26.07.2018, 22:47
Jeder Schritt auf dem hellen Sand fühlte sich an, als versinke man. Und je weiter sie voran kamen desto gemächlicher wurde das Tempo. Während die Sonne allmählich ihren Kurs gen Horizont einläutete, entfernte sich das Gespann von der einzigen Möglichkeit auf das Schiff zurückzukehren. Keiner von beiden verschwendete einen Gedanken daran, dass ihnen diese Leichtsinnigkeit zum Verhängnis werden konnte. Dass diese Insel unbewohnt war, spielte dabei wohl kaum eine Rolle.
Vorsichtig schielte Skadi zur Seite, kaum dass der Leutnant zu erzählen begann. Verschränkte die Arme entspannte hinter dem Rücken und versuchte das seltsame Gefühl abzuschütteln, das sich seit ihrem Aufbruch immer fester in ihrer Magenwand verbiss. Er hatte also Menschen, denen er etwas bedeutete. Menschen, die ihm etwas bedeuteten. Ob ihr das fehlte? Sicherlich. Doch Emotionen wie diese ließ die Jägerin nicht an die Oberfläche treten. Zum einen wusste sie, dass es ihre Familie dadurch nicht zurückbringen würde. Zum anderen machte es sie anderen gegenüber verletzlich. Niemandem gab sie je wieder so viel Macht über sich.
"Ich hatte schon einige Male die Gelegenheit, das zu versuchen und bin jedesmal schnell wieder unruhig geworden. Wenn ich kann werde ich sie besuchen aber nicht für lange."
Wenn er so über die Liebsten sprach, denen er noch dringend hatte sein Überleben mitteilen müssen, dann konnte das niemand sein, der mehr zählte als die "Freiheit" der See. Kein Mensch verließ seine Familie, wenn sie alles war, was zum Leben, Atmen oder Sein gebraucht wurde. Skadi würde töten, hätte sie je wieder diese Chance. Niemand hätte sie davon abhalten können, dort zu bleiben, wo sie hingehörte. Doch das war keine Option.
Tief atmete die Nordskov ein und aus, während sie Enrique lauschte. Ließ den Blick dann und wann vom weiten Strand auf das bärtige Gesicht gleiten. Schenkte ihm ein mattes Lächeln, das jäh kippte. Nur wenige Worte waren so effektvoll, wie diese. Brachten den schmalen Körper dazu innezuhalten und regungslos auf ihren Gegenüber zu blicken. Die Miene ausdruckslos, der Blick glasklar.
"Enrique..."
Hatte sie jemals seinen Vornamen ausgesprochen? So direkt und ohne mit der Wimper zu zucken? Es fühlte sich seltsam an, Silbe um Silbe über ihre Lippen gleiten zu lassen.
"Hast du jemals von einer Geschichte gehört, in der vor Jahren ein Stamm spurlos von einer kleinen Insel Trithêns verschwand?"
Die Marine hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihre Version der Ereignisse in der Welt zu verbreiten. Mittlerweile gab es nur wenige, die von den wahren Begebenheiten wussten. Ganz im Gegensatz zu denen, die sich diese Geschichte als Schauermärchen erzählten.
Prüfend lehnte sich der zierliche Körper Millimeter um Millimeter voraus. Wartete auf das Leuchten in Enriques Blick, auf das schwere Einatmen, das sich so oft bereits mit seiner aufbäumenden Skepsis zeigte. Jede Reaktion seines Körpers sog sie mit ihrem Blick auf, verinnerlichte die Atmosphäre dieser Unterhaltung. Hatte sie gerade so luftig leicht begonnen, verhärteten sich die Kanten. Das Gesamtbild verformte sich zu einem immer stärker werdenden Relief. Skadi war gespannt wie viel Enrique von dieser Erzählung wusste. Ob er wohl in seiner Zeit bei der Marine davon gehört hatte? Sie bezweifelte es irgendwie nicht - selbst wenn es nur das war, was man der Welt Glauben machen wollte.
Vorsichtig setzte Skadi mit einem Fuß ihrer Bewegung nach. Richtete sich dabei zur vollen Größe auf und stand nur noch eine halbe Armlänge entfernt. Glaubte beinahe die Wärme zu spüren, die er ausstrahlte. Hörte in die Stille hinein, die hier und da vom leisen Rauschen der Wellen unterbrochen wurde.
"Ich war nicht ohne Grund auf der Morgenwind - was dir vielleicht nach unserer Flucht bewusst geworden ist."
Ein schmales Lächeln legt sich auf die vollen Lippen.
"Aber nein... ich habe nichts mehr, das mich von Bord locken könnte."
Vielleicht würde er selbst diese eine Person sein. Skadi vermutete es sogar, ohne es laut auszusprechen. Doch niemand konnte sagen, was nach heute geschehen würde. Vielleicht waren sie in einem Jahr geschiedene Leute, jetzt wo es die Morgenwind als Klebstoff zwischen ihnen nicht mehr gab. War ihre anfängliche Freundschaft stark genug, um das hier auszuhalten? Der Esteroaner war ein stolzer Mann, der sich gern zu temperamentvollen Reaktionen hinreißen ließ. Und womöglich kannte sie ihn gar nicht so gut, wie sie glaubte. Womöglich. Doch es kam auf einen Versuch an. Feige aufgeben war nichts, das die Nordskov duldete.