21.08.2018, 11:10
Als Scortias vor ihm salutierte und ihm damit zu verstehen gab, dass er sich seinen Rat zu Herzen nehmen würde, schenkte der Koch ihm ein warmes Lächeln und wuschelte kurz mit der Hand durch seine Haare. Er war ohnehin nicht böse auf den Jungen, schließlich hatte der im Grunde genommen nur die Anweisungen ihrer Captains ausgeführt. Und vorschreiben durfte er ihm unabhängig davon sowieso nichts, schließlich war er nicht sein Vater - wer auch immer das eigentlich war, ob er noch lebte und wenn ja, wo. Verantwortlich fühlte er sich dennoch, und zwar nicht nur für ihn, sondern die gesamte Crew.
Und auch wenn die Aktion in Anbetracht der anderen Jugendlichen, die dasselbe Ziel gehabt hatten, etwas waghalsig gewesen war, musste er auch anerkennen, dass Scortias dieses Handwerk augenscheinlich sehr gut zu verstehen schien.
Die Art, wie Scortias sich am Stand des Künstlers über die Geschichten ereiferte, die er über die ungeheuerlichsten Meereswesen gehört hatte, entlockte Rayon abermals ein Lächeln. Offenbar mochte der Junge diese Art von Geschichten - und er liebte es, sie zu erzählen. Ein unschätzbarer Charakterzug von Kindern war, dass sie wissbegierig und begeisterungsfähig waren, anders als viele erwachsene Männer und Frauen, mit denen er in seinem Leben zu tun gehabt hatte. Genau diese Art von Zuhörern war es jedoch, die dem Geschichten erzählen überhaupt erst einen Sinn gab, und Rayon freute sich jetzt schon darauf, dass in Zukunft vielleicht nicht nur Trevor gebannt an seinen Lippen hängen würde, wenn sie abends an Deck der Sphinx saßen, ohne dass ihnen die Arbeit über den Kopf wuchs.
"Nun, der Unterschied ist", begann er, nachdem Scortias ihm von den Seeschlangen, Haien und Sirenen berichtet hatte, "dass es diese Kraken wirklich gibt. Viele der Dinge, von denen Seefahrer erzählen, sind nichts weiter als Märchen, die ihre Reisen wie die ungeheuerlichsten Abenteuer wirken lassen sollen, doch irgendwo in den Untiefen der Meere lauern tatsächlich riesige Monster mit Tentakeln, doppelt so dick wie ein Schiffsmast. Einer meiner Kameraden von der Sirène hat einmal einen gesehen."
Er hielt kurz inne und zwinkerte Scortias dann zu.
"Zumindest behauptet er das. Und er schien mir ein ehrlicher Mann zu sein."
Die Vorstellung des Schiffsjungen, einen solchen Kraken mit bloßen Händen zu erwürgen und danach zu einem schmackhaften Mahl zuzubereiten, ließ Rayon dann breit grinsen.
"Nein, ich bin nicht wegen eines Kraken zur See gefahren. Aber ich bin der einzige aus meiner Familie, der sich sich trotz der Existenz solcher Wesen getraut hat, das zu tun. Furcht ist nichts für Seemänner, aber es ist wichtig, Respekt vor dem Meer zu haben, denn schließlich können wir nur annehmen, was sich alles in den unerforschten Weiten unter unseren Füßen tummelt."
Der Dunkelhäutige bemerkte, wie Scortias' Blick bei dem ganzen Gerede über Seeungeheuer und Abenteuer abschweifte und seine Hand unwillkürlich den rechten Arm des Koches umklammerte. Wieder lächelte er, löste sanft die Umklammerung, legte den Arm dann um die Schulter des Jungen und drückte ihn leicht an sich. Dass Scortias mutiger war als die meisten Kinder in seinem Alter, hatte er bei ihrem ersten Aufeinandertreffen schon zur Genüge bewiesen, als er sich ihnen zum Schutze Feuerbarts allein gezeigt hatte, allen eventuell daraus entstehenden Gefahren zum Trotz. Dennoch war die Vorstellung, von einem riesigen Ungeheuer in die Tiefen der See gezogen zu werden, unheimlich. Selbst für einen gestandenen Mann wie ihn.
Apropos Feuerbart...
"Sieh mal, wen wir da haben", meinte er plötzlich zu Scortias und zeigte mit dem Finger auf eine weitere, relativ große Figur in der Mitte des Standes. Es handelte sich dabei um die detailreich geschnitzte und sogar mit Farbe versehene Miniatur eines Menschen mit feuerrotem Haar, einem Säbel in der rechten Hand und einer Flagge mit einem Totenkopfsymbol in der linken. Um ihn herum standen weitere solcher Figuren, die zweifelsohne weitere berühmte Piraten darstellen sollten, auch wenn Rayon die meisten davon unbekannt waren. Unwillkürlich blickte er sich um, suchte in der Menge nach Cornelius' Mähne, konnte sie jedoch nicht entdecken.
[ Mit Scortias bei einem Händler für Holzutensilien und -figuren auf dem Markt ]