24.04.2019, 22:51
Sie wusste nicht wann, aber während sie seine Violine im Takt klatschend begleitete, hatte sie die Augen geschlossen. Für den Moment vergaß sie die Probleme, die sie quälten, die Erinnerungen, die sie heimsuchten. Die Musik wob ein sanftes, beruhigendes Netz um sie herum, hüllte sie in einen wärmenden Kokon. Wahrscheinlich hätte der junge Mann in diesem Moment die traurigste Melodie aller Welten spielen können, trotz allem hätte Talin sich glücklich gefühlt. Sie wünschte, sie könnte so wie früher wirklich mit einstimmen. Singen, tanzen und lachen, dass wollte sie, kam aber gegen die Schatten, die sie heimsuchten, nicht an.
Der Rhythmus ihrer Hände veränderte sich, passte nicht mehr ganz zu der Melodie, die die Violine vorgab. Nur kurze Zeit später, hörte sie auch schon vollkommen auf und starrte einfach nur vor sich hin, das leichte Lächeln wieder von ihrem Gesicht gewischt, während ihr Blick immer finsterer wurde. Auch die Musik hörte auf zu spielen, was Talin im ersten Moment gar nicht mitbekam. Als der junge Mann schließlich sprach, zuckte das Mädchen heftig zusammen. Wie aus einer Trance gerissen, sah sie ihn an, bevor sie den Kopf hektisch drehte, um zu sehen, mit wem er sprechen mochte. Aber es blieb niemand stehen, fühlte sich niemand angesprochen. Niemand beachtete ihn – außer ihr.
Vollkommen überrascht, schaute sie wieder zu ihm, trat einen kleinen Schritt zurück, bereit gleich wegzulaufen. Der Gedanke aber, von der Musik wieder in diese andere Welt gezogen zu werden, weg von diesen finsteren Gedanken, ließ sie zögern. Wahrscheinlich der Moment, der ihre Vorsicht gebraucht hätte, um sie zum Fliehen zu überreden. Statt also einen weiteren Schritt nach hinten zu machen, setzte sie einen Fuß nach vorn, trat näher zu dem jungen Mann und seiner Musik hin, wenn auch immer noch ein wenig skeptisch.
„Ich...“, sie musste sich Räuspern, weil es schon eine ganze Weile her war, seit sie das letzte Mal gesprochen hatte. „Kennst du 'The parting glass'?“
Wie von selbst kamen die Erinnerungen an vergangenen Frühlingsfest in ihr hoch. Unbeschwerte Zeiten, als die Männer der Insel kurz davor waren wieder aufzubrechen, um für ein halbes Jahr zu fischen. Heute wusste sie, dass sie wesentlich mehr als das getan hatten und deshalb vermutlich letztlich nie wieder gekommen sind. Das Lied aber war immer das Selbe gewesen. Ein Abschied, bis der Winter kam, ein fröhliches Auf Wiedersehen.
Für einen Moment spürte sie wieder die Wärme der Lagerfeuer, den heißen Alkohol, der ihre Kehle hinunter floss, das fröhliche Gelächter der Inselbewohner. Auch wenn sie diese Leute nicht gemocht hatte, so hatte sie die Stimmung immer geliebt.
„Kannst du es spielen?“
Fasst ein wenig erwartungsvoll sah sie ihn an.