12.08.2018, 15:47
Verblüffung war das erste Gefühl, das Rayon überkam, als Enrique ihm seine Geschichte darlegte. Mit derartiger Offenheit hatte er nicht gerechnet, eher mit ein oder zwei nicht weiter ausgeführten Andeutungen. Dass es sich anders verhielt, verdeutlichte, wie sehr diese Dinge dem ehemaligen Leutnant auf der Seele lasteten und wie sehr sich etwas in ihm danach sehnte, alles davon jemandem anzuvertrauen, auch wenn sein Bewusstsein dem vielleicht widersprechen würde. Und es ergab Sinn, viel zu viel Sinn - die Wut auf einen abscheulichen Mann, der gleich mehrere Familien zu zerstören drohte und auf denjenigen, der ihn daran gehindert hatte, etwas dagegen zu unternehmen. Zudem warfen die Ausführungen ein gänzlich anderes Licht auf die Entscheidung, sich den Piraten anzuschließen und ihnen bei der Rettung ihres Captains zu helfen. Nicht Rache oder die Flucht vor Harper waren sein Motiv gewesen, sondern Liebe und Ehrgefühl. In diesem Moment empfand Rayon vor allem Mitleid mit dem Mann, der hier vor ihm saß und damit zu kämpfen hatte, die Tränen zurückzuhalten. Mit einem Mann, der noch Schrecklicheres durchlebt haben musste als er selbst, denn der Koch konnte sich nicht vorstellen, wie es war, Angst um das Leben des eigenen Kindes haben zu müssen. Für ihn war schon der Verlust seiner Eltern beinahe unterträglich gewesen.
Er wartete einen Moment, bis Enrique sich gesammelt hatte. Einige Fragen wüteten in seinem Kopf umher und drängten darauf, gestellt zu werden, doch die mussten warten. Zunächst schuldete er dem Schwarzhaarigen einen Teil seiner eigenen Geschichte.
"Als ich siebzehn war, wurde meine Schwester von Soldaten der Marine vergewaltigt. Sie war zwölf. Ein Jahr später ermordeten sie meinen Vater, weil er die Plünderungen, die wir durch sie erdulden mussten, nicht mehr hinnehmen wollte."
Er schluckte und atmete tief durch. Glücklicherweise hatte er diese Erlebnisse recht gut verarbeitet, hatte sich die Lebensfreude nicht endgültig dadurch zerstören lassen und mehr oder weniger seinen Frieden damit geschlossen, doch wenn er darüber redete oder sich lebhaft daran erinnerte, kehrten die Gefühle der unendlichen Trauer und der Wut zurück. Nicht so stark wie damals, aber immer noch stark genug, um ihn in einem unachtsamen Augenblick zu übermannen. Nach einigen Sekunden hob er wieder den Blick und sah Enrique in die Augen, ein tiefes Verständnis und Anteilnahme in seinem Blick.
"Schlussendlich waren es Freibeuter im Dienste der Tarlenns, die uns halfen und die Soldaten zur Strecke brachten. Aus diesem Grund wurde ich Pirat. Meine Familie, oder das, was noch von ihr übrig ist, schuldet ihnen ihr Leben. Nicht den offiziellen Vertretern des Rechts dieser Inseln, sondern denen, die dem Anschein nach dagegen kämpfen."
Er schüttelte den Kopf.
"Ich weiß also, wie es ist, von einem Ideal enttäuscht zu werden. Und ich weiß, wie es ist, um das Leben von Familienmitgliedern zu bangen. Aber Angst um die eigene Tochter haben zu müssen, weil irgendjemand ihres aus reiner Boshaftigkeit auslöschen könnte, das muss wahrlich grauenhaft sein. Ich glaube nicht, dass sich irgendjemand das Gefühl vorstellen kann, ohne es selbst erlebt zu haben."
Der Schiffskoch zögerte. Enrique hatte ihm schon viel von sich offenbart und er wollte seine Gesprächigkeit nicht überstrapazieren. Vor allem wollte er ihn nicht noch tiefer in Gedanken stürzen, die seinen emotionalen Zustand weiter verschlechtern würden, aber auf einige der Dinge, die er erzählt hatte, konnte er sich ohne weitere Details keinen rechten Reim machen. Warum genau hegte dieser Mann, der einem Unschuldigen einen Mord angehängt hatte, einen Groll gegen den ehemaligen Leutnant? Was war mit dem Mann passiert, den er hatte retten wollen?
Er beschloss, das Risiko einzugehen, aber Enrique zu verdeutlichen, dass er die Wahl hatte, das Gespräch sofort zu beenden.
"Vergib mir, dass ich danach frage. Du musst mir nicht antworten, wenn du willst, fang ich sofort an, mich um das Essen zu kümmern und lass dich in Ruhe. Aber ich würde gern erfahren, warum dieser... Mann eine Gefahr für deine Tochter ist, wieso er einem Unschuldigen einen Mord angehängt hat... und was mit ihm passiert ist, als du versucht hast, ihn zu retten."
In Rayons Augen lag aufrichtiges Interesse an dem Schicksal seines Gegenüber - und Respekt, von dem er nun, da er einiges über dessen Beweggründe erfahren hatte, deutlich mehr verspürte.