23.04.2019, 22:44
Beklaut. Liam bezweifelte, dass die Hexe wirklich viel erwischt hatte, denn auch, wenn Ryan in jenem Moment wohl etwas unachtsam gewesen war, war das im Normalfall kein Charakterzug von ihm. Ein paar Achter vielleicht, aber genug, um seinen diebischen Stolz anzukratzen. Wäre sie ihnen nicht abermals in die Arme gelaufen, hätte sich das Ganze vermutlich im Sande verlaufen und er wäre niemals in die Lage geraten, dass irgendjemand davon erfuhr, dass er beklaut worden war – und dann eben auch noch von einer Frau, was die Sache für den selbsternannten Meisterdieb noch schlimmer gestaltete! Die Sorgen der jungen Frau teilte der Lockenschopf in diesem Moment allerdings nicht. Ryan war vielleicht ein Missgeschick passiert, aber er war nicht einfältig genug, zwei Mal auf die gleiche Frau hereinzufallen. Statt auf die mögliche Finte aufmerksam zu werden, die Skadi ansprach, bezweckte sie mit ihrer Vermutung lediglich ein etwas breiteres Schmunzeln auf seinen Zügen. Einen kurzen Augenblick musste er ein Auflachen unterdrücken. Auch, wenn (oder: gerade weil) Ryan gerade nicht hier war, fühlte es sich nicht richtig an, über sein Schicksal zu lachen. Aber wäre er hier gewesen – er hätte sich selbst bestimmt kein kurzes, angedeutetes Grinsen verkneifen können bei Skadis Wortwahl, die vermutlich ihrer Unkenntnis geschuldet war. Als sie abermals einen unbeabsichtigten Augen-Witz auf Ryans Kosten machte, gluckste er kurz, räusperte sich kurz darauf und fand zu seiner Haltung zurück.<
„Ein blaues Auge trifft es gut. Irgendwo treiben wir bestimmt noch eine zweite Augenklappe für ihn auf, bis es verheilt ist, damit er sich die peinlichen Fragen sparen kann.“ Damit schloss er das Thema, selbst wenn er Skadi dadurch womöglich im Unwissenden hielt.
Das nachfolgende Thema war ohnehin weitaus ergiebiger als Ryan und seine Hexenjagd. Die Verwirrung seines Gegenübers entging dem Lockenkopf, denn er war in just diesem Moment mit ganz anderen Gedanken beschäftigt. Und als sie an ihn herangetreten war und sich damit wieder gänzlich seine Aufmerksamkeit verschaffte, war der fragende Zug längst wieder aus ihrer Miene verschwunden. Skadi jedenfalls schien zufrieden mit seiner Antwort und nicht nur das – auch mit ihrer damaligen Wahl der (unfairen!) Mittel, wie es schien. Jedenfalls deutete er so das aufkommende Schweigen. Kein Schweigen, weil sie nicht wusste, was sie entgegnen wollte. Ein Schweigen, welches genau das war, was sie entgegnen wollte. Liams Augen verengten sich prüfend, abwartend, während er sie musterte. Vielleicht kitzelte er mit seiner lieb gemeinten Stichelei ja doch noch eine Reaktion aus ihr heraus? Doch die Jägerin tat das, was er im Normalfall von Sineca kannte – sie ließ ihn in der Luft hängen und wandte sich durchaus zufrieden mit dem Ausgang dieser Situation von ihm ab und in die vorgeschlagene Richtung. Während sie sich vielleicht als Gewinnerin sah, sah sich Liam ganz gewiss nicht als Verlierer.
„Mein Glück also, dass es hier nur so vor Essensständen wimmelt.“
Wie es schien, lagen die allerdings hauptsächlich in der anderen Richtung. Skadi schien nach einigen Metern die gleiche Erkenntnis zu packen, doch im Gegensatz zu Liam gab sie sich mit dem mageren Angebot offenbar nicht zufrieden. Als sie sich umdrehte, wandte er den Blick von den Ständen um sie herum ab und sah sie an.
„Vermutlich ein bisschen weiter weg vom Zentrum.“, mutmaßte er als ernste Antwort auf ihre Frage und deutete mit dem Kinn weiter die Straße hinab.
Die Idee, einen weiteren Kommentar bezüglich ‚Kleider vom Leib reißen‘ zu tätigen, kam ihm trotz der naheliegenden Möglichkeit nicht. Außerdem war Liam einfach nicht der Typ dazu, großzügig seine Hilfe dabei anzubieten. Diese Großspurigkeit stand ihm einfach nicht und war ihm zu plump und zu vulgär, als dass er ihr etwas abgewinnen konnte. Das war wohl eher Luciens Strategie.
„Hoffe ich jedenfalls für mich. Ist dir das lieber? Genug von Fressständen die letzten Tage?“
Er konnte mit allem leben, solange es essbar war. Den Erlös vom Vortag trug er auch noch mit sich herum. Auch, wenn es kein Vermögen war, würde damit zumindest über die Runden kommen. Und wenn nicht würde es ihm wohl frühstens auffallen, wenn es ums Bezahlen ging.