28.03.2019, 17:28
Shanayas Reaktion lockte ein trockenes Lächeln auf seine Lippen. Ihre Worte verlangten das eine, aber ihr Körper strafte sie Lügen. Sie lehnte sich an ihn, drehte sich um, ohne den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern. Keine noch so kleine Geste sprach von Aufhören.
Doch sein Lächeln erreichte seine Augen nicht. In dem tiefen Grün lag ein Ausdruck kühlen Spotts, der verriet, dass sie nicht mehr an ihn heran kam. Der 21-Jährige ließ sie gewähren, hielt Shanaya auch nicht auf, als sie sich streckte und ihre Lippen flüchtig die seinen streiften. Aber der Ausdruck auf seinen Zügen blieb und er erwiderte den Kuss nicht. In diesem Moment interessierte sie ihn nicht mehr. Seine Gedanken richteten sich längst auf ein anderes Ziel und darin war kein Platz für diese kleine Tändelei.
„Ich merke, wie unangenehm dir das ist.“
Mit spöttischer Ironie in der Stimme ließ er Shanaya los. Fast zeitgleich huschte sein Blick zurück zu den Reitern, die sich inzwischen in die Mitte der Menschenmenge gekämpft hatten. Einem Reflex folgend. Einfach, um sich der momentanen Situation zu vergewissern.
Im Nachhinein konnte er sich darüber wohl glücklich schätzen. Denn just in diesem Augenblick entdeckte er den vertrauten blonden Schopf seiner Schwester durch eine Lücke in den Reihen der Umstehenden. Auf der anderen Seite des kleinen Platzes schlüpfte sie zwischen den Menschen hindurch und verschwand in einer nahe gelegenen Gasse.
„Da hinten!“
Die Worte galten seiner schwarzhaarigen Begleiterin, doch er sah nicht einmal in ihre Richtung, achtete nicht darauf, ob sie ihm folgte, als er sich mit verärgert gerunzelter Stirn in Bewegung setzte. Irgendetwas stimmte nicht. Talin war nicht allein in dieser Seitenstraße verschwunden. Jemand folgte ihr.
Es dauerte zu lange, um die Menschenmenge zu umrunden. Eine Zeitspanne, in der der ungeduldige Ärger in Luciens Brust ungehindert vor sich hin brodeln konnte. Dieses Fest hatte ihn von Beginn an gewaltig angenervt und nun das. Vielleicht war er einfach mit dem falschen Fuß aufgestanden. Vielleicht störten ihn die Erinnerungen, die er damit verband. Letzten Endes war der Grund eigentlich egal. Und auch wenn Shanaya es immerhin schaffte, ihm das ein oder andere amüsierte Schmunzeln zu entlocken, hatte er sich längst darauf festgelegt, jetzt schlechte Laune zu haben. Diese Masse an Menschen, die ihm immer wieder den Weg blockierten, die bunten Wimpel, Gelächter und Musik – das alles ging ihm gegen den Strich. Sollte dieser Typ, der Talin gefolgt war, jetzt noch den Fehler begehen und Hand an seine Schwester legen...
Mit diesem Gedanken drängte Lucien sich zwischen zwei miteinander diskutierenden Männern hindurch, die vor einer der Buden am Rand des Platzes standen, und bog in die Gasse dahinter ein.
„Wenn ich dir glaube, dann helfe ich dir deinen Bruder zu suchen aber wenn nicht, dann ...“
Mehr als diesen letzten Satz hatte der Dunkelhaarige nicht gehört und vielleicht war das auch besser so. Das, was er sah, reichte ohnehin vollkommen aus, um schwelenden Ärger in grausame Wut zu verwandeln. Als hätte er es nicht kommen sehen...
Talin und der Fremde standen ein paar Schritte weiter im Schatten der eng stehenden Häuser. Innerhalb weniger Sekundenbruchteile erkannte Lucien den Mann als denjenigen, der den Streit auf dem Marktplatz zum Eskalieren gebracht hatte. Er stand der Blonden unmittelbar gegenüber, drückte sie mit seinem Körper gegen die steinerne Wand und blockierte ihre Flucht mit einem Arm an ihrer Seite.
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten ging der Griff des jungen Captains zu seiner Pistole, richtete sie kurzerhand auf den Kopf des Mann, der es wagte, seine Schwester auf diese Art und Weise zu bedrohen. Gleichzeitig schlossen sich die Finger der Linken um das dunkle Heft seines Dolches, der an seinem Gürtel hing.
Noch ein, zwei Schritte in den Schatten der Gasse hinein, dann blieb Lucien stehen. Weit genug entfernt, um reagieren zu können, sollte der Hüne auf die Idee kommen, ihm die Pistole aus der Hand schlagen zu wollen. Das hatte Kalem ein Mal bei ihm getan. So einen Fehler beging man nie wieder.
„Ihr könnt euch die Mühe sparen. Ich bin schon hier.“
Die Ruhe in seiner Stimme täuschte über den Zorn in seiner Brust kaum hinweg. Anders als damals bei Enrique schoss er jetzt aus nur einem einzigen Grund nicht sofort: Weil er nicht völlig ausschließen konnte, Talin zu treffen. Der Bolzen musste die unförmige Bleikugel im Lauf nur ungünstig treffen und sie würde ein Stück zu weit zur Seite driften.
„Und jetzt schlage ich vor, du trittst zwei oder drei Schritte zurück. Weg von ihr. Ganz langsam.“
Aber Ungenauigkeit hin oder her. Wenn die Situation es verlangte, ging er das Risiko auch ein.