05.12.2018, 00:19
Du weißt ja gar nicht, wie recht du hast, ging ihr durch den Kopf, als er über die schwere Zeit Luciens sprach. Man konnte es ihrem Bruder immer noch ansehen, was er durchgemacht hatte, obwohl schon fast ein Monat seit seiner Befreiung vergangen war. Aber darüber würde sie sicher nicht mit einem Fremden reden. Jemand völlig Unbekannten gegenüber zu erwähnen, wer für den Überfall auf die Morgenwind verantwortlich war, wäre selten dämlich. Stattdessen wollte die Blonde über andere Dinge sprechen: Ihre Zukunft, den Mann ihr gegenüber oder...naja...das Wetter. Zum Glück erübrigte sich dieses peinliche Gespräch, weil sie ihn überrumpelt zu haben schien.
Wie überrascht er über ihre Worte war, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Talin konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen, versteckte es aber hinter einer ihrer Hände, als sie die Verschränkung vor ihren Brüsten wieder löste. Ihre Zweifel an der Kunst des Wahrsagens, schienen ihn sofort dazu zu zwingen, sich zu verteidigen. Sie fand es fast ein wenig niedlich. Und sehr ehrenhaft, dass er ihr die Münze sofort zurückgeben wollte. Talins Blick heftete sich kurz auf den Achter, bevor sie ihn langsam wieder hob und Thaddeus musterte. Langsam beugte sie sich vor – ihn immer noch fest im Blick – legte sie zwei Finger auf die Münze und schob sie wieder in seine Richtung.
„ Ich stelle dich nicht unter Beobachtung, weil ich so furchtbar an dir zweifle. Es ist eher so, dass ich dich sehr interessant finde.“
Während sie sich zurückzog, nahm sie eine der Karten, die er vor ihr ausgebreitete hatte in die Hände und betrachtete sie genauer. Auch hier waren Münzen abgebildet, doch statt der sieben stand eine sechs darauf. In der Mitte stand ein Mann mit einer Waage, vor dem zwei Menschen knieten. Schwarz und weiß, eine Graustufe dazwischen finden, um den Menschen die Zukunft vorher zu sagen, die sie hören wollen. Wenn er das so erklärte, dann wuchs ihre Faszination nur noch mehr, denn ehrlich, sie hätte nie die Geduld dafür, sich jedes Mal Gedanken darüber zu machen, was für einen bestimmten Menschen zu treffen würde. Und auch, wenn er es wahrscheinlich nicht mit Absicht getan hatte, so stimmte die Karte, die er ihr gelegt hatte, in gewisser Hinsicht schon. Jemandem die Zeit geben, die er brauchte. Eindeutig etwas, was sie tun musste, ob sie nun wollte oder nicht. Aber so lange dabei ein Fortschritt zu erkennen war, würde sie die Geduld auf jeden Fall aufbringen.
Bei seiner Frage sah Talin schließlich überrascht über den Rand der Karte, die sie noch in der Hand hielt, zu ihm hin.
„Ja, natürlich“, meinte sie vollkommen verwundert, „wie ich schon sagte, finde ich deinen Beruf sehr faszinierend. Wie mein zweifelnder Bruder könnte ich es einfach als Hokuspokus abtun. Aber so wie du es mir erklärt hast, bin ich neugierig, was du mir noch für Karten legst und wie du sie interpretieren würdest.“ Sie drehte die Karte mit zwei Fingern, sodass der blonde Mann das Bild der sechs Münzen sehen konnte und hielt sie ihm dann mit einem Lächeln hin. „Außerdem bin ich doch die blonde Frau, die dir den Rest gibt. Positiv gesehen, werde ich also dein Leben verändern. Wieso fang ich nicht einfach gleich damit an?“
[Brunnenplatz | Thaddeus]