14.01.2019, 20:17
Er versuchte, sich die Erleichterung nicht anmerken zu lassen, während er das Kind wieder auf seine eigenen beiden Füße stellte. Leichter als gedacht, aber am Ende trotzdem viel zu schwer… vermutlich ist er sowieso ein besserer Läufer als ich.
Scortias' besorgte Frage deckte sich mit seinen eigenen Befürchtungen. Verwundet würde er nicht weit kommen und, schlimmer noch, alle anderen ebenfalls in Gefahr bringen, wenn sie auf ihn warten mussten. Unwillkürlich zuckte seine Hand in Richtung der Stelle, auf die er den Schlag gespürt hatte, aber dann besann er sich eines Besseren. Noch tut es nicht weh. Besser nicht zu viel darüber nachdenken. Getroffen oder nicht, ich muss weiter rennen können.
Der Fremde trat neben sie und sagte genau dasselbe, fast schon brutal direkt. Elian nickte ihm zu. Das hier war sicherlich nicht der richtige Zeitpunkt für Samthandschuhe, und ihnen ging allen - zu Recht! - der Allerwerteste auf Grundeis. Aber dann huschten Aspens Augen auf Elians Hüfte, ein ganzes Stück unterhalb der Stelle, die immer noch monoton vor sich hin klopfte, und der junge Arzt sah das kleine Rinnsal, das sich unter seiner Jacke ausgebreitet haben und – ja, hallo, da war die warme Nässe auf der Haut – sein Hemd getränkt haben musste.
„Es ist nichts.“
Er war selbst geschockt, wie ruhig und selbstsicher die Lüge über seine Lippen kam, in demselben Tonfall, den er sich sonst für schwer verletzte oder hysterische Patienten aufsparte.
„Ein Kratzer, nicht mehr.“
Ganz egal, ob es stimmte oder nicht, er würde weiter fliehen müssen. Warum also mehr Drama um ein bisschen flüssiges Rot machen, als unumgänglich nötig? Sie hatten nur wenig Zeit, bevor die Erregung der Jagd unweigerlich abklang und der plötzliche Schmerz ihn lähmte. Schon jetzt spürte er den dumpfen Druck, der manche Bewegungen steifer machte und das Atmen erschwerte, und den Drang, an die Stelle zu fassen und das störende Objekt loszuwerden, das sich in seinen Muskel geschoben hatte. Sein Kopf fühlte sich merkwürdig leicht an, aber gleichzeitig waren seine Gedanken gestochen scharf und unnatürlich nüchtern, bedachte man, welche makaberen Optionen er gegeneinander abwog, während er im Kopf zur Selbstdiagnose eine anatomische Karte des Störgefühls in seinem Rücken anfertigte.
Kugel sitzt vermutlich zwischen TH12 und L1, direkt neben der untersten Rippe, aber mehrere Fingerbreit lateral sinister der Wirbelsäule. Ein Treffer direkt in die Wirbelsäule hätte ihn sofort gelähmt. Schneller als er es von sich selbst kannte, ging er durch, was sich in der Zone zwischen dem untersten Brust- und dem obersten Lendenwirbel befand. Niere? Möglich. Wäre überlebbar, wenngleich er einen fähigen Chirurgen brauchen würde. Leber? Nun, in diesem Fall hätte er kein Problem mehr, jedenfalls nicht für lange. Die Leber war vielleicht nicht die Milz, aber nach dieser eines der am besten durchbluteten Organe. Niemand konnte Verletzungen in diesen Strukturen nähen oder heilen, und der Blutverlust alleine würde Elian in den nächsten Minuten das Bewusstsein rauben, ohne dass er nochmal aufwachen würde. Lunge? Er schmeckte noch immer Metall im Mund und für einen Moment erfasste ihn die Panik, bevor er sich erstens seinen Unterrichtsstoff und zweitens die schmerzende Stelle an seiner Zunge klar machte und diese Option kategorisch vom Tisch schob. Die Stelle an seinem Rücken begann, zu klopfen und warm zu werden, jetzt, da er ihr so viel Aufmerksamkeit schenkte und sein Atem langsamer wurde. Genug. Ich kann jetzt nichts daran ändern, und so unangenehm die verdammte Kugel sein mag, sie ist gerade mein bester Freund. Wer weiß, welche Gefäße sie gerade abdrückt. Besser keine zu raschen Bewegungen…
… während wir um unser Überleben fliehen. An dieser Stelle brachte sein innerer Monolog ihn selbst zum Schmunzeln, und er konzentrierte sich endlich auch auf den Plan, den seine Gefährten während seiner Selbstdiagnose gekonnt ausgeheckt hatten. Schon rollte Aspens erstes Fass durch die Gasse, die übrigen folgten ihm schnell. Elian erwog kurz, ebenfalls seine Jacke zu opfern, entschloss sich dann aber dagegen und tastete nur einmal nach seinem bedeckten Rücken, um einige „zufällige“ Blutsspuren am oberen Rand eines Fasses anzubringen, ehe er es den anderen hinterherschickte.
„Hoffen wir, dass sie genau das richtige Maß an Intelligenz und Dummheit haben, um auf unseren vermeintlichen Plan zu kommen, ohne die Finte zu durchschauen.“
Ihm war leicht schwummerig, von Wärme und Anstrengung, aber er wollte es sich auf keinen Fall anmerken lassen und ballte seine Fäuste so fest, dass sich die Fingernägel in seine Handballen eingruben und ihn hoffentlich wach halten würden, während er zur nächsten Kreuzung weiter lief, vorsichtig um die Ecken lugte und dann den anderen winkte.
„Schaut nach reiner Luft aus. Welche Richtung jetzt?“
(Mit Scortias, Farley und Aspen | Irgendwo im Gassengewirr)