09.12.2018, 15:45
Elian spielte und spielte, spielte sich alle Gefühle von der Seele. Er musizierte mitunter auch an Bord seines Schiffes, aber es war schwer für ihn, im Beisein von Matrosen, Offizierskollegen und Vorgesetzten alle Steifheit zu vergessen und sich ganz seiner Musik hinzugeben. Hier jedoch fühlte er sich unbeobachtet, der Moment gehörte nur ihm, seinen Tagträumen und seiner Violine.
Er stellte sich vor, wie er Rhys wiedersehen würde. Viele der Gesichter von Raízun waren über die Jahre in seiner Erinnerung verblasst, doch ganz gleich wie oft er von seinem besten Freund getrennt wurde, ganz gleich wie viel Zeit verstrich... diese Züge blieben bei ihm. In seinem Geist zeichnete er die wilden Locken, das unbeschwerte Lächeln, diese Augen, die viel zu alt für das restliche Gesicht waren und deren Blick in ihm einen wahren Glückssturm auslöste, wann immer sie ihm lächelnd entgegen leuchteten. Er erinnerte sich an den letzten Abend, den sie zusammen verbracht hatten, an die Taverne, in der sie mit einigen Freunden gesessen hatten. An die Gespräche, aber vor allem an die Musik. Einige der Offiziere hatten getanzt, und irgendwann hatten Rhys und er sich zur Musikantentruppe gesellt und mit ihnen bis ins Morgengrauen aufgespielt. Eine Melodie jagte die nächste, Paare wirbelten durch den Saal, und Rhys und er geigten um die Wette bis sie sich in den immer hektischer werdenden Läufen schier die Finger verknoteten und lachend abbrechen mussten.
Der Bogen glitt über die Saiten, die Finger seiner linken Hand griffen schneller und immer schneller, flogen nur so über das Griffbrett und verharrten dann wieder für ein gefühlvolles, aber schnelles Vibrato, wie das Schlagen eines Vögelchens, ehe er aus seiner Improvisation heraus zurück in den Refrain des Stückes fand.
Elian spielte, die Augen geschlossen, selbstvergessen vor sich hin. Was um ihn her geschah, nahm er nicht mehr wahr - bis ein Klatschen ihn unweigerlich in die Realität zurück holte. Für einen Moment, eine winzige Pause nur, stockte das Lied, dann griff er es weiter auf und lächelte für das Mädchen, das sich ihm genähert hatte. Sie klatschte und er spielte. Er kam an das Ende des schwungvollen Stücks, aber seine Zuhörerin wirkte nicht so, als würde sie allzu schnell davon laufen. Also leitete er in ein neues Stück über, das sie vermutlich kennen würde, ein Lied, wie es die Fischer beim Netze flicken manchmal sangen. Es war langsamer, beinahe ein wenig traurig, erinnerte ihn ein wenig an seine Schwester auf Raízun, oder vielmehr daran, dass er keine Ahnung hatte, wie sie heute wohl aussah oder ob sie glücklich war. Die fremde Goldhaarige schien ein ähnliches Alter zu haben. Ob Carlis Haare wohl auch so schimmerten, wie greifbar gemachtes Sonnenlicht?
All my life I've sailed upon the ocean,
Every day I pray to reach a shore
Under skies as wide as the horizon,
I want more
All the time I've spent in aimless drifting
Every night as restless as the sea
Under stars that chart a journey homeward,
Not for me
And once more our ship is windward bound
With these feet that travel, never touching the ground,
I will stand in silence on the bow
No witness to my vow to find a way somehow
To...
... make my father proud. Die letzte Zeile des Liedes fiel ihm erst ein, als er die entsprechenden Töne spielte. Er ließ die letzten Takte ausklingen, und nahm den Bogen für einen Augenblick von den Saiten.
"Was als nächstes?" fragte er sein einziges Publikum, hauptsächlich um sich selbst von dem unerwünschten Gedanken an seinen Vater abzulenken. Der Tag war zu schön, um sich in finsteren Erinnerungen zu vergraben.