06.02.2019, 22:26
„Ich habe nichts getan, womit du nicht einverstanden warst.“, erinnerte er sie mit gelassenem Schalk in den tiefgrünen Augen und einem sanften Lachen in der Stimme. Aber Shanaya musste er davon schließlich nicht überzeugen. Sie war ja nicht diejenige, die sich für zu jung hielt. Und auch vor sonst niemandem würde Lucien sich je dafür rechtfertigen, also verzichtete er darauf und ließ das Thema fallen.
Auch die zugegeben verlockende Idee, die Schwarzhaarige nackt durch die Straßen tanzen zu sehen, verfolgte er nicht weiter. Obwohl ihm zumindest im ersten Moment ein entsprechend amüsierter Kommentar dazu auf der Zunge lag. Stattdessen hob er seinen Tonkrug an die Lippen, trank langsam, fast bedächtig einen weiteren Schluck und warf Shanaya dabei einen langen, nachdenklichen Blick zu. Ein Blick, der seine Neugier verriet. Der verriet, dass ihm noch mehr Fragen auf der Zunge lagen, die eigentlich nur eine Gelegenheit brauchten, um gestellt zu werden. Doch wieder blieb er still, denn ihre Worte führten seine Gedanken auf einen anderen Pfad.
„Wohl wahr.“, kam es leise über seine Lippen, während die grünen Augen wieder zu dem Gedränge vor ihnen wanderten und der Grog ein weiteres Mal seine Kehle hinab ran. Es stimmte: Es gab genug Dinge, die sie voneinander nicht wussten – und das war ihm nur recht. Wirklich. Wenn die Verführung einer Siebzehnjährigen nur das Schlimmste wäre, was er sich je zu Schulden hatte kommen lassen... Doch da gab es noch ganz anderes.
Einer der bulligen Leibwächter hatte sich inzwischen den Störenfried gepackt und schien drauf und dran, ihm eine Abreibung zu verpassen. Lucien stellte sich bereits darauf ein, gleich ein beachtenswertes Schauspiel genießen zu dürfen, als Shanaya seinen Blick noch einmal auf sich lenkte. Dieses Mal mehr als überrascht und es dauerte ein, zwei Herzschläge, bis er ihre Worte richtig begriff. Sie wollte die Show weiter anheizen? Ein Bekannter?
Diese wenigen Sekunden nutzte sie, um sich ins Getümmel zu werfen und den Dunkelhaarigen am Rand der Menge zurück zu lassen. Er senkte den noch halb erhobenen Krug mit Grog, ließ die Schwarzhaarige, die sich zwischen die pöbelnden Menschen schob, dabei nicht aus den Augen. Nur einmal kurz verschwand sie hinter einigen Köpfen, um dann kurz darauf am Rande des freien Ovals wieder aufzutauchen und die ganze Szene mit ein paar Worten weiter voran zu treiben. Lucien verstand nicht alles von dem, was sie sagte – aber genug, um zu merken, dass sie nicht einfach irgendwas in den Ring warf. Dafür klang sie zu... informiert.
Das beantwortete die Fragen in seinem Kopf allerdings auch nicht. Eher im Gegenteil. Und die Gelegenheit, sie ihr zu stellen, war verstrichen. Zum einen war Shanaya dafür zu weit entfernt, zum anderen lenkte etwas ganz anderes seine Aufmerksamkeit in diesem Moment von ihr ab.
Die Schwarzhaarige stand nicht allzu weit von Tendrik, seinen bulligen Leibwächtern und dem Mann entfernt, der sich so dreist eingemischt hatte. Nah genug, damit Lucien den vertrauten blonden Schopf in der Menge aufblitzen sah, bevor einer von Tendriks Leuten sie am Arm packte und zurück riss. Er hatte nicht mitbekommen, wie seine Schwester ihren Platz am Tisch des Wahrsagers verließ. Hatte nicht bemerkt, dass sie sich ins Getümmel stürzte und doch würde er dieses Blond jederzeit und überall erkennen.
Ein Ruck ging durch seinen Körper. Eine ganz impulsive Bewegung hin zu ihr, um sie aus der Gefahrenzone zu holen. Sie vor allem Unheil zu bewahren. Ein tiefer, drängender Instinkt, der alles andere überlagerte – bis sein Verstand sich über diesen Reflex hinweg setzte und ihn daran erinnerte, dass Talin keine zehn Jahre alt mehr war. Dass sie ihre Kämpfe selbst austragen konnte.
Und der halbe Schritt nach vorn – eigentlich nicht einmal das – sorgte für ganz andere Ablenkung, sodass er sich im Endeffekt weder auf Shanaya, noch auf seine Schwester konzentrieren konnte. Denn im gleichen Moment, in dem der Dunkelhaarige sich nach vorn bewegte, war die Menge wie ein einziges Wesen einen halben Schritt zurück geprallt – ausgelöst durch irgendein Ausweichen viel weiter im Zentrum. Ein junger Mann Ende zwanzig stieß rücklings gegen Luciens Schulter und prellte ihm den Krug samt Grog aus der Hand. Das Gefäß zerschellte am Boden und der heiße Inhalt ergoss sich über Schienbein und Schuhe des Demonstranten, der ohnehin recht aufgebracht wirkte. „Kannst du nicht aufpassen, du Vollidiot.“
Noch während er sprach, wandte sich der Mann gänzlich dem 21-Jährigen zu und setzte mit geballter Faust zu einer Drohgebärde an. Die ihm jedoch verging, als Lucien die Pistole aus dem Gürtel zog, die er auf seinem kleinen Streifzug mit Shanaya hatte mitgehen lassen, und sie ohne genauer hinzusehen auf seine Brust richtete. Er stand ohnehin so nahe vor ihm, dass er ihn gar nicht verfehlen konnte.
„Geh mir nicht auf die Nerven.“, knurrte der junge Captain beinahe beherrscht, während die tiefgrünen Augen zurück zu dem Getümmel huschten und an jenen Stellen, an denen er sie zuletzt gesehen hatte, nach Shanayas dunklem oder Talins hellem Haar Ausschau hielt.