20.04.2019, 12:36
Den gesamten, einem Spießrutenlauf gleichenden Weg hin zu der Seitengasse, in der Talin verschwunden war, warf Lucien nicht einen einzigen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, ob Shanaya ihm folgte. Es interessierte ihn schlicht nicht. Schließlich konnte die junge Frau tun und lassen, was sie wollte und er brauchte ihre Hilfe nicht, um sich um seine Schwester zu kümmern. In jenem Augenblick, da sie schräg hinter ihm das Wort ergriff, stellte allerdings ein kleiner Teil in ihm spürbar zufrieden fest, dass sie ihn tatsächlich begleitet hatte. Und zwar nicht, weil er glaubte, ihre Hilfe nun doch noch zu benötigen...
Er konnte nicht sehen, mit welcher Gelassenheit die Schwarzhaarige hinter ihm stand, weil er den Kopf nicht zu ihr umwandte, geschweige denn den Blick von Sylas und seiner Schwester löste. Aber wenn er es sich hätte vorstellen müssen, dann hätte sie in seinem Kopf wahrscheinlich genau so ausgesehen, wie sie es gerade tat. Eventuell noch auf den Fußballen vor und zurück wippend. Und hätte er nur einen Hauch bessere Laune, hätten ihre Worte ihm mit Sicherheit ein geradezu spitzbübisches Lächeln entlockt.
Hatte er jedoch nicht. Tat es also nicht. Denn seine ganze Aufmerksamkeit forderte der Fremde ein. Im ersten Moment lag dem 21-Jährigen auf dessen Begrüßung ein zynisches 'Und weißt du denn, mit wem du es zu tun hast?' auf der Zunge. Doch da der Ältere einen Moment später weiter sprach und damit jede Antwort von Seiten des jungen Captains überflüssig machte, schwieg Lucien ohne mit der Wimper zu zucken. Eisige Ruhe legte sich über seine Gedanken.
Ehrlich gesagt hatte er keine Ahnung, wer dieser Thomas Morrigan sein sollte – klangvoller Name, nebenbei bemerkt. Dafür waren sie einerseits noch nicht lange genug hier, andererseits hatten sie nach ihrer halsbrecherischen Flucht von der Morgenwind genug andere Probleme. So oder so, es war dem Dunkelhaarigen gelinde gesagt vollkommen gleichgültig. Man hätte ihm im Nachhinein sogar hoch anrechnen müssen, dass er bis zum Ende zuhörte, ohne eine Mine zu verziehen oder den Gedanken laut auszusprechen, der ihm bald darauf auf der Zunge lag.
Aber es gab Momente in seinem Leben, da verlor Vernunft gegen Ungeduld. Seine Zündschnur war schon immer kurz – kürzer noch, wenn es um seine Schwester ging. Die Konsequenzen, einen Schuss mitten in der Stadt abzufeuern, unmittelbar neben einer aufgebrachten Menschenmenge, waren ihm mit Sicherheit bewusst. Genauso das Risiko, Talin dabei zu treffen und sie eventuell sogar fluchtunfähig zu machen. Aber entweder war ihm das vollkommen gleichgültig – oder es drang gar nicht bis in sein Bewusstsein durch. Zumindest nicht vorher.
Sagen wir, er ließ sich nicht gern vorwerfen, nur eine große Klappe zu haben. Oder vielmehr, dass er seine Drohungen nicht wahr machte. Und die Waffe in seiner Hand sagte genug.
Lucien legte den Finger um den Abzug und drückte ab.
Die linke mochte seine stärkere Seite sein und ganz gewiss führte er den Degen mit ihr deutlich geschickter, doch seine Pistole lag in beiden Händen gleichermaßen sicher. Es gab nur zwei Gründe, weshalb er den Mann ihm gegenüber bewusst nicht traf. Einer davon war die Tatsache, dass er die Waffe einen Sekundenbruchteil vor dem Schuss ein Stück weit nach unten riss. Das Risiko, Talin zu treffen, war ihm dann doch zu groß, um weiter auf den Kopf zu zielen.
Der Schuss knallte ohrenbetäubend laut in der schmalen Gasse. Einen Herzschlag später stoben Ziegelsplitter wie spitze kleine Geschosse aus der Hauswand, als die Bleikugel mit aller Gewalt neben dem ungleichen Paar in die Mauer einschlug. Sie verfehlte Sylas um Haaresbreite, streifte stattdessen nur knapp die Korsage, die Talins Taille umhüllte, bevor sie einschlug. Aber sie verfehlte ihre Wirkung hoffentlich dennoch nicht.
„Es gibt da etwas, das du über meine Schwester und mich wissen solltest: Die einzige, die dafür sorgt, dass Talin nichts passiert – ist Talin selbst... Und ich wiederhole mich nicht gern.“
Es war nicht schwer zu verstehen, was der 21-Jährige mit seinen Worten bezweckte. Das nächste Mal verfehlte er sein Ziel nicht, Prinzipien hin oder her. Und dafür musste er seine Pistole nicht einmal nachladen. Sollte der Fremde auf die Idee kommen, nun anzugreifen, da die Waffe keine Gefahr mehr darstellte, hatte er zum einen noch die Hand an der Klinge und zum anderen konnte er schnell genug reagieren, um sich ein weiteres Mal Shanayas immer noch geladene Pistole zu leihen... Das wurde langsam zu einem ständig wiederkehrender Witz zwischen ihnen. Diesmal würde sie sie sogar zurück bekommen.
„Ich kenne Talins merkwürdige Angewohnheit inzwischen ganz gut, irgendwelche Gestalten mitzubringen, die sie wie Straßenhunde aus einer Pfütze gezogen hat. Du bist vermutlich einer davon...
Aber wenn es stimmt, was du sagst, dann gehe ich davon aus, dass Talin sich bei dir revanchieren wird.“ Er wandte sich umstandslos an seine Schwester. „Wenn du ihn also behalten willst, schlage ich vor, wir verziehen uns für heute von hier... Bevor jemand nachsehen kommt, was los ist.“
Auf dem Brunnenplatz hinter ihnen war es verdächtig still geworden. Lucien beging jedoch nicht den Fehler, den Blick zurück zu wenden, sondern neigte den Kopf nur leicht, um seine nächsten Worte an Shanaya zu richten. Die tiefgrünen Augen lagen dabei unverwandt auf dem Fremden und seiner Schwester.
„Entschuldige, wenn ich dir damit den Spaß verderbe, Shanaya.“