22.04.2019, 16:18
Sie wünschte sich, sie hätte den Dolch nicht wieder weggesteckt. Nicht etwa das 'Kleine' störte sie so sehr – auch wenn sie sich ein Schnauben nicht verkneifen konnte. Nein, es war eher die Tatsache, dass er mit seinen vielen Worten jegliche Faszination für sie verloren hatte. Wer hatte noch mal was und warum getan? Talin konnte ihm nicht ganz folgen und war auch nicht böse drum. Immerhin flammte ihre Neugierde für einen kurzen Augenblick wieder auf, als er sich ihr zu wandte. Sie sah ihm in die blauen Augen und erkannte dort, was sie vorhin in der Menschenmenge zu hören gemeint hatte. Nicht diese Überheblichkeit mit der er meinte, sie behandeln zu müssen – egal ob es der Wahrheit entsprach oder nicht. Oder diese 'Ich bin so ein Held, weil ich sie gerettet habe'-Nummer. Alles uninteressant und nervtötend. Aber das was er tat, während er all diesen Unsinn erzählte, war viel faszinierender. Sein ganzes Verhalten war das eines Kämpfers und stand im Gegensatz zu seiner scheinbaren Leichtigkeit in der er mit Worten seine Heldentat lobte. Talin lächelte leicht in sich hinein. Interessant, nein wirklich.
Noch einmal wollte sie an dem Mann vorbei sehen und Lucien etwas sagen, aber in dem Moment ertönte ein lauter Schuss. Es ging so schnell, dass sie erst gar nichts spürte, sondern nur den splitternden Stein hörte. Sie spürte, wie sich die kleinen Splitter in ihren nackten Arm bohrten, bevor sie ein leichtes Brennen an ihrer Hüfte fühlte. Ihr Blick ging leicht nach unten und sie sah, dass ihre Korsage von dem Streifschuss aufgerissen wurde und ein hauchdünner Blutfilm ihre Haut bedeckte. Es war eine lächerlich kleine Wunde und doch schloss Talin die Augen – nur damit sie die nicht verdrehte.
„Verdammt, Lucien!“, zischte sie leise.
Sie mochte diese Korsage wirklich sehr und wer wusste schon, wann sie eine neue besorgen konnte. Noch dazu würden sie jetzt sehr schnell von hier verschwinden müssen, weil so ein Schuss niemals ungehört blieb.
Leicht verdrehte sie ihr Handgelenk im Griff des Fremden, egal, ob sie sich damit selbst weh tat – denn das tat sie – und trat leicht vor ihn, um besser mit Lucien sprechen zu können.
„Dann würde ich sagen, Talin sorgt mal dafür, dass wir hier rauskommen, wie klingt denn das?“ Sie sah von Lucien zu dem anderen Mann. „Du hast recht, Bruderherz, ich will den Streuner mitnehmen, auch wenn ich kurz davor war, meine Meinung zu ändern. Aber offensichtlich schulde ich ihm noch was, also würd' ich sagen, er kommt erst mal mit uns mit. Ob er auch mit aufs Schiff kommt, da bin ich mir noch nicht so sicher.“ Sie musterte den Fremden noch einmal kurz, bevor sie sich wieder Lucien und Shanaya zu wandte. Die Stille hinter ihnen, schien ohrenbetäubend. Die Soldaten, die auf dem Brunnenplatz wohl inzwischen für Ordnung sorgen sollten, würden bald hier her kommen. Es schien fast so, als würden sie schon die ersten Schritte hören können.
„Ganz großartig gemacht, Brüderchen.“, meinte sie noch einmal zu Lucien, bevor sie sich zu dem anderen umdrehte und ihn auffordern ansah. „Verschwinde oder komm mit. Deine Entscheidung.“
[Nahe Brunnenplatz | In einer Seitengasse | Mit Lucien, Sylas und Shanaya]