22.04.2019, 20:06
Hätte es zu diesem Zeitpunkt noch Zweifel gegeben, wäre er zum einen durch die wohl bekannte Stimme und zum anderen durch Skadis kecke Art ausgemerzt worden. Bei der Frau, die vor ihm stand, handelte es sich wirklich um Skadi. Skadi, die bis vor kurzem noch als Kaladar auf einem Marineschiff gesegelt war und Verbrecher und Mörder auf Schach gehalten hatte. Skadi, bei der er tatsächlich nicht einmal den Gedanken daran verschwendet hatte, ob sie weibliche Kleidung während ihrer Zeit als Kaladar vermisst hatte. Aber jetzt, wo sie ihn unweigerlich in die Situation brachte, sich eben doch Gedanken zu machen, musste er sich eingestehen, dass er ihr vermutlich einen etwas wilderen Stil zugeschrieben hätte als die brave Ehefrau. Immerhin – sie war so durchdacht gewesen, diese Freiheit auf dem Fest auszuleben, um den gierigen Blicken der übrigen Mannschaft zu entgehen. Liam wusste, dass man es als Frau auf See alles andere als einfach hatte. Insgesamt hatte man es als Frau nicht einfach. Dementsprechend gut konnte er ihre Verkleidung als Kaladar auch nachvollziehen – ihren Erfolg damit konnte er hingegen nur bewundern. Viel Zeit für einen gemütlichen Plausch in einer dunklen, vertrauenserweckenden Gasse blieb ihnen allerdings nicht, obschon die Schüsse entgegen des Klischees ausnahmsweise nicht von hier sondern vom Brunnenplatz selbst zu kommen schienen. Und wenn Liam etwas in der vergangenen Zeit gelernt hatte, war es, dass man sich von Schüssen lieber entfernte, wenn man deren Ursprung nicht kannte und die gute, alte Neugier eben mal außen vor blieb. Dass Skadi ebenfalls nicht wusste, was dort vor sich ging, war auch nicht unbedingt ein gutes Zeichen. Schien, als wäre dieses Fest heute an einigen Stellen etwas aus dem Ruder gelaufen.
„Oh? Dabei hat der alte Kapitän doch immer alles im Griff.“, entgegnete er in einem Tonfall, der bei ihm offen ließ, ob es zynisch oder ernst gemeint war, während er zu Skadi aufschloss und bereitwillig den Weg in die andere Richtung – fort vom Brunnenplatz – einschlug.
Noch bevor sich weitere Fragen zu dem vermeintlichen Vorfall in seinem Kopf formen konnten, fiel ihm nun im direkten Angesicht der erschöpfte Ausdruck ihrer Züge auf. Ihre Reaktion, als er sie darauf ansprach, hätte man durchaus als verdächtig werten können, doch Liam war niemand, der sich die Mühe machte, zwischen den Zeilen zu lesen oder Dinge in Handlungen hineinzuinterpretieren, die so schlicht nicht gemeint gewesen waren. Er war ein Mann, der die Einfachheit vorzog und sich dementsprechend auch mit ihrer Versicherung, alles sei in Ordnung, zufriedengab. Entweder also er hatte sich einfach geirrt oder sie wollte nicht darüber reden – beides Optionen, die bei ihm keinen Unterschied machten.
„Du siehst aus, als hättest du geweint.“, gab er ehrlich seinen Eindruck wieder und folgte mit schnellem Schritt dem Verlauf der Gasse. „Ich meine, ganz davon abgesehen, dass deine Arme aussehen, als hättest du mit einer Straßenkatze um Futter gekämpft. Aber ich schätze, dass lässt sich auf die Cornelis-Arsch-Rette-Aktion zurückführen, hm?“
Er klang nicht danach, als wäre eine Antwort von Nöten. Viel eher war er nun dran, seinen Aufenthalt in dieser düsteren, vertrauenserweckenden Gasse zu erklären. Im ersten Moment winkte er schlicht mit einer kurzen Handbewegung ab, den Blick (nachdem er sich doch kurz wieder dabei erwischt hatte, Skadi in diesem ungewohnten Fummel zu mustern, als die Häuserwand ein wenig Licht in die Gasse gelassen hatte) nach vorne gewendet.
„Sagen wir, Ryan und ich konnten uns nicht entscheiden, ob wir erst Rotzlöffeln die Ohren lang ziehen oder Hexen verbrennen wollen. Er ist dir nicht zufällig über den Weg gelaufen? Ich hab‘ ein bisschen Sorge, dass er doch etwas Dummes tut.“
Huch, das klang doch glatt spannender, als es ihm vorgekommen war, aber das fiel ihm gar nicht auf.
„Sag mal… Hast du vor, so zurück aufs Schiff zu gehen? Nicht, dass ich was dagegen einzuwenden hätte -“ Und das Lächeln auf seinen Zügen war definitiv ehrlich. „- aber ich fürchte, das Kleid beschert dir bei den Männern der Crew ein bisschen mehr Aufmerksamkeit als dir lieb wäre.“
Liam zuckte angedeutet mit den Schultern. Er wollte es ja bloß gesagt haben.