21.04.2019, 14:52
Diese ganze Aktion war zum Scheitern verurteilt gewesen. Ganz gleich wie gut ihr Schauspiel auch gewesen sein mag, konnte es wohl kaum die Tatsache überspielen, dass der Fremde absolut nicht wusste, wer sie war. Und besäßen die Wachmänner auch nur eine Unze Verstand, würde ihnen alsbald das passgenaue Timing der Ereignisse auffallen. Skadi hatte also nur noch wenige Sekunden, in denen sie sich einen Vorsprung erarbeiten konnte. Andernfalls hielt sie geradewegs für eine Handvoll leichtsinniger Männer ihren Kopf hin, die sich womöglich absolut NICHTS bei der Sache gedacht hatten. Und DAS würde sie auf gar keinen Fall zulassen. Nicht ohne ihnen dafür vorab ordentlich den Arsch zu versohlen.
"Sie können mir doch gar nicht helfen!", ertönte es lautstark über ihren Rücken hinweg in Richtung ihres Verfolgers. Vorbei an erstarrten Gestalten, die sie so gut wie möglich zu umschiffen versuchte. Immer wieder schlüpfte sie durch kleine Lücken in der Menge, streifte hier und da eine Hüfte oder Schulter und hob entschuldigend die Hände. Immer wieder versuchte Skadi im gehetzten Lauf den Schwall an Tränen aufrecht zu erhalten, selbst wenn das ihre Sicht um einiges einschränkte. Doch im Härtefall musste sie schließlich die verletzte Ehefrau spielen können, sollte der Fremde doch noch zu ihr aufholen und sie in Gewahrsam nehmen. Und mit jedem weiteren Schritt schien sich diese Furcht zu bewahrheiten. Seine Rufe wurden stetig lauter, drängender und ließen alsbald keinen Zweifel mehr daran, dass ihm ihre eigentlichen Absicht mehr als bewusst geworden war. Ganz gleich wie oft sie sich zu ihm herum wandte und ihn mit Handbewegungen und Worten fortschickte - er hetzte unbehindert hinter ihr her.
"...und sie gelten als Schlächter, wenn sie sich daran gütlich tun eine arme Frau zu bedrängen, die vergeblich ihren verschwundenen Mann sucht. Schämen sie sich was!"
Hatte sie gerade noch ihren Kopf nach hinten gewandt und mit funkelnden Blicken den Wachmann traktiert, strauchelte ihr Körper schlagartig zur Seite und entlockte ihr ein leises Fluchen. Nur mit Mühe konnte die Nordskov ihr Tempo verringern, um nicht geradewegs in die nächste Silhouette hinein zu schlittern. Doch das bedeutete, dass sie ihrem Verfolger kostbare Sekunden schenkte, in denen er endgültig zu ihr aufholen konnte.
"So eine Scheiße...", murmelte die Dunkelhaarige leise zu sich selbst. Versuchte unter einem Schwall an Entschuldigungen wieder auf die Beine zu kommen, während sich der Koloss, dessen Weg sie ungewollt geschnitten hatte, in einer schnellen und unerwartet grazilen Bewegung herum wandte. Wütend erhoben sich seine Worte über die Köpfe der Umstehenden hinweg. Donnerten zu dem dunklen Haarschopf hinab, der sich augenblicklich zurückzog. Sie konnte sehen, wie jede Faser seiner angespannten Muskeln auf eine körperliche Auseinandersetzung vorbereitet war. Sich selbst rechnete Skadi absolut keine Chancen für einen Sieg aus - sie wäre sicherlich mit nur einem Schlag seiner Pranke zu einem Klümpchen Menschenmasse zerfallen.
Und gerade als sie ihre Beine für einen letzen Sprint durch die kleinen Lücken am Boden der Menge vorbereitete, krachte der Hüne mit einer zierlichen Gestalt zusammen, die ungeahnt der Dinge, auf die sie geradewegs zusteuerte, aus einem Seitenarm geschlendert kam. Helle Leinen verdeckten Skadis Sicht auf das Geschehen. Flatterten wie kleine Fähnchen durch die Luft und verschafften der Nordskov eine letzte Chance von hier zu verschwinden. Schlagartig blendete die Jägerin jegliches Geräusch zu ihrer Rechten aus. Spannte eine samtig weiche Decke über das lautstarke Gezeter und Gefluche. Fokussierte mit starrem Blick den Durchgang, der sich wie ein leuchtender Ausweg aus der Hölle erhob und wandte ein letztes Mal den Blick zur Seite. Erkannte unter kleinen Sichtfetzen das puterrote Gesicht des Wachmanns... und sprintete in geduckter Haltung quer über die Straße hinweg.
Jeder neue Schritt führte sie fort vom quirligen Leben der Hauptstraße. Brachte sie tiefer in die Stille des Innenhofs, der sich wie ein idyllisches Plätzchen vor ihren Augen erstreckte. Nur für wenige Atemzüge lang verlangsamte Skadi ihren Lauf, musterte die Umgebung und suchte fieberhaft nach einem Fluchtweg. Hier zu bleiben und abzuwarten war nämlich keine Option. Selbst wenn sie die hohe Tür hinter sich verschlossen hatte, rechnete sie alsbald mit einer dröhnenden Stimme in ihrem Rücken. Sie musste von hier verschwinden und so viel Weg zwischen sich und ihren Verfolger bringen, wie nur irgend möglich. Und der einzige Ausweg führte sie an tief hängenden Wäscheleinen vorbei, über einen Brusthohen Stapel aus Holzscheiten auf die andere Seite abgezäunten Innenhofs. Ganz gleich was auf der anderen Seite des Palisadenzaunes auf sie wartete - Skadi riskierte lieber das, als die wütende Hand des Wachmannes und die Gefangenschaft in einer modrigen Zelle, aus der sie nicht einmal Enrique heraus holen konnte. Denn wenn sie nicht als tot galten, dann als fahnenflüchtig.
Mit festem Griff umklammerten Skadi das vom Boden aufgeklaubte Stück Leinen der fremden Retterin und steuerte schnurstracks auf den Stapel Feuerholz am Ende des Hofes zu. Beschleunigte die weiten Schritte wenige Meter zuvor und kletterte wie ein Wiesel über die Anhöhe und den Zaun hinweg. Rauschte daraufhin jedoch blindlings in einen wilden Dornenbusch hinein und fluchte leise unter den kleinen Stichen, die ihre offenen Arme und Beine zerkratzten.
Das verlangte nach einer Unmenge Rum die ihr Cornelis nach dieser Aktion schuldete!
-*-
Völlig außer Atem ließ sich Skadi auf den aufgewärmten Dachziegeln eines alten Schankhauses nieder und streckte alle Viere von sich. Der Wettlauf hatte viel zu lange angehalten - selbst wenn er ihr diesen Wachmann endgültig vom Hals geschafft hatte. Ihre Konzentration war zumindest für die nächsten paar Minuten dahin - ebenso die brennenden Lungen, die unregelmäßig nach Sauerstoff verlangten und einen metallenen Geschmack auf ihrer Zunge hinterließen. Allem Training zum Trotz hatte ihr Körper nicht damit gerechnet so schnell über Fassaden und Hindernisse hinweg eilen zu müssen. Ganz gleich wie viel sie im Wald zuvor trainiert hatte - es reichte immer noch nicht ganz aus, um solche Aktionen unbeschadet zu meistern.
Mit verkniffenem Mund akzeptierte die Nordskov diese bittere Tatsache und schwor sich die nächsten Tage noch härter zu sich zu sein. Wenn sie überleben wollte - und das stand nach diesem dämlichen Tag unbestritten fest - musste sie sich auf alles gefasst machen. Das war und blieb nun einmal die Gefahr, wenn man sich mit fremden Faktoren umgab, die wie ein Fähnchen im Wind zappelten und alle Nase lang entschlossen ihre Richtung zu wechseln. Unter ihrem Vater hatte es das niemals gegeben. Zumindest war man sich innerhalb der Gruppe immer wortlos einig gewesen, was zu tun war.
Mit einem tiefen Seufzen gestattete sich Skadi den kleinen Moment Ruhe. Schloss die dunklen Augenpaare und scholl ihre Lungen für den unablässigen Versuch nach Luft zu schnappen. Spürte wie das Kribbeln in ihren Gliedmaßen nachließ und sich ihre Muskeln von der Anspannung lösten.
Bald würde sie sich das Leinenkleid über den zerkratzten Körper ziehen und so unauffällig wie möglich den Rückzug zum Schiff antreten. In der leisen Hoffnung, dass es Enrique nicht erwischt hatte.
-*-
Mit einem letzten Satz sprang Skadi über die Fensteröffnungen auf den staubigen Boden der dunklen Seitengasse hinab und klopfte den losen Dreck vom Stoff ihres Knöchel langen Kleides. Augenblicklich wirkte sie wie ein völlig anderer Mensch in diesem femininen Stück Stoff. Doch viel schlimmer für sie war, dass sie sich kaum so frei bewegen konnte wie zuvor. Bei jedem Schritt, den sie voraus ging, hing das Leinen ihr wie ein breiter Strick an den Beinen. Ein geschultes Auge konnte deutlich erkennen, wie unbeholfen sich die Nordskov darin fortbewegte. Selbst wenn das taillierte Kleid sie auf den ersten Blick grazil und lieblich erscheinen ließ. Skadi war froh, sobald sie es von sich streifen konnte. Viel lieber liefe sie jetzt in ihrem Eva Kostüm durch die Straße - wenn das nicht noch wesentlich auffälliger gewesen wäre.
Beschwingt wandte sich der dunkle Haarschopf zur Seite und erkannte bereits in der Bewegung die dunkle Silhouette, die mit dem Rücken zu ihr stand. Scheinbar hatte sie ihren Aufprall kaum wahrgenommen und schien viel zu sehr auf etwas fokussiert zu sein, das sich Skadis Blick gänzlich entzog. Vielleicht beobachtete der Fremde auch nur das Treiben auf der Straße?
Mit einem beherzten Griff rückte Skadi ihre Verkleidung zurecht, schob ihren Busen nach oben - wo nicht viel war, musste sie viel vortäuschen- und prüfte den Stoff um das halb zurück gebundene Haar, ehe sie voran schritt. Direkt auf die fremde Gestalt zu, die sich auf den letzten Metern vertraut nach Liam anfühlte.
PS: Bild zur Kleidung folgt
[Seitengasse am Brunnenplatz | direkt hinter Liam]
[Seitengasse am Brunnenplatz | direkt hinter Liam]