25.07.2018, 10:19
Talin erntete auf ihre Frage, deren besorgter Unterton ihm nicht entging, nur einen entnervten Blick. Ihre Fürsorge in allen Ehren, doch der 21-Jährige hatte ganz sicher nicht das Bedürfnis, sich bemuttern zu lassen. Dafür müsste sie ihren Bruder eigentlich besser kennen. Er aß gut und reichlich, immer dann, wenn er Hunger hatte, und das machte sich inzwischen auch an seiner Statur bemerkbar. Seine Knochen zeichneten sich nicht mehr so deutlich unter der Haut ab und mit jeder Arbeit, bei der er auf der Sphinx wie selbstverständlich wieder anpackte, kehrte langsam aber stetig auch die alte Kraft in seine Muskeln zurück. Nicht mehr lange und Lucien sah wieder aus wie ein Mensch. Alles darüber hinaus kam ihm schon reichlich übertrieben vor – vor allem, da er selbst vorhin schon etwas zu Essen in die Hand gedrückt bekommen hatte.
Wortlos wandte der Dunkelhaarige den Blick ab, richtete ihn statt dessen auf die bunten Auslagen der Buden, an denen sie vorbei kamen. Was genau dort lag, interessierte ihn allerdings auch nicht. Mit mehr als gemischten Gefühlen hatte er sich bereit erklärt, seine Schwester zu begleiten und seine Laune hatte sich, als sie die Stadt erreichten, auch nicht wirklich gebessert. Genau wie Talin verband er fast nur schöne Erinnerungen mit dem alljährlichen Frühlingsfest und doch stieß es ihm nun übel auf. Vielleicht empfand er Mîlui als zu groß – immerhin kam er von der kleinsten noch auf den Karten der Ersten Welt verzeichneten Insel. Auf Kelekuna war alles kleiner, bescheidener, intimer gewesen. Und schöner. Er war eben Dorfkind durch und durch.
Vielleicht nervte ihn aber auch die Unbeschwertheit der Menschen dieser Tage. Die gleiche Unbeschwertheit, die er aus seiner Heimat, die er von früher her kannte und die er nun nicht mehr empfand. Er hatte sich verändert – ganz wie Talin es prophezeit hatte.
Shanayas Worte schließlich rissen Lucien aus seinen Gedanken. Er wandte den Blick von den Buden ab, sah zu der Schwarzhaarigen hinüber, die einige Schritte vor ihnen dahin tänzelte, ihr Essen im Mund, während sie versuchte, sich verständlich zu machen. Talins Reaktion darauf lockte dann ein flüchtiges Schmunzeln auf seine Lippen, das er jedoch hinter dem Krug verbarg, den er in diesem Moment an den Mund hob, um einen Schluck von seinem Grog zu trinken. Auch den hatte Shanaya spendiert – genauso wie das Ofenbrot in seiner anderen Hand, das mit Käse, Speck und Frühlingszwiebeln vollgestopft worden war.
Er mochte dieses Gefühl nicht teilen, doch aus irgendeinem Grund fand er ihre kindliche Freude... niedlich. Wie eine Zehnjährige, die nie zuvor etwas Vergleichbares zu Gesicht bekommen hatte und nun alles, und zwar wirklich alles, ausprobieren wollte.
Doch der Dunkelhaarige mischte sich in das Gealber der beiden Frauen nicht ein, trat innerlich einen kleinen Schritt zurück und beobachtete das Ganze nur von der Seite. Möglich, dass er deshalb als erster reagierte, als sich von hinten eine Stimme an sie wandte. Lucien wandte sich herum, ließ dabei den Krug sinken und maß den Mann, der dort einen Stand betrieb, mit einem schnellen Blick. Ein weiterer Blick auf die Bude – oder vielmehr deren Ausstattung und Verzierung – verriet, dass es sich bei ihm um eine Art Wahrsager oder Hellseher handeln musste und prompt hob der junge Mann skeptisch eine Augenbraue. Einerseits, weil er von dieser Hellseherei rein gar nichts hielt. Andererseits, weil er sich doch darüber wunderte, dass er seine schwarzhaarige Begleiterin mit ihrem Namen ansprach.
„Und ihr kennt euch?“,
stellte Lucien mit einem fragenden Seitenblick zu Shanaya das Offensichtliche fest. In seiner Stimme lag ein Hauch zynischer Neugier.