14.07.2018, 12:46
Nun, da der Bann gebrochen war, war es Cornelis, der verunsichert war. Er hatte seinen Freund wiedergefunden und doch war der nicht mehr der Junge von vor 14 Jahren. Aus dem Jungen war ein Mann geworden und es fehlte die Zeit dazwischen, in der sich ihre tiefe Freundschaft weiterentwickelt und ihr Umgang sich in den zwischen zwei erwachsenen Männern gewandelt hätte. So saß er eine Weile neben Enrique, hatte nur seine Hand auf die von seinem Freund auf seinem Arm gelegt. Er merkte, wie Enrique wieder in seine Gedankenwelt abglitt und schließlich leise und vermutlich unbewußt seinen Wunsch äußerte.
"Nein", sagte er leise und mit halb erstickter Stimme, "jetzt gibt es auch keinen Grund mehr."
Einen kurzen Augenblick trat wieder Schweigen zwischen ihnen ein.
"Scheiß der Hund drauf", fluchte Cornelis auf altbekannte Seemannsweise, doch mit erstickter Stimme, fast nur ein Flüstern. "Brüder dürfen das."
Denn in diesem Augenblick erkannte er, daß sie genau das in seiner Empfindung schon immer gewesen waren - Brüder. Nicht des Blutes, nein, aber der Herzen. Brüder, die nicht zusammen aufgewachsen waren - Brüder, die einen großen Altersunterschied aufwiesen - Brüder, die nicht viel Zeit zusammen gehabt hatten. Und trotzdem waren sie direkt auf der gleichen Wellenlänge gewesen, hatten ihre Herzen von Anfang an im gleichen Rhythmus geschlagen.
Und so, ohne auf eine Antwort zu warten, schob er den Arm über Enriques Schultern, zog ihn zu sich heran und umarmte ihn herzlich. Wie schon immer trug Cornelis seine Emotionen nicht so nach außen wie sein Freund, doch Enrique kannte ihn gut genug um zu spüren, wie sein Körper in diesem Augenblick bebte. Cornelis lehnte seinen Kopf an Enriques Schopf und lautlos rannen ihm die Tränen über das Gesicht und benetzten Enriques Haare.
Und schließlich hörte sein alter Freund neben seinem Ohr die geflüsterten Worte: "Ich habe dich schmerzlich vermisst, kleiner Bruder."