27.09.2018, 16:09
Er vernahm Shanayas leises Brummen von vorn und musste unwillkürlich schmunzeln. Klang verdächtig danach, als hätte er sich die Antwort auf diese Frage in ihren Augen auch verdient. Oder sie war – nicht anders als er – derart guter Stimmung, dass sie schlicht und ergreifend zum Plaudern neigte. Wobei Lucien seine Zweifel hegte, ob sie ihm auch nur einen Bruchteil davon erzählt hätte, wenn sie ihn nicht zumindest ein wenig sympathisch gefunden hätte.
Den nächsten Ast abwehrend, der zunächst an der Schwarzhaarigen hängen geblieben und dann mit reichlich Schwung auf ihn zu gesaust kam, hörte der 21-Jährige schweigend zu. Ihm fiel die Erleichterung auf, die in ihrer Stimme lag, während sie von dem Leben sprach, das scheinbar ihre Alternative zu diesem hier gewesen wäre. Sie war echt, leidenschaftlich – und sehr vertraut, was ihm erneut ein warmes Lächeln auf die Lippen lockte. Ganz egal in welche Bevölkerungsschicht man hinein geboren wurde: Die Zwänge, von denen sie sprach und die sie scheinbar von ihrer Heimatinsel fort getrieben hatten, gab es überall. Andere Gesichter, andere Umstände, andere Erinnerungen – aber die gleichen Zwänge.
Bevor der Dunkelhaarige jedoch antworten konnte, fing er Shanayas Blick auf und hörte den Bruchteil einer Sekunde später das, was auch sie hatte innehalten lassen. Die anfängliche Verwirrung wich Verstehen und er nickte auf ihre unausgesprochene Frage zustimmend. Sie wandten sich in die Richtung, aus der das leise Plätschern kam und seine Begleiterin griff den Faden wieder auf, um ihm das zu bestätigen, was Lucien längst erahnte: Niemand, von dem sie es nicht wollte, würde ihr je Vorschriften machen können.
Wieder trafen sich ihre Blicke und dieses Mal stieß der junge Mann amüsiert die Luft aus. In den tiefgrünen Augen lag ein Ausdruck angenehmer Freude darüber, jemanden um sich zu haben, mit dem man eine grundlegende Einstellung teilte.
„Ganz ähnlich.“ Seine Antwort fiel im ersten Moment schlicht aus, doch das unbestimmte Gefühl von gegenseitigem Verstehen machte sie weniger einsilbig. „Talin und ich passten nie in das Leben, das unsere Eltern für uns vorgesehen haben. Ich habe es versucht, am Anfang, während sich Talin die Mühe gar nicht erst gemacht hat.“
Er musste kurz schmunzeln bei dem Gedanken daran, wie viel Wahrheit in diesem simplen Satz steckte, über den er gerade gar nicht weiter nachgedacht hatte.
„Wir beide sind für das Meer geboren worden. Für das Abenteuer. Aber das ist nichts für die Menschen auf Kelekuna. Abenteuer gibt es dort nicht. Ich sollte das Schiff meines Vaters und seine Geschäfte übernehmen, während meine Mutter für Talin ein Leben als brave Ehefrau vorgesehen hat.“ Lucien warf der Schwarzhaarigen einen sanft-spöttischen Seitenblick zu. „Ich vermute, nichts anderes haben deine Eltern mit dir geplant?“
Es war weniger eine Frage als eine Feststellung. Nur wenige Menschen der Ersten Welt dachten außerhalb der alten Traditionen. Niemand nahm Rücksicht auf die Wünsche eines kleinen Mädchens. Und er? Er hätte vielleicht damit leben können, sein Dasein als Schmuggler zu fristen, für immer auf Kelekuna zu bleiben – wenn es wirklich nur um ihn gegangen wäre. Doch das hatte es nie getan.
„Jedenfalls.. ging es mir nie wirklich darum, Pirat zu werden. Aber wenn es das ist, was ich sein muss, um die Dinge zu tun, die ich tun will...“ Lucien zuckte gelassen mit den Schultern, sich wohl bewusst, dass Piraterie weit mehr bedeutete, als dorthin zu segeln, wohin er wollte. „...dann habe ich kein Problem damit. Da vorn!“
Mit dem letzten Satz hob er die Linke und deutete – noch immer eine der Sternfruchthälften in der Hand – auf das lichter werdende Blattwerk vor ihnen. Immer wieder blitzte es zwischen den Blättern der Farne silbrig auf und das Plätschern war deutlicher hörbar geworden.