27.11.2018, 18:58
Wunderte es ihn, dass Ryan dieses Mädchen offenbar zu kennen schien? – Nein, warum auch, denn irgendwie war die Welt ja doch irgendwie ein Dorf. Was viel interessanter war, war die Tatsache, dass der Dieb an seiner Seite recht erfreut über das Wiedersehen schien. Liams Stirn legte sich kurz fragend in Falten, während sein Blick wieder in die Richtung der Hexe glitt. Die Stimme seines Kameraden nämlich passte nicht dazu, einen alten Bekannten oder Freund wiederzutreffen. Es klang mehr nach alter zu begleichender Rechnung und – ganz ehrlich, das passte auch weitaus besser zu dem Ryan, den er bisher kennengelernt hatte, als irgendwelche innigen Freundschaften mit In-den-Arm-nehmen und Schulterklopfen. Alte Rechnung also, das bekam der Lockenkopf auch gleich darauf bestätigt. Eine derartige alte Rechnung hatte er allerdings nicht vermutet. Etwas überrascht, aber keineswegs hämisch, auch wenn er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte, musterte er Ryan aus den Augenwinkeln heraus. Ernsthaft? Der ach so große, erfahrene Dieb hatte sich von einem Mädchen bestehlen lassen, dabei kannte er doch jeden noch so raffinierten Trick? So wendete sich das Blatt und damit auch das Bild, welches Ryan stets von sich zu malen versuchte. Aber Sorge war unbegründet – Liam würde es niemandem verraten. Und eigentlich kümmerte es ihn selbst auch nur recht wenig. Da hatte der Meisterdieb noch einmal Glück gehabt.
„Du hast dich von einer Hexe bestehlen lassen? Wolltest du einen Liebestrank kaufen oder was?“
Ja, Liam gab Ryan nochmal die Chance, klar zu stellen, dass es kein reiner, schnöder Taschendiebstahl gewesen war. Doch trotz des kleinen, lieb gemeinten Seitenhiebs in die Richtung seines Komplizen, lag sein Augenmerk auf dem Fräulein in ihrer Mitte. Der Ausdruck ‚Hexe‘ übrigens war ebenfalls nicht abfällig ausgewählt worden – In der Welt des Lockenkopfs war Platz für Mythen und Legenden und rote Haare, Ratte, langstelzig, Frau – wer passte besser ins Klischee als sie? Eine Zustimmung zu Ryans Drohung ihr gegenüber bedurfte es nicht. Auch darüber, dass Ryan und er selbst vermutlich unterschiedliche Ansichten von ‚das Geld wiederbeschaffen‘ hatten, machte sich Liam erstmal keine Gedanken. In seiner Vorstellung ging es schon nicht so weit, dass sie ihren gestrigen Fehlgriff mit ihrem Leben bezahlen würde – oder? Jedenfalls meldete sie sich nun zu Wort. Der Lockenkopf war bereit ihr zuzuhören, selbst wenn er – ihrem bisherigen Auftreten nach zu urteilen – eher wenige brauchbare Argumente erwartete. Er kam nicht umhin, an Shanaya denken zu müssen. Ganz gleich ob man etwas sinnvolles zu sagen hatte, Hauptsache man redete. Etwas, was Diskutieren ohnehin unnötig machte.
„Du meinst, weil Frauen ja niemals stehlen würden oder für schuldig befunden werden, huw?“, harkte er bei ihrer Ausführung mit skeptischem Blick nach und belächelte ihren Versuch, sich in Sicherheit zu reden.
Ihre letzte Frage überging er, denn es war nichts, worüber er Auskunft geben würde. Hatte sie nun tatsächlich geglaubt, sie in ein unbefangenes Gespräch verwickeln zu können? Liam lächelte noch immer, tauschte einen letzten Blick mit Ryan, den dieser vermutlich dank der eher kurzen Zeit gemeinsam an Board noch nicht lesen konnte, ehe er sich kurz räusperte. Er senkte den Kopf, hielt sich drei Finger an die Schläfe, als würde ihm irgendetwas plötzlich wirkliche Kopfschmerzen und Verzweiflung bescheren und hob die Stimme ein wenig an.
„Hör zu, Schwesterherz.“, begann er, die Stimme leise genug, um klar zu stellen, dass das hier ein privates Gespräch war, aber laut genug, um sicher zu gehen, dass man auf sie aufmerksam wurde und Wortfetzen verstand. „Wir hatten ja wirklich die Hoffnung, dass die Luft hier auf Milui und die Ablenkung deinem Geisteszustand guttun würde, aber… So wie du dich hier aufführst, bleibt uns wohl doch nichts anderes übrig, als dich ins Hospital für Geisteskranke zu bringen. Ich kann das einfach nicht mehr. Du bist wahnsinnig. Geister, Elfen, Stimmen - überall. Vielleicht können sie dir im ‘Spital noch helfen. Ich kann es nicht und unser Bruder vermag es genauso wenig. Wir haben dich gewarnt.“
Mit Bedauern im Blick packte er die Rothaarige am Arm. Flüchtig warf er einen Blick in die Richtung der Wachen, die über den Platz geschlendert waren, nun aber stehen blieben, um die Situation zu beobachten. Sehr gut. Einem als geisteskrank titulierten Menschen glaubte ohnehin niemand mehr. Das wusste er zu seinem bedauern aus erster Hand.