24.04.2019, 21:39
Wieso Liam schlagartig für einen Moment so klang wie ein vorpubertärer Bub, der gerade das Wort „Penis“ zum ersten Mal laut ausgesprochen hatte, war der Nordskov unbegreiflich. Womöglich hatte sie sich in einer Formulierung vertan, die ihn an etwas Lustiges erinnerte. Oder er stellte sich den Kampf erprobten Ryan als hüpfende Knetfigur vor, die sich mit Händen und Füßen gegen seine Angreifer zu Wehr setzte. Doch die Wahrheit war so banal, dass Skadi beinahe rot angelaufen wäre – nicht etwa aus Scham, sondern weil sie für eine Sekunde lang wütend auf sich war. Hatte sie den Fremden tatsächlich so selten in Augenschein genommen, dass ihr sein markantestes Merkmal entgangen war?
Auf Liams Worte reagierte die Dunkelhaarige nur mit einem kurzen Zusammenkneifen der Augen und Lippen, schnaubte geräuschvoll, was nicht eindeutig als amüsiert oder genervt zu identifizieren war und folgte dem Pfad aus der Gasse hinaus. DAS war unangenehm!
Viel lieber ging sie nun dazu über die verbliebenen Stände nach etwas Essbarem abzusuchen, schmunzelte angesichts der Worte, die über ihre Schultern an ihre Ohren schwappten und schenkte dem Musiker einen kurzen Seitenblick. Spielte mit den geschwungenen Brauen, als morste sie ihm geheime Codes zu. Wenn sie wollte, würde sie ihm schon sehr deutlich machen, dass es keine essbare Hauptspeise für sie brauchte. Doch so angenehm diese kleinen Neckereien auch waren, verblieben die umtriebigen Gedanken viel zu kurz in ihrem Brustkorb, als dass sie den Fremden am Handgelenk gepackt und wieder zurück in die Gasse gezerrt hätte. Irgendwann einmal vielleicht, wenn sie sich länger kannten oder Skadi nach langer Durststrecke sogar einen Baum besteigen würde. Doch jetzt hatte sie Hunger – verdammt großen Hunger sogar.
Schwer seufzend musste sie allerdings erkennen, dass das Angebot eher spärlich war. Nichts, womit sie auf Dauer glücklich werden konnte. Lange musterte sie den Dunkelhaarigen, ließ den Blick über sein Gesicht, seine Locken und Ohrenspitzen wandern. Verzog für einen kurzen Augenblick die Lippen zur Seite und atmete schwer aus. Auf der einen Seite bekam sie in einem Wirtshaus etwas Gutes zu essen, bevor sie wieder Monate lang auf dem Schiff unterwegs sein und sich von den kleinsten Rationen ernähren musste. Auf der anderen Seite allerdings lagerte das meiste Geld nicht in ihrem Beutel, sondern in Enriques. Und der war mit den Keksen, die er heute Morgen erstanden hatte, überall in der Stadt – nur nicht hier!
“Mh… ich befürchte nur, dass es mich nicht wirklich satt machen wird. “
Zwiegespalten huschten die braunen Augenpaare auf den Stand neben sich, dessen Calamari Spieße zwar köstlich aussahen, doch keinen Appetit in ihr verursachten. Es brauchte gefühlte Stunden, bis sich Skadi von dem Anblick losreißen konnte und an Liam vorbei auf die andere Seite der Straße schlenderte. Mit erhobenen Zeige- und Mittelfinger bedeutete sie dem Verkäufer, dass sie zwei der gefüllten Brote nahm und raffte den Saum ihres Kleides hoch.
Klimpernd kam nach etlichen Zentimetern – das Kleid hing bereits auf der einen Seite nur noch knapp unterhalb des Schritts – der lederne Beutel zum Vorschein, den sie mit einem geschickten Handgriff von ihrem Oberschenkel löste und kurz darauf dem Herren am anderen Ende seine Münzen in die Hand drückte.
“Auch einen?“
Mit erhobener Hand hielt sie Liam das zweite gefüllte Brot mit Fleisch und Gemüse entgegen, balancierte es so gut sie konnte, damit die Hälfte nicht bereits auf den gepflasterten Boden plumpste.
“DAS hat uns jetzt definitiv nicht das letzte Hemd gekostet.“, fügte sie mit einem schelmischen Schmunzeln hinzu und fischte sich mit den Lippen ein überstehendes Stück Gurke aus dem Brot.
[Parallelstraße zum Brunnenplatz | direkt neben Liam]