01.05.2019, 22:34
Wild rauschte das Blut durch ihre Ohren, benebelte fast ihren Verstand, während sich die vollen Lippen immer wieder gegen den Hals des Kindes pressten, aus dessen Hilfeschreien ein bitterliches Schluchzen geworden war. Skadi spürte wie ihr Körper vor Euphorie zu kribbeln begann und ließ erst los, als sie etwas Nasses auf ihrer Haut spürte. Etwas, das binnen weniger Sekunden stark nach Urin roch. Hatte sie es etwas übertrieben und sollte lieber einen Gang zurück schalten? Das hier war als reine Lektion geplant, nicht als Versuch ein bleibendes Trauma zu hinterlassen oder das medizinische Wunder eines Herzinfarktes zu vollbringen. Wie ein Mehlsack sank der zitternde Körper des jungen vor ihr auf die Kissen, krabbelte wimmernd und panisch vor ihr davon. Eine Weile musterte sie das Kind, dessen Alter sie auf 8 oder 10 schätzte. Bemerkte erst im letzten Augenblick eine Regung in ihrem Augenwinkel und schnellte mit funkelndem Blick herum. Der Zweite, der mit ihr hier unten gefangen war, versuchte über die Leiter abzuhauen.
“Du willst doch nicht etwa schon gehen, oder?!“, kam es ungewohnt tief und zischelnd aus ihrer Kehle. Mit nur einem Satz hechtete sie über die Berge zerstreuter Krüge, Geldbörsen und Bücher, packte das vor Panik schreiende Kind an der Hüfte und zog es kraftvoll zum Boden zurück. Drückte erst seinen Brustkorb auf das kalte Gestein, ehe sie in einem raschen Moment seine Hände hinter dem Rücken fesselte. Die um Gnade flehenden Rufe ignorierte sie. Hörte die Schreie von oberhalb und musste sich ein breites Grinsen angesichts der Laute, die Liam ausstieß, verkneifen. Zu gern hätte sie ihn bei seinem Spiel beobachtet. Wäre sicherlich stolz über die Kriegsbemalung gewesen, die sie ihm verpasst hatte. Stünde ihm seine sanfte Art nicht so gut zu Gesicht, hätte sie ihn fast für Ihresgleichen halten können. Ihr Vater wäre zumindest ein wenig stolz auf sie – auch wenn er all dem hier eine Amputation der Hände vorgezogen hätte. Doch sie war nun einmal nicht wie ihr Vater. Sie wägte die Möglichkeiten dieser Welt ab und zog auch Alternativen in Erwägung, die nicht 100% mit ihrem Glauben konform gingen. Und letzten Endes gab es niemanden, der sie dafür bestrafen konnte. Im selben Atemzug wie Liam den Jungen am Gürtel zurück zog, hievte Skadi das Balg auf die Füße und drängte es zurück zu dem anderen, das sich mit weit aufgerissenen Augen gegen die Wand presste. Nur leise vernahm sie Liams Ruf, kaum dass sie sich einige Schritt weit von den Kindern entfernt hatte und schwer zu atmen begann. Die Hände leicht erhoben und zu einer klauenartigen Silhouette verkrümmt. Der Spaß schien also vorbei. Nun gut. Ganz offensichtlich hatte der Musiker seine Rolle perfekt gespielt. Zitternd kletterten die anderen Kinder die Leiter hinab, sahen verängstigt zu Skadi hinüber, die ihnen lauernd Platz machte und darauf wartete, dass der Lockenkopf hinab stieg. Schenkte den Bälgern ein wütendes Schnauben, damit sie ihre Schritte beschleunigten und neben ihren Kumpanen an der Wand Platz nahmen.
Und erst als der Lockenkopf neben ihr zum Stehen kam, richtete sie sich wieder zur vollen Größe auf und sah mehr als zufrieden auf die kleinen Häufchen hinab.
“Ich habe gehört ihr Mistkröten wart ganz schön unartig und habt Leute bestohlen.“ Wieder kehrte dieser zischelnde Laut in ihre Stimme. Sie konnte es nicht einmal recht kontrollieren. Doch letztlich käme es ihnen zu Gute. Niemand würde den Jungen glauben, wenn sie von einem wilden Wesen berichteten, dass sie in einem Tunnel unter der Stadt überfallen hatte.
“Macht man das etwa als gut erzogenes Kind?“
Langsam beugte sie sich voraus, ging für einige Zentimeter in die Hocke und riss die Augen auf. Sah mit pochendem Herzen die Angst in den Augen und wusste, dass sie alle Zeit der Welt haben würde, um unbemerkt von hier zu verschwinden. Keiner von ihnen würde sich trauen davon zu laufen – aus Angst ihnen wieder in die Arme zu rennen.
“Solltet ihr es noch einmal wagen, andere zu bestehlen, werde ich euch alle einzeln holen kommen… Nachts, wenn ihr süß schlummernd in eurem Bettchen liegt.“
Ihr Kopf drehte sich zur Seite, zuckte, als sie sich ein, zwei Schritte voraus bewegte und ein schockiertes Aufatmen auslöste. Doch mitten in ihrer Bewegung blieb sie stehen, starrte ein letztes Mal auf die Jungen hinab, die keine Anstalten machten, sich zu rühren. Wandte sich dann auf den Zehenspitzen herum und schenkte Liam ein breites Grinsen, das so gar nicht mehr nach bösartigem Ungeheuer aussah. Sie hoffte, dass er die Zeit genutzt hatte, um nach seinem gestohlenen Eigentum Ausschau zu halten. Sie hingegen verfiel wieder in ihre Wendigohaltung und kletterte wortlos die Leiter hinauf. Wischte sich bereits auf ihrem Weg den dunklen Gang hinunter den Dreck aus dem Gesicht und huschte, statt aus dem Tunnel hinaus in eine kleine Nische, die sie auf ihrem Weg ins Versteck passiert hatten.
“Wir warten hier bis sie fort sind… dann schauen wir uns da unten noch einmal um.“
Es gab einiges, das auf den ersten Blick wertvoll und interessant ausgesehen hatte. Bücher, die älter noch als ihre Urgroßeltern sein mussten. Edelsteine, die sich im Zweifelsfall auf einer anderen Insel zu viel Geld machen ließen. Und hoffentlich fand Liam eben jene Bücher wieder, die er in Teilen von der Straße hatte aufsammeln müssen.
Minuten vergingen, in denen sie dicht beisammen in der Nische hockten. Den Atem des anderen auf der Haut spürten und nur einen Finger zu erheben brauchten, um dem anderen in die Seite zu pieksen. Und gerade als Skadi glaubte, dass keines der Angsthasen sich zurück an die Oberfläche traute, hörte sie das leise Brabbeln. Gefolgt von schnellen Schritten und vorbeihuschenden Schatten, die panisch das Weite suchten. Bingo!
Langsam schälte sie sich aus dem Schatten, spähte abwartend in Richtung des Ausgangs und wandte sich dann kurz mit einem anerkennenden Ausdruck auf den Zügen Liam zu. Zuckte spielerisch mit den Augenbrauen und grinste.
“Du warst echt beeindruckend, du Tiger.“
Fast erklomm ein Lachen ihre Kehle, doch sie versteckte es in einer raschen Bewegung ihrer Finger, die ihm eine dicke Spinnwebe aus den zerzausten Locken zog.
“Das Spiel sollten wir öfter mal spielen.“
Mit einem kecken Ausdruck in den brauen Augenpaaren schenkte sie ihm einen letzten intensiven Blick, ehe sie sich herum wandte und den Weg zurück in die Dunkelheit einschlug. Sie glaubte in ihrem Gerangel ein in Leder gebundenes Buch gesehen zu haben, dessen aufgeschlagene Seite sie stark an Liams Zeichenstil erinnerte.
[In einem Tunnel unter der Erde | direkt bei Liam]