01.11.2018, 14:02
Die Antwort – oder vielmehr Antworten, Mehrzahl – auf seine zynische Bemerkung ließen ihn innerlich die Augen verdrehen. Klar. Klassische Ausrede jedes Wahrsagers: Er konnte die Zukunft nur mithilfe der Karten sehen. Nicht einfach so. Wer hätte das gedacht, irgendetwas gab es doch immer. Dagegen war Shanayas Begründung schon fast wieder witzig. Dennoch schüttelte Lucien bloß spöttisch den Kopf, richtete die tiefgrünen Augen dann wieder auf den Fremden mit den blonden Haaren, der inzwischen ein geradezu anstrengendes Maß an Vertrautheit gegenüber ihrer jüngsten Begleiterin an den Tag legte. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte der 21-Jährige beinahe vermutet, sie wären so etwas wie Freunde – wie sie sich gegenseitig an ihr gemeinsam Erlebtes erinnerten. Echt zuckersüß.
Erfreulicherweise wusste er es besser.
Dass Talin sich in diesem Moment einmischte und den Blonden bat, ihr die Karten zu legen, unterbrach das kleine Geplänkel zum Glück – und überraschte ihn auch nicht. Eigentlich hätte er es sogar wissen müssen. Mit einem leisen Seufzen ließ er die Hand seiner Schwester los, damit sie sich setzen konnte und beobachtete skeptisch, was als nächstes geschah. Ein kurzes Mischen, dann legte der Wahrsager vier Karten zwischen ihnen auf den Tisch und deckte sie der Reihe nach auf. Und als er schließlich zu erzählen begann, sank Luciens Stimmung noch ein gutes Stück weiter nach unten. Er presste unwillkürlich die Kiefer zusammen, verspannte sich.
Shanayas Einwurf kam da wie gerufen. Er riss sich vom Anblick der Karten los, sah zu ihr hinüber und ließ sich von ihrem Lächeln kurzerhand ablenken. Die düstere Stimmung blieb, schwebte über ihm und allem, wonach ihm in diesem Augenblick war. Doch sie entlockte ihm immerhin ein trocken amüsiertes Schnauben.
„Klar, warum nicht? Nachher auf dem Schiff, in einer ruhigen Ecke, in der wir ganz für uns sein können?“
Sie würde ganz genau wissen, worauf er anspielte. Und obgleich Lucien das nicht besonders ernst meinte, hellte sich seine Stimmung darüber ein klein wenig auf. Weil er wusste, dass die Schwarzhaarige nicht widerstehen konnte, darauf eingehen würde, ohne dem mehr Bedeutung beizumessen, als er selbst.
Auf eine Antwort wartete der Dunkelhaarige jedoch nicht, wandte sich stattdessen seiner Schwester zu, die mit dem Rücken zu ihm dem Wahrsager gegenüber saß. Flüchtig legte er ihr die Hand auf die Schulter, um ihre Aufmerksamkeit für einen Moment auf sich zu lenken, bevor er sich entschuldigte.
„Ich geh mir noch was zu trinken holen, ich glaube nicht, dass ich hier unbedingt dabei sein muss. Pass auf, dass er an seinen Karten nicht erstickt, schließlich könntest du sein nahes Ende sein.“ Sein Blick wanderte kurz amüsiert hinüber zu dem Wahrsager, bevor er sich aufrichtete und sich zu der Schwarzhaarigen umdrehte. „Und unsere Prinzessin begleitet mich bestimmt.“
Damit löste er sich von Talin, fing nur noch kurz ihren Blick auf, um sich zu vergewissern, dass es für sie in Ordnung war – auch wenn das Gegenteil wahrscheinlich wenig an seiner Entscheidung geändert hätte. Denn Tatsache war, dass er von diesem ganzen Kartenlege-Hokuspokus einfach nichts hören wollte. Mal abgesehen davon, dass die absichtlich wage gehaltenen Formulierungen auf so gut wie jeden zutreffen könnten und nur durch persönliche Erwartungshaltungen so präzise klangen... gefiel ihm einfach nicht, was sie in ihm auslösten. Selbst wenn in diesem Wahrsager kein einziger Funke Magie steckte und er im Grunde überhaupt nichts über seine Schwester sehen konnte, sah Lucien in ihr viel zu viel. In ihren Gesicht, das ihm verriet, welche Mutmaßung stimmte und welche nicht.
Also löste er sich von Talin, ließ sie am Zelt dieses Quacksalbers sitzen und wandte sich den Buden auf der anderen Straßenseite zu und hielt nur noch einmal kurz inne, um Shanaya einen fragenden Blick über die Schulter zuzuwerfen und ihr dabei den Rest seines Ofenbrotes entgegen zu halten.
„Willst du? Du hast es doch eh schon darauf abgesehen.“