11.05.2023, 18:03
Gestalten in der Dunkelheit
Nacht des 30. Juni 1822
Rúnar Rúnarsson & Shanaya Árashi
Die Dunkelheit hatte sich über die Straßen von Ostya gelegt, hüllte damit alles in eine wohlige Stille, die nur von dem fernen Stimmgewirr in den Tavernen durchbrochen wurde. Gut, und von den Schnapsleichen, die sich am Hafen herum trieben, immer wieder an der Kante herum torkelten und Gefahr liefen, betrunken ihr nasses Grab zu finden. Aber Shanaya kümmerte sich nicht darum, sie achtete nur darauf, genug Abstand zu diesen Gestalten zu halten und ihren Weg zur Sphinx hinter sich zu bringen. Den Abend hatte sie mit Skadi verbracht, die deutlich mehr Alkohol zu sich genommen hatte als die Schwarzhaarige. Sie selbst hatte das Denken minimal betäubt, konzentrierte sich nur auf die etwas angeheiterte Laune und das Schiff, das langsam näher kam.
Erst, als die vertraute Silhouette nah genug war, kam der jungen Frau ein amüsierter Gedanke. Ihre blauen Augen huschten leicht nach oben, während sie sich still fragte, wer in diesem Moment wohl an der Reihe war, Wache zu halten. Sie war sich nicht sicher – was für ihren Plan jedoch absolut unerheblich war. Mit einem gut gelaunten Lächeln auf den Lippen bückte Shanaya sich nach einer Flasche, bewegte sich dann mit einer fließenden Bewegung hinter einen Stapel aus Kisten, der genug Möglichkeit zum Verstecken bot. Sie lauschte, hob schließlich den Arm und warf die Flasche in die Richtung des Aufstiegs zur Sphinx. Zuerst hörte sie, wie Glas auf Holz traf, das Glas zum Teil zerbrach – und schließlich das leise Plätschern von Glas, das in das Wasser unter dem Schiff fiel.
Rúnar schreckte auf, klappte das Buch zu. Das war unmissverständlich das Geräusch von splitterndem Glas auf Holz gewesen -- verdächtig nah an ihm dran. Wahrscheinlich nur irgendein Betrunkener, der sich in den Hafen verirrt hatte. Dennoch ... er musste kurz nachsehen, klemmte sich das Buch unter den Arm und schritt zu der Stelle, von der das Geräusch gekommen war.
Shanaya glaubte, Schritte zu hören – trotzdem bewegte sie sich nicht aus ihrem Versteck heraus. Durch die Dunkelheit erkannte sie nicht, wer sich dort auf Deck bewegte, aber es schien immerhin nicht mehr als eine Person zu sein. Die junge Frau wartete noch einen Moment, sprach dann mit deutlich höherer Stimme, als man es von ihr gewohnt war. Flehend, verängstigt. „Gib Acht… Sie kommen dich holen…“ Shanaya endete und atmete einmal lautlos durch, um das Lachen zu unterdrücken, das sich anbahnen wollte.
Rúnar konnte sich nicht helfen -- kurz lief ihm ein Schauer den Rücken hinab. Doch sofort schaltete sich auch sein Verstand ein. Irgendjemand war extrem betrunken oder erlaubte sich einen Scherz. Oder beides. Er blieb jedoch bei der Reling stehen und ließ seinen Blick in die Umgebung schweifen. Scannte die Holzwege der Anlegestelle, die dunklen Gassen deren Steingemäuer von sanftem, gelben Licht erhellt wurden; den ein oder anderen Busch. Wenn sich schon jemand herausnahm, etwas gegen ein fremdes Schiff zu schmeißen, dann würde er sich vielleicht noch andere Dinge herausnehmen.
Es blieb so still wie zuvor, nichts außer dem leisen Rauschen und Brechen der Wellen, den üblichen Hafengeräuschen. Keine Reaktion auf ihre Worte, keine näher kommenden Schritte. Damit verkleinerte sich der Kreis der Personen, die Wachdienst hatten, deutlich. Einen Moment haderte die junge Frau mit sich, ob sie das Spielchen weiter spielen sollte… wer bis jetzt jedoch noch nicht darauf eingestiegen war, würde sich vermutlich auch nicht dazu herab lassen. Mit einem theatralischen Seufzen reckte die Schwarzhaarige also die Arme etwas in die Luft, trat dann hinter den Kisten hervor, ohne sich groß darauf zu konzentrieren, wessen Gesicht sie gleich auf dem Deck erwartete. Schließlich betrat sie die Planken, hob eine Augenbraue und lachte dann amüsiert, als sie Rúnar erkannte, der mit einem unter den Arm geklemmten Buch vor ihr stand. „Du warst definitiv auf meiner Liste von Leuten, die das kleine Spiel nicht mit spielen.“ In ihrer Stimme klang nicht einmal eine Abwertung mit, viel mehr die Nüchternheit einer logischen Tatsache.
Rúnar zuckte kurz zusammen, als jemand hinter einem Stapel Kisten hervorsprang. Als er erkannte, dass es Shanaya war beruhigte sich sein Herzschlag wieder, doch seine Hand lag noch immer über seinem Herzen. "Shanaya", sagte er, so wie: Ach, du bist es nur. "Der Versuch mich zu involvieren soll dir trotzdem zugute gehalten werden", fügte er mit einem Schmunzeln hinzu.
Die blauen Augen der jungen Frau wanderten für einige Herzschläge suchend über das Deck. Ohne Erfolg. Niemand anderes schien noch wach zu sein, vermutlich lag ein Teil schon in den Hängematten oder trieb sich in den Tavernen der Stadt herum. Als sich ihr Blick zu Rúnar herum wandte, hob sie leicht eine Augenbraue, betrachtete die Hand, die er sich in einer deutlichen Geste auf die Brust gelegt hatte. „Nächstes Mal darfst du trotzdem gern darauf einsteigen, vielleicht hätte ich ja wirklich der Vorbote von einer Horde von… was weiß ich sein können.“ In einer dramatischen Geste wedelte die junge Frau kurz mit den Händen durch die Luft, warf dem Blonden dabei einen vorwurfsvollen Blick zu.
Rúnar schnaubte ein leises Lachen -- amüsiert, nicht abwertend. "Ich steige schon genug auf meine eigenen Horden von was weiß ich ein, deshalb bin ich eigentlich ganz froh, wenn ich das mal vermeiden kann." Sein Lächeln wurde etwas breiter, weniger ehrlich diesmal -- ein wenig musste er kompensieren, wie ernst die Aussage gemeint war. "Aber das nächste Mal, wenn ich weiß, dass du es bist, dann werde ich mir Mühe geben."
Sie hätte so viel aus diesem Moment machen können... wenn Rúnar sich nur darauf eingelassen hätte! Jetzt war ihr ganzer, schöner Austritt zunichte gemacht. Die junge Frau fuhr sich bei den Worten des Blonde mit einer Hand durch die schwarzen Haare, seufzte dann leise. "Das hoffe ich doch! Wenigstens ein bisschen gute Laune kann man hier zwischendurch verbreiten." Gut, ihr Verständnis von guter Laune war vermutlich ein anderes als das von Rùnar, aber die kleine Menge an Alkohol, die sie zu sich genommen hatte, reichte aus, um diese Tatsache auszublenden. Gerade wollte sie die Frage an den Blonden richten, ob die Nacht ruhig war, als hinter ihr Schritte auf Holz erklangen. Ein kurzer, verwirrter Blick galt ihrem Gegenüber, ehe sie Die Blauen Augen herum wandte, die Silhouette eines schwankenden Mannes erkannte, der versuchte, das Deck der Sphinx zu erreichen. Noch einmal huschte ihr Blick zu Rùnar, als eine fremde, ziemlich betrunkene Stimme erklang. "Eyyyy... Kleines..." Er wankte nach links, nach rechts. Und Shanaya beobachtete das Schauspiel, gespannt, ob er es bis an Deck schaffen würde.
Rúnar war sich nicht sicher, ob sein Verständnis von guter Laune darin lag, eine Wache mitten in der Nacht zu erschrecken. Auch, wenn es jemand von der eigenen Crew war. Bei wem anders hätte das vielleicht auch etwas schlechter ausgehen können. Wenigstens war er froh, dass er seine Gedanken wieder auf etwas anderes lenken konnte als die Horden, die ihn hin und wieder heimsuchten (um bei Shanayas Metapher zu bleiben). Spätestens jetzt wäre er ohnehin abgelenkt worden -- als ein betrunkener Kerl Shanaya ansprach. Er war unten am Dock. Noch war alles harmlos. Shanaya sagte nichts mehr, beobachtete den Mann nur. Rúnar griff nach seiner Harpune und schlang sie mit einer geübten Bewegung von seinem Rücken. Er sah zu Shanaya. Beobachtete ebenfalls erstmal nur.