschaudern ließ, als sich Skadi zu ihm umwandte. Da aber war sie wieder – die Skadi, die er kennengelernt hatte, breit grinsend und voller Euphorie. Einen Herzschlag später aber schon war der bekannte Zug bereits wieder in der Wildnis verschwunden, die von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte. Sie trat an ihm vorbei und erklomm die Leiter. Liam erstarrte, als sie auf seiner Höhe war, folgte ihr dann aber mit einem letzten, fast schon entschuldigendem Blick gen Kinder und verschwand die Leiter hinauf. Es war keine Angst, die er empfand, aber Vorsicht. Vorsicht wie bei einem wilden Tier. Als sie ihren Plan mit ihm teilte, war der zischelnde Unterton aus ihrer Stimme verschwunden. Trotzdem wäre ihm niemals eingefallen, ihr zu widersprechen. Nicht nach dieser beeindruckenden Vorführung. Bereitwillig als duckte er sich neben ihr in die Dunkelheit hinein und schwieg, bis ein Wimmern von den Tunnelgängen hallte und die Kinder weinend nach draußen verschwanden. Inzwischen hatte sich auch sein Herzschlag ein wenig beruhig und ließ ihn im Stillen über das nachdenken, was gerade geschehen war. Das schlechte Gewissen hinterließ ein hohles Gefühl in seiner Magengegend, doch er ignorierte es geflissentlich. Wären sie den Stadtwachen in die Arme gelaufen, wären sie nicht nur mit dem Schrecken davon gekommen, sondern vermutlich auch mit jeweils einer Hand weniger.
Als Skadi sich erhob, blickte er auf. Im Licht der Fackeln konnte er erkennen, dass sie ihre Malerei bereits wieder weitestgehend abgewischt hatte und kaum mehr etwas daran erinnerte, was dort unten geschehen war. Liam hob den eigenen Ärmel zum Gesicht, um den Staub zu entfernen, den die junge Frau dort hinterlassen hatte. Skadis jetziger Anblick überraschte und beruhigte ihn zugleich. Das Tier war verschwunden, als wäre es nie da gewesen. Geräuschvoll stieß er die Luft aus, ehe er sich von der Wand abstieß und ebenfalls erhob.
„Tze. Ich war beeindruckend.“, wiederholte er, als wäre es völlig bedeutungslos. Er wusste, dass er gleich Gefahr lief, wie Trevor zu klingen. „Du warst… der Wahnsinn. Hätte ich’s nicht besser gewusst, hätte ich dich für einen waschechten Wendigo gehalten.“
Er stellte sich nicht die Frage, ob sein Gegenüber mit dem Begriff ‚Wendigo‘ etwas anzufangen wusste. Stattdessen folgte er der Bewegung ihrer Hand, mit der sie ihm Bestandteile des unterirdischen Tunnels aus den Haaren angelte, ehe sein Blick wieder auf ihrer Gesichtspartie lag. Sie wirkte fast so ausgelassen wie an jenem Abend vor zwei Tagen. Und Liam gefiel es, nach und nach mehr ihrer Facetten kennenzulernen, selbst wenn es fragwürdige Situationen erforderte. Er lachte auf, als sie eine Wiederholung in Erwägung zog, klang aber definitiv nicht abgeneigt.
„Damit schlägst du vermutlich auch den grimmigsten Seemann in die Flucht.“, hielt er recht überzeugt für möglich. In seinen Mundwinkeln hing noch immer die Faszination, während er ihren Blick erwiderte. Und dann stieg ihm wieder ein Geruch ins Gesicht, der ihm eben in der Nische bereits flüchtig aufgefallen war. Liam rümpfte die Nase, ehe er Skadi einmal kurz von oben bis unten musterte. „Ich schätze, einer der Jungen hat dir deutliche Anerkennung hinterlassen, hm? Wir sollten uns ohnehin beeilen. Nur für den Fall, dass sie doch mit Verstärkung zurückkommen. Und dann beschaffen wir dir was Frisches zum Anziehen.“
Seine Hand ruhte kurz auf ihrer Schulter, als wolle er sagen, dass es halb so wild war und man das Ganze auch als positive Rückmeldung ob ihrer Fähigkeiten sehen konnte. Liam wandte sich an Skadi vorbei zurück in den kleinen Raum und schließlich die Luke wieder hinab. Die Wahrscheinlichkeit, irgendetwas seiner Sachen wiederzufinden, sah er kaum. Neben ein paar losen Zeichnungen war es nur noch sein Skizzenbuch gewesen. Aber vermutlich hatten sie sich all dieser Dinge entledigt, als sie um ihre vermeintliche Wertlosigkeit für sie erfahren hatten. Stattdessen wanderte sein Blick nun über die verschiedensten Geldbörsen und Schmuck. Sie hatten bei weitem nicht genug Taschen, all das einfach einzustecken. Liam füllte ein paar der Lederbörsen in seinen eigenen Beutel um und blieb schließlich an einer kleinen hölzernen Taschenuhr hängen, die er in den Fingern drehte.