19.04.2019, 21:58
Wie der Herr, so sein Gescherr – sagte man das nicht so? Vielleicht hätte Liam von Anfang an durch den ungewöhnlich gefärbten Federfreund darauf kommen können, dass der alte Kauz nicht unbedingt eine gute Gesellschaft darstellte. Wo auch immer sein gefiederter Freund sein Wortrepertoir her hatte – es sprach beides nicht unbedingt für den grauhaarigen Hutträger. Denn entweder war er schlechter Umgang oder hielt sich hauptsächlich darunter auf. Selbst, wenn er meist Opfer der Beleidigungen geworden war – hätte er viel auf sich gehalten, hätte er doch etwas an seinem Leben geändert, wenn es – laut ihm – so einfach war? Mehr als ein Schulterzucken hatte der Lockenkopf jedenfalls nicht mehr für die Begegnung übrig. Jetzt stand er eher vor der Frage, ob er Ryan folgen und ihn davon abhalten sollte, heute Hexen zu verbrennen oder lieber Kindern die Süßigkeiten stibitzen wollte. Denn leider war Talins Blondschopf längst im Tumult auf dem Brunnenplatz untergegangen. War das eigentlich ein Programmpunkt des Festes gewesen? Erst, als er sich ein weiteres Mal davon vergewisserte, dass er weder Talins Haarpracht noch die eines anderen bekannten Gesichtes erblicken konnte, fiel ihm das Lederbündel am Boden auf. Er hatte sich eigentlich schon halb umgewandt, um dem Menschenaufkommen auf dem Brunnenplatz über die kleineren Gassen zu entgehen, doch jetzt kam er nicht umhin, abermals nach dem eigenartigen Hutträger Ausschau zu halten, dem sein Verlust aufgefallen war. Doch die Menschen strömten an der Gasse vorbei, in der er nur wenige Meter vom Eingang entfernt stand und auf etwas wartete, was nicht zu kommen schien. Kurz dachte er nach, doch außer dem alten Kauz kam niemand in Frage, der dieses Päckchen hier verloren haben könnte – immerhin hatte es zuvor noch nicht dort gelegen. Liam verzog nachdenklich das Gesicht, ehe er näher trat, in die Hocke ging und das Ledermäppchen in die Hände nahm.
Es war gutes Leder, kostbar und fein verarbeitet. Im ersten Moment hatte er eigentlich vorgehabt, es einzustecken und den Tag über eben darauf zu achten, ob ihm der Hutträger oder sein ungezogener Federfreund noch einmal ins Auge fiel, um ihm den Besitz zurückzugeben, aber wenn er genauer darüber nachdachte, wirkte das Lederpäckchen allein von Aussehen her nicht so, als wäre es in den Händen eines Straßenläufers rechtmäßig aufgehoben. Nicht, dass Liam diesem Alten den Diebstahl unterstellen wollte – aber wenn man ehrlich war: Nötig schien er es zu haben, wenn er an den ergaunerten Münzen knabberte, die ihm großzügige Bürger wie altes Brot einem hungernden Schwein vorwarfen. Also lag die Vermutung nahe, dass die vermeintlichen Besitzer dieses Mäppchens ganz woanders danach suchten. Vielleicht würde ihm das Innere ja mehr über die rechtmäßigen Besitzer verraten? Das goldene Siegel ließ vermuten, dass er sie eher nicht beim einfachen Volk finden würde. Ein ironisches Schmunzeln zog sich über die Züge des Lockenschopfes. Na, dann würde der Verlust die ehemaligen Besitzer ja auch nicht ganz so doll stören. Vielleicht hatte er ja gerade ein Stück Land gefunden. Eine schöne, verwunschene Insel irgendwo in der Ersten Welt. Der Gedanke war gar nicht so übel. Vorsichtig machte er sich daran, der gefundenen Lederrolle ihr Geheimnis zu entlocken.