02.02.2019, 16:03
Poesievorlesung… wäre diesem Chaos auf jeden Fall vorzuziehen. Ein gepflegtes Fläschchen Wein und gute Konversation hinterher… vielleicht ein Spaziergang… KONZENTRIER DICH! Fast wäre er mit einem Handkarren zusammengestoßen, der vor ihm aus einer Gasse bog, und kam nur im letzten Moment schlitternd zum Stehen, schlug einen Haken und eilte unter dem Fluchen des Bauern weiter – nicht mal Zeit für eine Entschuldigung, denn wenn er das Brüllen dort hinten richtig deutete, hatte Fred angefangen, seine langen Beine zu benutzen und holte stetig auf.
„Ich – hab nur – längere Beine –“ Er keuchte inzwischen und spürte deutlich, wie ihm das Hemd unter der Uniformjacke am Oberkörper klebte. Früher war ich wirklich besser im Weglaufen. Was ist passiert? Ach ja. Langweiliger geworden und den ganzen Tag über Büchern verbracht. Kinder sind halt doch schlauer als Erwachsene.
Rhys holte hinter ihm auf, und schubste Elian unvermittelt in eine kleine Seitengasse, als sie die Laterne schon im Blick hatten. Elian taumelte gegen die nächste Hauswand, aber er fing sich und rannte weiter, nur einen halben Schritt vor Rhys, der ihm unterdessen eine Route zurief. Der Arzt befolgte die Anweisungen, in der Eile im blinden Vertrauen, sprang von Kiste zu Kiste, drückte sich von der Mauer ab und schwang seine Beine hinüber, und landete auf der anderen Seite in einer Gasse, die ebenfalls direkt an das Bordell angrenzte. Huh, da führt also dieser Weg herum… So oft er hier war, so selten hatte er sich tatsächlich das umliegende Gässchengewirr angesehen. Es war einfach nie wichtig gewesen, und die Gegend hier war sicherlich keine, in der er übermäßig viel Zeit verbringen wollte.
„Hoffen wir dass Freds geistige Stadtkarte genauso mangelhaft ist wie meine…“ Rhys übernahm wieder die Führung und brachte Elian durch eine Tür, die er wirklich noch nie benutzt hatte, in die Küche. Hier war er bisher nur einmal gewesen, weil er ein besonderes Messer gebraucht hatte – und hatte sich damals prompt einen Klaps von dem alten Besen eingefangen, der sie jetzt aus großen Augen anstarrte, dann aber überraschend ruhig blieb. „Uhm… wir brauchen nur einen Moment, um Atem zu holen…“ Elian setzte zu einer Erklärung an, an der aber offenbar kein Interesse bestand. Er erinnerte sich an den großen hölzernen Kochlöffel, den die Alte irgendwo hier aufbewahrte, und sah ihr lieber schweigend dabei zu, wie sie Tee aufsetzte.
„Sind wir sicher, dass Fred uns nicht hat abbiegen sehen?“ Er zumindest hatte in der Panik nicht zurückgeschaut. Was, wenn der Andere hier jeden Moment reinstürmen würde? „Vielleicht sollten wir uns irgendwo anders verkriechen… tiefer im Gebäude.“
Sein Vorschlag verklang, wie es schien, ungehört. Stattdessen landeten sie irgendwie am Küchentisch, jeder eine Tasse Tee in den Händen, und Perl – wie Rhys sie genannt hatte – verzog sich.
„Mein Leben war gestern definitiv langweiliger.“ Elian suchte mit den Augen nach einer Zuckerdose, wagte es dann, sich zwei Würfel zu stehlen und ließ sie in seine Tasse fallen, oder Hoffnung, dass sie sich aufgelöst haben würden, ehe Perl wiederkam und ihre Gastfreundschaft bereute.
„Du willst nicht darüber reden, also werde ich nicht fragen, aber… dir ist klar, dass wir ihm nicht auf ewig wegrennen können. Vor allem nicht, wenn ihr beide weiterhin auf demselben Schiff dienen müsst.“