04.08.2018, 18:07
Als die ersten Tränen heiß auf seine bloße Haut tropften, zog er seine kleine Schwester nur fester an sich, löste unendlich vorsichtig die Hand aus ihrem Haar und streichelte ihr beruhigend in sich stetig wiederholenden Bewegungen über den Kopf. Talin weinte nicht oft. Schon als Kind nicht. Immer nur dann, wenn sie unter sich waren. Erst dann ließ sie ihn – und nur ihn – sehen, dass sie nicht ganz so unzerstörbar war, wie sie sich gern gab. Lucien hätte darüber gelächelt. Darüber, dass sie noch immer seine kleine Schwester war. Wenn in diesem Augenblick nicht so viel mehr gelegen hätte. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er tatsächlich gesagt, er wäre glücklich. Glücklich darüber, dass sie lebte, ihn gefunden hatte und frei war. Dass er frei war und dieser elendig lange Kampf ein Ende hatte. Glücklich für den Moment.
Ihm war gleich, wie lange es tatsächlich dauerte, bis Talin sich wieder bewegte. Seinetwegen hätte es auch die nächsten Stunden dauern können. Doch irgendwann löste sie sich und er ließ zu, dass sie ein wenig Abstand zwischen sie brachte. Gerade so viel, dass er ihr in das von ihren Tränen gerötete Gesicht sehen und ihren Blick auffangen konnte. Ihre Verletzlichkeit machte sie jünger, als sie war und das entlockte dem 21-Jährigen schlussendlich doch ein kleines, sanftes Lächeln. Ihre Hand suchte nach der seinen und er ließ zu, dass sie ihre Finger miteinander verschränkte, ohne den Blick von ihren Zügen zu lösen. Und auch wenn Talin schließlich nach unten sah, hinderte ihn das nicht daran, die freie Hand zu heben und sie sanft an ihre Wange zu legen. Mit dem Daumen wischte er ihr die feuchte Tränenspur von der Haut, wartete, bis sie über die Berührung hinweg den Kopf wieder hob. Dann lehnte er sacht die Stirn gegen ihre und schloss die Augen wieder.
„Ich bin hier, ja.“ Als hätte sie dafür wirklich noch eine Bestätigung gebraucht. Doch vielleicht brauchte er sie. Um sich selbst davon zu überzeugen, dass es kein Traum war. Ein schöner, aber bösartiger Traum.
Das flüchtige Lächeln auf Luciens Lippen verblasste erneut. „Es tut mir Leid, Talin. So unendlich Leid. Ich habe es dir versprochen. Ich habe dir versprochen, dass ich dich holen komme. Aber ich konnte es nicht halten.“
Er öffnete die Augen, blickte direkt in die ihren. Ein vertrautes Zusammenspiel aus blau und grün, das er bis auf den letzten Sprenkel kannte. Diese Art von Schuld, die er empfand, war schwer zu beschreiben. Er wusste, dass es nicht in seiner Macht gelegen hatte, etwas an seiner Lage zu ändern und doch... und doch hatte er seine Schwester im Stich gelassen. Er hatte die falsche Entscheidung getroffen. Ein Mal eine dumme, falsche Entscheidung. Für die er sich ihre Vergebung mehr als alles andere wünschte.