05.03.2019, 20:19
Zugegeben, Liam gab sich nicht wirklich große Mühe, irgendetwas an diesem Mann zu durchschauen oder besser einschätzen zu können. Für ihn gabs hauptsächlich die Gegenwart und dementsprechend war jeder selbst für sein Schicksal verantwortlich – nichts, worüber er zu urteilen hatte. Ganz egal, ob das nun Ryan war, der mit Vorliebe den Leuten ihr Hab und Gut aus der Tasche zog, oder Yaris, der schweigend dem Ruf eines Massenmörders gerecht wurde. Wenn man es genau nahm, spielte Liam nun ja sogar mit ihm in einer Liga, selbst wenn man das dem jungen Lockenkopf nicht ansah, denn – bei aller Ehre – er sah ganz sicher nicht nach dem Typ Mensch aus, der in der Lage dazu war, irgendjemandem das Leben zu nehmen, wenn es nicht gerade nötig war, um sein eigenes zu retten. Das gutgelaunte Schmunzeln auf seinen Zügen brach für einen Sekundenbruchteil, als ihm die Gleichstellung mit ihrem mitreisenden Massenmörder bewusst wurde, doch mit einer leichten Bewegung, mit der er sich die Haare aus der Stirn strich, verebbte der Missmut wieder. Es war einfacher, nicht über andere zu urteilen als über sich selbst – für den Jungspund jedenfalls, der jeden für sein eigenes Leben verantwortlich machte und so auf die Menschen zuging, wie sie ihm begegneten.
Die Antwort des Älteren kam auf dem Fuß und klang beinahe ein wenig abschätzig, dass er überhaupt gewagt hatte, solch eine Frage zu stellen. Liam wog den Kopf voll Zustimmung bei seiner Vermutung, schwieg aber vorerst. Der Hutträger hätte vermutlich mit Einfachheit sein Großvater sein können, dementsprechend naheliegend war auch seine Vermutung. Problem war nur, dass das noch lange nichts über seine Fähigkeiten aussagte. Er hätte ihm ja wirklich, wirklich gerne geholfen, aber ihn für einen Preis verkaufen, den er nicht einlösen konnte? Nah. Dazu war er dann doch eher die ehrliche Socke.
„Da magst du Recht haben. Schon mal über ‘ne Taverne nachgedacht. Die sind doch um jeden Smutje froh, den sie greifen können.“
Es war mehr Zufall, dass Liam den Gedanken nicht laut ausgesprochen hatte, der ihm gekommen war. Denn entweder war der alte Kauz sehr schlecht darin, Arbeit zu finden oder einfach nur sehr schlecht in seiner Arbeit. Ganz gleich, wie lange er in seinem Leben schon Smutje war – wenn es scheiße schmeckte, schmeckte es eben scheiße. Ein Hauch von Mitleid erfüllte ihn, als ihm in der Geschichte in seinem Kopf bewusst wurde, dass dem armen Kerl vielleicht einfach noch niemand gesagt hatte, dass man sein Essen den Schweinen vorwerfen konnte. Dementsprechend motiviert versuchte der Lockenkopf, sich den schmutzigen Mann als Schiffsjunge vorzustellen, aber ihnen war mit Sicherheit beiden bewusst, dass er dafür vermutlich ein kleines bisschen zu alt war. Zu alt, um mit der Kraft und dem Durchhaltevermögen der Jungspunde mitzuhalten, selbst wenn er – das schrieb Liam ihm durchaus zu – durchaus anpacken konnte. Hilfsbereit, wie er aber war, überlegte er dennoch weiter, bis eine weitere Stimme ihn aus den Gedanken riss. Liam warf dem Fremden einen freundlichen Blick zu und hielt es durchaus für möglich, dass der Alte das Gespräch hiermit beendete und seinem vermeintlichen alten Freund Gesellschaft leistete. Nichts, was den Lockenkopf groß gestört hätte, immerhin sah er sich selbst meist eher als Beiwerk in einem Gespräch statt eines Hauptakteurs. Offensichtlich aber sah es dem Hutträger nicht ganz so ähnlich, seinen Gesprächspartner einfach stehen zu lassen. Auch gut. Einen Ticken zu spät bemerkte Liam, dass sich der Alte wieder ihm zugewandt hatte und horchte auf. Dementsprechend schwer fiel es ihm auch, den Zusammenhang zu erschließen, doch zum Glück wurde der alte Mann recht konkret. Liam lachte und winkte ab.
„Oh, danke, aber kein Bedarf. Ich schätz‘, dass ich’s auch heute nicht vor Sonnenaufgang zurück auf’s Schiff schaff‘.“ Die darauf folgende Reaktion verstand er dafür aber nicht. Irritiert blinzelte er den Alten an, dem offensichtlich irgendetwas bewusst geworden war, was dem Lockenkopf offenbar entgangen war. „Huw?“ Vermutlich war sein fragender Ausdruck zu leise, als dass jemand davon Wind bekommen hätte. „Naja, jedenfalls vermut‘ ich, dass du da am meisten Erfolg haben wirst, ‘ne passende Crew für dich zu finden. Und bis dahin -“ Er zuckte kurz mit den Schultern und nickte dann in die Richtung des Instruments des alten Seemanns. „- versuch’s doch mit Musik. Scheint mit auf dem Fest weitaus lukrativer als die Straße zu küssen. Macht jedenfalls mehr Spaß in meinen Augen.“
Da war es wieder, das freundliche, gutgelaunte Lächeln, ehe er die Hand zum Gruß hob und sich nach dem Gesicht Talins umsah, welches eben noch aus der Masse gestochen hatte.