15.01.2019, 21:22
Der Blick, mit dem die Schwarzhaarige den Apfelsaft bedachte, war bares Gold wert. Lucien unterdrückte ein Grinsen und spürte – beinahe schon widerwillig – wie seine Stimmung sich ein kleines Bisschen aufhellte. Ja. Wenn er wollte, konnte er sich vehement in negative Gefühle festbeißen. Sie nach außen tragen wie einen Schild um sich herum. Doch die Gesellschaft machte ihm das verdammt schwer – wieder einmal.
„Du weißt doch, Shanaya: Dafür bist du noch nicht alt genug.“
Also bekam sie den Kinderpunsch. Vollkommen verständlich. Nun, zumindest tat er sein bestes, dabei möglichst ernst und belehrend zu klingen. Doch sie beide wussten, worauf er anspielte. Für den ein oder anderen auf der Sphinx schienen sowohl Talin als auch Shanaya nicht vielmehr als Kinder zu sein. Und sie alle begriffen nur langsam, wie falsch sie damit lagen.
Der Dunkelhaarige selbst war weit davon entfernt, so zu denken. Seine Schwester hatte spätestens mit 14 aufgehört, Kind zu sein und wenn er die Schwarzhaarige für zu jung befunden hätte... naja. Dann hätte man ihn schon für seine Gedanken längst steinigen müssen – ganz zu Schweigen von den Blicken, mit denen er sie angesehen und den Berührungen, mit denen er ihren Körper übersät hatte. In dem Sinne... war der kleine Seitenhieb viel weniger ein Necken als die Einladung zu gemeinsamen Spotten. Und der freundschaftlich amüsierte Seitenblick, den er ihr zuwarf, bestärkte diesen Eindruck nur noch.
Mit einem lauten „klonk“ knallte der Schankwirt die beiden Krüge auf seine Theke, sodass sowohl der Saft als auch der Grog großzügig über die Ränder ihrer Gefäße schwappten. Lucien sah nicht einmal hin, als er ein paar Münzen aus dem Beutel an seinem Gürtel zog, sie mit der flachen Hand vor dem Rotbärtigen auf die Anrichte schlug und dann nach dem Krug griff.
Noch während er sich abwandte, stieß er ein leises Schnauben aus.
„Ein bisschen vertrage ich schon noch. Und ich wette, um dich abzufüllen, müssten wir nur ein, zwei Gläschen gegeneinander trinken.“
Dieses Mal lag mehr Herausforderung in seiner Stimme. Und, zugegeben, ein Hauch Vorfreude über diesen Gedanken. Wer weiß, vielleicht ergab sich die Tage die Gelegenheit, die Schwarzhaarige unter den Tisch zu trinken.
Lucien hob den Krug an die Lippen, trank einen kräftigen Schluck und spürte ein weiteres Mal dem heißen Alkohol nach, der sich in seinem Magen zu einem wärmenden Ball zusammenzog und driftete für einen Moment mit den Gedanken ab. Zum Glück, musste man wohl sagen, vertrug er noch ein bisschen mehr. Selbst jetzt, mit zu wenig Fleisch auf den Rippen. Er wusste, früher oder später würde es nötig werden. Früher oder später suchte er den Alkohol, um seinen Kopf zu betäuben. Sobald er die Nächte nicht mehr ertrug.
Shanayas Stimme riss den 21-Jährigen schließlich wieder in die Gegenwart zurück. Er blinzelte kurz, warf ihr einen Blick zu und runzelte im nächsten Moment die Stirn.
„Dein Bruder?“ Man hörte seiner Stimme an, dass er mit dieser Antwort nicht gerechnet hatte. Und das lag nur zum Teil daran, dass ihm die Information „Bruder“ vollkommen neu war. Zumindest dauerte es einen Moment, in dem er sich ihre Worte durch den Kopf gehen ließ, ehe er wieder antwortete. „Ich wusste nicht, dass du Geschwister hast.“
Sie hatten derweil ein paar Schritte zurück gelegt, näherten sich einem kleinen Menschenauflauf, der sich auf der Straße gebildet hatte, und Lucien löste nur deshalb den Blick von seiner Begleiterin, weil er eher beiläufig einen Weg an ihnen vorbei suchte. Doch als das Gespräch weiter vorn von einer Sekunde zur anderen in etwas anderes, deutlich feindseligeres umschlug, blieb der Dunkelhaarige stehen und wurde aufmerksam.
Sie standen ganz am Rand der kleinen Ansammlung, die bereits ein Oval um die beiden Kontrahenten gebildet hatte. Weit genug entfernt, um aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in die Sache hinein gezogen zu werden – und nah genug für einen beinahe ungehinderten Blick au die beiden Männer, die sich gegenseitig mit Blicken massakrierten. Also, zumindest Lucien konnte sie sehen, weil er groß genug war, um über die Köpfe der Menge hinweg zu sehen. Bei Shanaya war er sich dessen nicht so sicher.
„Hmm...“, kommentierte er mit einem neugierig-amüsierten Leuchten in den Augen und gönnte sich dabei einen weiteren Schluck von seinem Grog. „Sieht fast so als, als kriegen wir gleich noch ein bisschen geboten.“
Zwischen die beiden Kontrahenten – wer auch immer – trat ein dritter Mann. Der unterschied sich in seiner ganzen Aufmachung so vollkommen von den anderen beiden, dass er unmöglich zu ihnen gehören konnte. Also irgendein Fremder, der sich offenbar so sehr langweilte, dass er sich mitten in den Ring warf, um den Streit entweder zum Eskalieren zu bringen – oder sich eine Abreibung einzuhandeln.