01.05.2019, 21:22
Sie überraschte ihn. Wiedermal. Und das, obwohl Liam eigentlich gar nichts bestimmtes erwartete. Er zwängte sie gedanklich nicht in eine Rolle oder irgendein Klischee und das lag nicht daran, dass es ihm an dem Klischee mangelte, das zu ihr gepasst hätte. Er hatte schon viele Menschen getroffen und zumeist mit Abenteurern seine Zeit verbracht, die ähnlich gestrickt waren wie er. Frei und auf der Suche nach etwas, was sie nicht benennen konnten. Abenteuer, Mythen, Legenden. Naturschauspiele, zerklüftete Klippen oder märchenhafte Wälder. All das zähmte die Sehnsucht ein wenig, bis man sich wieder vor einem neuen Erlebnis sah. Und nicht nur das: Auch all die Erzählungen der anderen fütterten die Neugier nach einer Begegnung mit einer dieser zahllosen sagenumwobenen Gestalten. Diesbezüglich erinnerte ihn Skadi sogar an eine alte Freundin, die sich ihrer Herkunft verschuldet ähnlich lautlos und grazil durch die Dunkelheit hatte bewegen können. Sie hatte ähnlich wenig Wert auf Eitelkeit oder Ernst gelegt und ebenso gewusst, wie man sich zwischen einem Haufen Männer zur Wehr setzte. Tatsächlich fanden sich einige Gemeinsamkeiten, doch Skadi wirkte dabei… wilder. Entschlossener. Wenn man mal von ihrer Einstellung zu Sineca absah. Als die Kurzhaarige ihrerseits die Lage sondiert hatte und sich ihre Blicke trafen, spürte er allerdings eine ähnliche stumme Einigkeit wie es mit Lubaya der Fall gewesen war. Eine Einigkeit, die nicht nur die Erfolgschancen in die Höhe trieb, sondern den Spaß gleich noch dazu.
Erst mit dem zweiten Blick fiel ihm auf, dass ihre Finger über den Boden glitten. Liam versuchte zu erkennen, was sie in den Staub zeichnete, um ihrer stummen Absprache zu folgen und sah verwundert auf, als ihm bewusst wurde, dass das Muster im Schmutz nicht von Belang war. Schweigend beobachtete er ihr ihre Bewegung und während er es anfangs noch als einfachen Teil ihres Planes eingeschätzt hatte, dämmerte es ihm mit der Zeit, dass es vermutlich viel bedeutsamer war. So routiniert, wie sie ihre staubigen Finger in den verschiedensten Linien über ihre Haut führte, machte sie so etwas öfter. Und auch die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich über die Luke hinweg zu ihm hinüberbeugte, um ihm eine vergleichbare Bemalung zu verpassen, überzeugte ihn davon, dass es nichts mit ihrem Spaß zu tun hatte. Und es faszinierte ihn, wie alles, was mit fremden Kulturen einher ging. Die Frage nach ihrer Herkunft allerdings flackerte nur kurz in seinen Gedanken auf, ehe ihn das wilde Funkeln ihrer dunklen Augen im Fackelschein wieder vereinnahmte. Ihre Köpfe hingen noch immer über dem Loch im Boden, als der Lockenkopf ihre Geste mit einem Schmunzeln bedachte und langsam nickte, ehe Skadi auch schon durch die Luke verschwunden war.
Und ihre Show war so spektakulär, dass er sich auch einfach hätte zurücklehnen können, um sie zu genießen. Mit geweiteten Augen beobachtete er ihre Rage, die sie einem Wendigo gleich (jedenfalls hatte er gerade eine erstaunlich gute Vorstellung davon, wie sie wohl sein konnten) zwischen den Kindern herumfahren ließ, bis sie sich einen von ihnen geschnappt hatte. Die Panik lag fast greifbar in der Luft. Liam konnte es keinem von ihnen verübeln. Hätte er nicht gewusst, dass die Bestie, die dort unten wütete, eigentlich Skadi war, hätte er wohl wirklich geglaubt, einem waschechten Wendigo gegenüberzustehen. Himmel. Skadi machte man sich wohl wirklich besser nicht zum Feind. Denn wenn ihr Spaß schon so überzeugend war, wollte er ihre Rache gar nicht kennenlernen. Während sich der eine Junge im Griff wand und freizukämpfen versuchte, stürmten die übrigen vier voller Angst auf die Leiter zu, die in den oberen Raum führte. Hastig zog Liam den Kopf zurück, schaute sich um und zog sich schließlich in den Gang zurück, durch den sie gekommen waren, bis er wieder in den Schatten verschwunden war. Er glaubte fast, den viel zu schnellen Herzschlag der Kinder zu hören, als sie sich vermutlich gleichzeitig durch die Luke zu quetschen versuchten. Und dann, mit Skadis Vorbild, erklang erst ein leises, rasselndes Atmen aus der Dunkelheit, in der er lauerte, bis es zu einem Knurren anschwoll. Voller Angst blieben die Kinder vor ihm im Schein der Fackeln stehen, während sich sein dunkel bemaltes Gesicht allmählich aus der Dunkelheit schälte. In geduckter Haltung und bedrohlich langsam kam er näher und drängte die kleinen Diebe damit zurück. Auch, wenn sein Knurren nicht im entferntesten so furchterregend klang wie das der Jägerin einen Raum tiefer, schien es seine Wirkung nicht zu verfehlen. Eines der Kinder vertrat sich und rutschte kurzerhand wieder in die Kammer hinab, konnte sich aber gerade so noch an der Leiter festkrallen, bevor es gänzlich in Skadis Revier verloren ging. Ein anderer der drei verbliebenden Jungen schien alles auf eine Karte setzen zu wollen und stürmte los – genau auf Liam zu, um sich in seiner Angst so schnell wie möglich an ihm vorbeizudrängen und ins Freie zu entkommen. Kurzerhand machte er einen kleinen Ausfallschritt, als der Junge knapp auf seiner Höhe war und beförderte ihn somit wieder zu Boden. Liam überlegte nicht lange, griff sich mit seinen klauenartig gebogenen Fingern den Gürtel, der um die Hüfte des Kindes gelegt war und zog ihn seinen übrigen Freunden entgegen. Die Zwei, die vorhin noch gemütlich auf den Kissen gelegen hatten, drückten sich ängstlich gegen die Wand. Berauscht von ihrem glorreichen Erfolg bemerkte er erst, als die beiden Kinder weinend an der Wand zusammensackten, dass sie ein wenig zu weit gegangen waren. Er an ihrer Stelle jedenfalls hätte vermutlich nie mehr einen Fuß in diesen Tunnel gesetzt, geschweigedenn irgendetwas an sich genommen, was ihm nicht gehörte, wenn er befürchten musste, noch einmal Opfer solch eines Angriffs zu werden. Mit einem letzten Ruck schob er den Jungen, dessen Hosenbund er noch in der Hand hatte, unversehrt in die Richtung seiner Freunde. Das Knurren verebbte nach und nach.
„Ich glaube, das reicht.“, rief er schließlich zu Skadi hinab, als er wieder auf Höhe der Luke war, fixierte aber noch immer die drei Kinder vor ihm. „Wir haben euch gesagt, dass ihr nicht ungeschoren davon kommt. Los. Runter da.“
Mit dem Kopf wies er die Leiter hinunter, wo die anderen zwei und Skadi warteten. Und er klang nicht danach, als hätten sie eine andere Wahl.