11.08.2018, 01:12
Vielleicht hätte der Markt und die Güter, die hier vertrieben wurden, tatsächlich Scortias etwas aufgeheitert, aber alleine die Tatsache, dass er nur zum Gewürze beschaffen eingeteilt war, hatte die Laune des Zwölfjährigen ordentlich in den Keller fallen lassen. Dementsprechend unmotiviert lief er neben Rayon her, bis er dann schließlich die Kinder am Rand entdeckte, die, wie er sich sicher war, eine deutlich aufregendere Aufgabe nachgingen als er. Natürlich musste er Rayon vor ihnen warnen, denn er kannte ihre Masche, die er selber in Aelinos praktiziert hatte. Seine Augen klebten weiter an den Jungen, die wohl ein Opfer ausgemacht hatten und das auch Scortias nun erblickte. Bevor Rayon reagieren konnte, verabschiedete sich der Schiffsjunge, um nur wenige Minuten später wieder hinter dem Smutje aufzutauchen. Dieses Mal aber mit einem breiten und zufriedenen Grinsen. Er hatte fette Beute gemacht. Ein schwerer Geldsack zog an der linken Seite seiner Hose, die danach verlangte immer wieder auf die Hüfte zurück gerückt zu werden.
Rayon war aber keinesfalls dumm, was Scortias auch niemals behauptet hätte. Aus irgendeinem Grund schien es so, als würde der großgewachsene Mann wissen, was der Zwölfjährige da gerade getrieben hatte. Die vor Ironie triefende Frage, ob das nicht seine Großmutter gewesen sei und dazu der strenge Blick, den Scortias sich einfing, deuteten darauf hin, dass Rayon nicht sonderlich begeistert von der Aktion gewesen ist. Schuldig und ertappt sah der Junge mit einem zerknirschtem Gesicht zu dem Dunkelhäutigen hinauf und hob seine Schultern entschuldigend an.
„Es war … eine gute Gelegenheit.“ meinte er leise und ließ die Schulter mit einem Ruck wieder sinken. Dann biss er sich auf die Unterlippe, bevor seine Augen deutlich machten, dass er ein gutes Argument gefunden hatte, denn sie strahlten plötzlich in Rayons Richtung.
„Es hat sich aber gelohnt. Das sind locker zehn Goldstücke." flüsterte Scortias überschwänglich und klopfte sich mit begeistertem Gesichtsausdruck auf die Hosentasche. Rayons strenger Blick war nun auch wieder vergangen, der ihn aber nun belehrte, nichts auf eigener Kappe zu machen.
„Aye Sir.“ bestätigte der Junge mit einem Grinsen und salutierte vor dem Koch.
Der Zwölfjährige mochte den Smutje und auf keinen Fall wollte er den Mann enttäuschen oder verärgern. Nein, er wollte, das Rayon stolz auf ihn war, dass er sich auf seinen Schiffsjungen verlassen konnte, egal in welcher Situation. Eine Crew war wie eine Familie und Rayon übernahm immer mehr die Rolle eines großen Bruders, oder die eines Patenonkels. Feuerbart war dafür immer noch so eine Art Vater. Und Trevor war eher der Zwillingsbruder, mit dem man einfach nur Blödsinn machen konnte. Irgendwie hatte jeder so seine Rolle bekommen. Naja, bis auf ein paar Ausnahmen, mit denen Scortias noch nicht so viel zutun hatte. Ryan zum Beispiel konnte der Junge noch garnicht einschätzen. Und Shany war wie eine Schwester, mit der man sich auch mal um das größere Fleischstück streiten konnte. Aber das war es doch, was eine Familie ausmachte, oder? Am Ende würden alle, egal was passierte, zusammen halten.
Rayon und Scortias drängelten sich etwas näher an einen Stand heran. Zwischen den Leuten hindurch konnte der Junge einige, aus Holz angefertigte Figuren entdecken, aber so richtig sehen war unmöglich, bis sich vor ihnen eine Lücke auftat und die beiden Crewmitglieder der Sphinx zur Tischkante vordringen konnten. Das Tuch, dass als Sonnenschutz über den Stand gehängt wurde, tauchte alles auf den Tisch in ein freundliches Gelb. Scortias ließ seine Augen über die Figuren wandern, bis Rayon sich zu ihm hinunter beugte, ihn ansprach und auf die Figur eines Kraken zeigte.
„Ja, als ich in Aelinos auf der Straße gelebt habe, da saß ich oft auf dem Dach, am Fenster der Taverne und die Leute haben die wildesten Geschichten erzählt. Seeschlangen, die so groß wie FÜNF Schiffe waren und mit ihren Flossen einfach BOOTE umschmissen (Bäm), oder sie von unten rammten (Pfusch). Oder nackte Frauen, die SOOOO toll sangen, dass die Seefahrer unbedingt zu ihnen hin steuern wollten und dann auf ein Riff aufliefen (Krach). Die Männer wurden dann alle von den Frauen gefressen. Man sagt, dass das Wasser in der Gegend durch das Blut rot gefärbt ist. Obwohl ich ja glaube, dass sie nicht wegen den Stimmen, sondern weil die Frauen nackt waren da hin wollten. Und dann gibt es SOOO ein RIESIGEN Waal ...“
Scortias breitete die Arme in seiner Begeisterung der Geschichten so weit er konnte aus und stieß dabei ein paar Figuren um. „'tschuldigung." kam es kleinlaut von dem Zwölfjährigen an den Verkäufer gerichtet und stellte die Figuren schnell wieder auf.
„Naja der Waal war riesig und hat ein Schiff über AAALLE Meere verfolgt, nur um den Kapitän zu erwischen, der die Frau und das Kind des Waals ermordet hat. Dann gab es noch so ein … Hai..." bei dem Wort stockte die Stimme des Jungen kurz. "… ein Hai. Also … die Haigeschichte finde ich aber am gruseligsten. Der soll nämlich so groß sein, dass er ein halbes Marineschiff mit einem Bissen verschlingen kann. Ich haaaaasse Haie. ... Und ja, dann erzählten sie auch von dem Kraken, der mühelos mit seinen Tentakeln ein Schiff in die Tiefe ziehen kann und deren Saugnäpfe SOOO stark sind, dass sie einem Mann das GANZE Gesicht weg saugen. (Flop)“
Scortias hielt dabei seine Hand vor dem Gesicht und machte ein flopendes Geräusch. Generell erzählte er alles mit wilden Bewegungen und untermalte die Stories mit mündlichen Lauten. Der Zwölfjährige sah Rayon mit begeistert funkelnden Augen an, denn er hatte die Geschichten der Seeleute geliebt und fast jede Nacht mindestens eine Geschichte vor dem Schlafen angehört. Es waren sozusagen seine persönlichen 'Gute Nacht Geschichten'.
„Und wieso bist Du deswegen zur See?“ fragte Scortias und kicherte. „Wolltest Du den Kraken erwürgen und in den Kochtopf schmeißen?“
Mit einem breiten Grinsen sah er Rayon an und boxte dem Mann spielerisch mit seiner kleinen Hand auf den mindestens viermal so großen Oberarm. Doch dann richtete er seine Augen wieder auf die Holzfigur des Kraken. 'Für einen kurzen Moment sah er das riesige Ungeheuer in seinem Gedanken, wie es bei einem wilden Sturm die langen Arme aus dem wellentobenden Wasser schob und das Schiff, auf dem sich Scortias in der Fantasie befand, umschlang und nach unten zog. Das Holz um ihn herum krachte und knarrte. Er hielt sich an der Takelage fest' … doch es war nur Rayons Arm auf dem Markt, den er in diesem Moment umklammert hatte. ... Gruselig.
[Mit Rayon auf dem Markt | bei einem Händler für Holzutensilien und -figuren]