23.04.2019, 08:58
Er war definitiv niemand, der viele schlechte Worte über andere verlor. Liam war ziemlich umgänglich, wenn man so wollte, doch auch er suchte sich seine Gesellschaft aus. Es war kein Geheimnis, dass man mit manchen mehr und mit manchen weniger zurecht kam und der Lockenkopf wusste durchaus von seiner freien, ehrlichen Art, mit der er bei dem ein oder anderen durchaus aneckte. Cornelis war einer davon, der mit seinem Humor offenbar nicht ganz so gut konnte, denn bei Liam hieß es nicht nur, dass man über andere lachen können musste, sondern auch mal über sich selbst. Er ging nicht so weit, zu sagen, dass er mit dem Rotbart überhaupt nicht konnte. Arbeiten ließ sich mit ihm ja sogar sehr effektiv, aber er bevorzugte nebst der Effektivität dann doch eher den Spaß bei der Sache. So war er eben und brauchte dadurch nicht selten ein bisschen länger für die aufgetragenen Aufgaben. Abermals ein Umstand, der dem Rotbart vermutlich nicht ganz so passte (und das war jetzt wirklich nur Vermutung). Auf der anderen Seite gab es aber auch Charakterzüge, mit denen der sonst so offene und tolerante Freigeist nicht konnte. Befehlstöne und offene Hochnäsigkeit gehörten dazu. Dem Rangdenken der Marine beispielsweise würde er niemals etwas abgewinnen können. Ein Grund mehr, weshalb er mit Enrique nicht warm wurde. Und auch bei Cornelis war er sich noch nicht ganz sicher, wie viel er auf seinen ehemaligen Captain-Stand gab. Skadi und er jedenfalls schienen bislang einen ähnlichen Eindruck vom Rotbart bekommen zu haben, ohne sich groß darüber austauschen zu müssen. Musste also irgendetwas dran sein, oder?
Als sie auf die Erklärung ihres momentanen Zustands zu sprechen kam, konnte sich Liam dank seiner bildhaften Fantasie die ganze Szenerie durchaus gut vorstellen. Er lachte bei dem Gedanken, besonders als die hysterische Skadi zwei Schränke von Wachmann anfuhr, die sich nicht trauten, der Dame irgendetwas zu entgegnen. Er konnte sich die Brünette durchaus gut in solch einer Rolle vorstellen, die sie voller Hingabe und Spaß verkörperte und ohne Rücksicht auf Verluste durchzog. Immerhin – sie hatte sich die vergangenen Jahre ja auch in eine Rolle begeben müssen, die ihr vermutlich weitaus weniger gefallen hatte. Vielleicht sollte Aspen mal bei ihr in die Schule gehen, bevor sie abermals versuchten, sich unbemerkt auf ein Marineschiff zu schleichen. Vielleicht würden sie dann einen neuen Rekord aufstellen können, der mehr als ‚5 Minuten unbemerkt‘ umfasste.
„Jetzt verstehe ich!“, lachte er und hatte die unbekannten Schüsse in ihrem Rücken fast schon wieder vergessen. „Das klingt tatsächlich so, als hätte ich meinen Spaß gehabt, ja.“ Noch immer lachend bei der Vorstellung schweiften seine Gedanken zurück zu Ryan, dem er durchaus auch dumme Dinge zutraute in seinem gekränkten Stolz, als Dieb beklaut zu werden. „Weißt du, lustiger Weise hatten Ryan und ich eine ähnliche Situation. Er ist wohl die Tage von einer Diebin beklaut worden, die uns zufällig in die Arme gelaufen ist. Um sie aus der Aufmerksamkeit zu bekommen, wollten wir sie möglichst unbemerkt vom Brunnenplatz schaffen, ohne dass sie eben diese -“ Er deutete auf Skadi und meinte damit die Rolle der ‚hysterischen Frau‘. „- Nummer abziehen und die Wachmänner aufmerksam machen konnte. Einer zuvor als Geisteskranken titulierten glaubt nämlich nicht mal mehr ein Wachmann.“
Eigentlich hatte er sich auf das kleine Schauspiel wirklich gefreut. Allzu weit waren sie aber ja leider nicht gekommen.
„Sehr weit kamen wir allerdings nicht. Ryan ist ihr hinterher und seitdem verschwunden. Schade eigentlich.“
Als sie das Ende der Gasse erreicht hatten, blickte er die kreuzende Straße in beide Richtungen hinab, um sich eine Orientierung zu verschaffen. Auch hier hatten noch einzelne Läden kleine Stände auf der staubigen Straße aufgebaut, um von den vielen Besuchern des Festes zu profitieren. Dass Skadi stehengeblieben war, bemerkte er erst einen Herzschlag später. Er hatte nicht groß darüber nachgedacht, wie oder ob sie überhaupt auf seine Frage reagieren würde. Ihre provokante, direkte Antwort jedenfalls zauberte ihm wieder ein amüsiertes Schmunzeln auf die Züge und - hey, er war eben doch ein Mann; einer mit einer gewaltigen Vorstellungskraft außerdem; er kam nicht umhin, sich das ganze zumindest einen kurzen Augenblick vor Augen zu halten.
„Oder die meisten wären vorher ausgeblutet.“, sprach er das Bild, welches sich in seinem Kopf bildete, frei heraus.
Wegen Bluthochdruck und Nasenbluten nämlich. Na, aber immerhin konnten sie sich bei der Sphinx nicht darüber beschweren, dass die meisten Seemänner alt und widerlich waren. Ihr Altersdurchschnitt war erstaunlich niedrig, aber vielleicht hielt es ihn auch deshalb so lange an Board. Weil sie eben nicht engstirnig, gierig und blutrünstig waren. Als die Jüngere auf ihn zutrat, war er allerdings recht schnell wieder im Hier und Jetzt. Er erwiderte ihren Blick mit einem amüsiert zuckenden Mundwinkel. Und im Gegensatz zu (fast) jedem anderen Mann in seiner Situation blieben seine Augen fest auf die dunkelbraunen Seelenspiegel seiner Gegenüber gerichtet.
Es gab Männer, die das Ganze nun als Wink mit dem Zaunpfahl verstanden hätten. Und dann gab es Liam, der der Manieren wegen nicht auf die Idee kam, eine Frau zu bedrängen, wenn sie vorher nicht offensichtlich(er)es Interesse gezeigt hatte. Aber gegen harmlose Neckereien hatte er definitiv nichts einzuwenden – ganz gleich, wie weit sie gingen.
„Du vergisst, dass ich durchaus weiß, dass du dich selbst verteidigen kannst.“, gab er mit leiser Stimme und einem herausfordernden Unterton zurück, während sich seine Augenbrauen kurz nach oben schoben.
Skadi löste die Situation und Liam erwischte sich dennoch dabei, kurz schlucken zu müssen. Ja, sie hatte Feuer und das, obwohl sie sich die letzten Jahre hatte verbergen müssen. Oder gerade, weil sie sich hatte verbergen müssen? Er wischte sich kurz die Locken aus der Stirn, ehe er zu ihr aufschloss.
„Mit durchaus unfairen Mitteln übrigens.“, erinnerte er sie selbstzufrieden, ohne sie anzusehen. „Rechts sollten wir ganz aus den Festlichkeiten herauskommen. Vielleicht finden wir ja noch etwas zu beißen, bevor es wieder auf See geht.“