23.06.2020, 18:51
Laster der Leute
Früher Abend des 09. April 1822
Liam Casey & Lucien Dravean
Es musste schon wieder später Nachmittag sein, als Liam das Geschäft des Instrumentenbauers verlassen hatte. Die Tage vergingen wie im Flug, die sie noch mit Landgang verbringen konnten. Doch auch, wenn er nicht genau wusste, wie spät es war und wie viel Zeit noch bleiben würde, bis die Dämmerung einsetzte, hatte er nicht vor, direkt zur Sphinx zurückzukehren. Ein wenig abwesend war er durch die Straßen und Gassen gewandert, war hier und da mal stehen geblieben, um sich die ein oder andere Handarbeit zu besehen, die in den Läden zu bewundern war und hatte nicht wirklich darauf geachtet, wohin ihn seine Wege geführt hatten. Erst, als ihm eine aufreizende Dame ein Angebot machte, blinzelte er irritiert und stellte fest, dass er wohl wieder in der Nähe des Bordells der Stadt gelandet war. Mit einem freundlichen Lächeln wies er sie ab und wollte sich gerade wieder in eine andere Richtung wenden, als ihm eine bekanntere Gestalt ins Auge fiel. Seine Stirn legte sich kurz in Falten, während er Lucien beobachtete, der in den letzten Tagen recht häufig hier herumgelungert hatte. Kurzerhand vertagte er die Idee, sich direkt umzuwenden und steuerte auf den jüngeren Captain zu, der den Anschein erweckte, recht zielsicher im Frauenhaus verschwinden zu wollen. „Haben sie dir inzwischen eine Stempelkarte zukommen lassen?“, fragte er in ernstem Ton und ging davon aus, dass Lucien ihn bislang noch nicht bemerkt hatte. Verdient gehabt hätte er sie vermutlich – gänzlich gefüllt womöglich auch. Doch Liams Absicht war nicht, den Jüngeren dumm von der Seite anzumachen, was wohl unschwer an seinem kumpelhaften Grinsen zu erkennen war. Er konnte sich die Zeit vertreiben womit und mit wem er wollte. Der Lockenkopf war der letzte, der darüber urteilte. Und bloß, weil ihm der Gedanke an eine bezahlte Bettnachbarin nicht behagte, gab es offensichtlich genügend Männer, die das anders handhabten. „Ansonsten würde ich mich an deiner Stelle beschweren.“
Es sollte sein letzter Besuch in diesem Bordell sein. Zumindest war das Luciens Plan gewesen, als er sich auf den Weg in die Stadt gemacht hatte. Sie würden bald aufbrechen und bis dahin gab es auf dem Schiff für ihn noch genug zu tun. Er hatte die frühen Morgenstunden und den Vormittag mit der Arbeit an Bord verbracht, entweder allein oder im durchaus entspannten Beisein Greos, der sich scheinbar nicht wirklich daran störte, mal nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden. Etwas, das der Dunkelhaarige im Moment fast mehr genoss, als ausgelassene Geselligkeit. Zumindest beim Würfelspiel an Deck würde man ihn vergeblich suchen. Am ehesten zog es ihn dann in die Gesellschaft käuflicher Frauen. An den meisten von ihnen hatte Lucien längst Gefallen gefunden, vor allem deshalb, weil er sie mit Sicherheit nie wieder sehen würde. Sie waren schön, anspruchsvoll, intelligent - und vor allem an nichts anderem interessiert, als an seinem Geld. Und es war jene damit einher gehende Unkompliziertheit, die ihn alles andere vergessen ließ. Er mochte 'unkompliziert'. Umso zielstrebiger führten ihn seine Schritte deshalb durch die Straßen der Stadt, bis er den inzwischen vertrauten Straßenzug erreichte, der ihm sagte, dass er sein Ziel beinahe erreicht hatte. In diesem Augenblick riss eine Stimme ihn aus seinen Gedanken. Nur ein unbestimmtes Gefühl ließ den jungen Captain wissen, dass tatsächlich er gemeint war und auch nur diesem folgte er, als er den Blick umwandte und ihn auf den Sprecher richtete. Scheinbar hatte er sich auf seinem Weg tief in Gedanken verstrickt, denn erst danach sagte ihm sein Unterbewusstsein, dass er die Stimme tatsächlich kannte - und was sie gesagt hatte. Auf das zuvor ernste Gesicht des 21-jährigen schlich sich ein amüsiertes Schmunzeln. "Was bekomme ich, wenn ich sie voll habe? Zwei zum Preis von einer?" Er blieb stehen, um zu warten, bis Liam ihn erreicht hatte und hakte währenddessen die Daumen in seinen Ledergürtel. Die grünen Augen ruhten mit entspanntem Interesse auf dem Lockenkopf. "Und was führt dich in diese Ecke? Doch nicht etwa das Verlangen nach weiblicher Gesellschaft?"
Es war gewiss nicht seine Absicht, den jüngeren Captain von irgendetwas abzuhalten. Allerdings merkte Liam allmählich, dass es sich falsch anfühlte, einfach an einem der anderen Crewmitglieder der Sphinx vorbeizulaufen, ohne zu grüßen. Immerhin waren die Bekanntschaften nicht mehr nur flüchtige Begegnungen – selbst, wenn es ungewiss war, wie lange sie den gleichen Weg haben würden, im Augenblick saßen sie eben nicht nur sprichwörtlich im selben Boot. Lucien schien allerdings auch nicht unbedingt gestört, als er sich umwendete und ihn erkannte. Er konnte also offensichtlich noch wenige Minuten warten, bis er sich der weiblichen Zuwendung hingab. So gesehen lief ihm hier auch nichts weg. Unter anderen Umständen hätte er vermutlich Initiativen ergreifen müssen, um an sein Ziel zu kommen. „Gleichzeitig oder nacheinander?“, konterte er auf den Vorschlag des Jüngeren seinen gedanklichen Zwiespalt. Liam ging mit solchen Dingen recht offen um. Es hätte also gleichermaßen eine rhetorische oder eine gezielte Frage sein können, was der Lockenkopf aber selbst für sich nicht wirklich definiert hatte, als er es ausgesprochen hatte. Als Lucien die Frage nach seinem Vorhaben stellte, lächelte der Ältere vielleicht ein wenig zu vielsagend, ehe er den Kopf schüttelte. „Nein. Mir behagt der Gedanke nicht, jemanden dafür bezahlen zu müssen, damit er mit mir das Bett teilt.“ Er hatte kein Problem damit, das offen zuzugeben, selbst wenn er mit dieser Ansicht vermutlich einige schräge Blicke von anderen Männern erntete. Allerdings tat er so etwas mit einem lockeren Schulterzucken ab. „Außerdem fehlt mir da ein bisschen die Leidenschaft.“ Jetzt war es wieder da – das bübische Grinsen auf seinen Zügen, welches den möglichen Eindruck der Prüdheit im Bezug auf Liam vermutlich wieder aus der Welt schaffte.
„Gleichzeitig, möchte ich doch hoffen.“ Mit einem vielsagenden Lachen in der Stimme spielte er den Ball ganz ungeniert zurück. Lucien war nie ein Mann gewesen, der mit dem, womit er sich im Hafen mit Vorliebe die Zeit vertrieb, hinterm Berg hielt. Für Geheimnisse gab es keinen Grund. Darüber hinaus kam ihm Liam nicht wie einer vor, der durch die Gegend lief und Menschen für irgendetwas verurteilte. Eher das genaue Gegenteil. Und vielleicht machte gerade das den Lockenkopf derart sympathisch. Also blieb der junge Captain auch jetzt ganz gewohnt offenherzig. Auf seinen Zügen erschien ein gelassenes Schmunzeln. „Kann ich gut verstehen.“ Wie von selbst huschten die grünen Augen hinüber zu dem Gebäude, an dessen Eingang eine Gruppe leicht bekleideter Mädchen tuschelnd beieinander stand und – kaum, dass sie seinen Blick bemerkten – den beiden Männern kichernd winkten. „Aber manchmal macht es das deutlich unkomplizierter.“ Und manchmal war 'unkompliziert' genau das, was er brauchte. Beispielsweise, wenn er von komplizierten Frauen die Schnauze voll hatte... Seine Aufmerksamkeit kehrte zu dem Älteren zurück und wieder erschien ein Schmunzeln auf seinen Lippen. „So, wie du das sagst, klingst du fast, als hättest du überhaupt kein Interesse an Frauen. Sagt man Künstlern nicht eigentlich nach, ganz besonders leidenschaftlich zu sein?“
Lucien brauchte nicht lange überlegen, um eine Antwort parat zu haben, die Liam schlagartig lächeln ließ. Natürlich gleichzeitig, der Traum eines wohl jeden Mannes, obwohl zwei Frauen nicht gleichzeitig bedeuteten, dass es besser war als mit einer. Oder zwei Männer, ganz wie’s eben kam. Doch da musste Lucien seine Erfahrungen schon ganz alleine machen, um mitreden zu können. So, wie Liam beispielsweise auch seine Erfahrungen gemacht hatte, die ihn den Dirnen eher fortbleiben ließen. Sein Blick folgte dem des Jüngeren und erspähten die kleine Gruppe Frauen gerade in dem Moment, in dem sie lockend in ihre Richtung winkten. Er hatte nicht vor, ihnen länger die Kundschaft aufzuhalten, sie brauchten sich keine Sorgen machen. „Es muss nicht immer kompliziert sein.“, entgegnete er mit einem Schulterzucken etwas überrascht, als er den Blick wieder auf die ausgemerkelten Züge des Mannes neben sich richtete. „Nicht, wenn man von Anfang an mit offenen Karten spielt.“ Und er hatte bislang wirklich selten Probleme damit gehabt, dass es kompliziert gewesen wäre – immer nur so sehr, wie man es eben selbst kompliziert machte. Und auch im Augenblick konnte er sich über ‚Komplexität‘ zum Thema Liebschaften nicht beschweren. Als Lucien fortfuhr, konnte der Lockenschopf gar nicht anders, als aufzulachen und letztlich kurz die wilde Haarpracht zu schütteln. „Du verstehst mich falsch. Bei den Dirnen fehlt mir die Leidenschaft.“, stellte er mit einem kurzen Zwinkern richtig. Das Problem war nämlich im Grunde genau das, was der Jüngere ansprach: Solche Leidenschaft war ausnahmsweise nichts, was man sich mit Gold erkaufen konnte. Es benötigte Spontanität, Hingabe und zuletzt natürlich auch besagte Leidenschaft, um im Moment zu leben und ihn so zu nehmen, wie er kam, ohne zwangsläufig auf den Abschluss auszusein. Das, was davor passierte, bildete nämlich die Erinnerungen. Liam runzelte kurz die Stirn und überlegte, ehe er die Hand in einer einladenden Geste hob und fort vom Bordell wies. „Wie sieht’s aus? Lässt sich deine Verabredung verschieben? Dann kann ich dir vielleicht zeigen, was ich meine.“ Ein verschmitztes Grinsen galt dem Jüngeren und auch, wenn seine Gedanken gerade noch reichlich zu zehren hatten, klang es eigentlich nach einem netten Zeitvertreib, zwei Menschen zusammenzuführen, die auf der Suche nach einem einmaligen Abenteuer waren.
Er konnte nicht anders, gab auf Liams Worte hin ein leise spöttisches Schnauben von sich. Allerdings richtete sich das ganz unmissverständlich nicht gegen den Lockenkopf oder dessen Worte. Sondern vielmehr gegen das, woran der junge Captain in diesem Augenblick unweigerlich denken musste. „Manche Frauen machen es einem immer kompliziert, egal welche Karten man spielt.“ Mit einem amüsierten Seitenblick streifte er Liams Züge, zuckte schließlich leicht mit den Schultern und erweckte damit ganz den Anschein, als wäre das wiederum halb so wild. Das zumindest waren Erfahrungen, die Lucien gemacht hatte. Mehr als einmal. Sobald zu viel Emotionalität ins Spiel kam... wurde es immer kompliziert. Vor allem deshalb bevorzugte er die freien Mädchen und die zwanglosen Begegnungen im Hafen, die kurz genug waren, um nicht mehr als ein oberflächliches Interesse zu wecken. Jedenfalls meistens. Aber auch nicht immer... Das Angebot des Älteren ließ den Dunkelhaarigen dann jedoch kurz überrascht stutzen. Die tiefgrünen Augen richteten sich gänzlich auf ihn, musterten ihn kurz. Dann erschien ein amüsiertes Schmunzeln auf seinen Lippen. „Ich bin mir nicht sicher, ob das bei mir nicht verschwendete Liebesmüh ist...“ Lucien verschränkte die Arme vor der Brust, wandte dem Bordell nun gänzlich den Rücken zu und neigte in einer Geste der Zustimmung den Kopf. „Aber warum nicht? Wer weiß, vielleicht finde ich daran am Ende mehr Gefallen, als an käuflicher Liebe?“ Sein Grinsen verriet schon fast, wie wenig er selbst daran glaubte. Ihm würde wohl nie die Leidenschaft für eine Kurtisane fehlen. Nicht, wenn sie hübsch und interessant genug für ihn war. Aber dagegen, sich durch Spielerei und zwangloses Umwerben ein bisschen Appetit zu holen, sprach ja auch nichts.
Liams Erfahrungen beliefen sich hauptsächlich auf flüchtige Begegnungen – mal intensiver, mal nicht. Er war selten lang genug an einem Ort gewesen, als dass sich mehr hätte entwickeln können als eine angenehme Chemie und ein natürliches Verlangen. Vermutlich konnte er sich deshalb so einfach von den Dirnen freisprechen, immerhin war er tatsächlich noch nie in der Situation gewesen, dass es kompliziert geworden wäre. Er fuhr mit seiner Schiene ganz gut und hatte bislang gewiss nicht die Absicht, etwas daran zu ändern. Sesshaft werden würde er wohl sowieso nie. Und alles andere, was damit in Verbindung stand, kam für ihn ohnehin nicht in Frage. Dadurch kam er also nicht einmal in die Versuchung, etwas an seinem Lebensstil ändern zu wollen und hatte Grund genug, seine komplikationslose Einstellung fortzuführen. Die Frauen, denen dies nicht passte, hatten jederzeit die Möglichkeit zu gehen – die, die es nicht taten, wussten, worauf sie sich einließen und waren selbst schuld, wenn sie es nicht ernst nahmen. Lucien galt ein kurzes Schmunzeln. Frauen waren gut darin, das stimmte. Aber je weniger Gedanken man sich darum machte, desto bedeutungsloser schien es. Wenn sie mit ihren indirekten Vorwürfen keinen Erfolg hatten, verloren sie den Spaß daran. Und wenn man sich danach sowieso nicht mehr sah, hatten sich sämtliche Konsequenzen ohnehin erledigt. Der Lockenkopf zuckte beiläufig mit der Schulter, als der Captain dem Ganzen nur wenige Erfolgchancen einräumte. Es musste nicht immer von Erfolg gekrönt sein – vor allem, weil jeder ‚Erfolg‘ anders definierte. Für Liam war bereits ein schöner Abend und ein nettes Gespräch ein Erfolg. Wenn man jedoch auf das Happy End aus war, befriedigte einen ein derartiger Ablauf des Abends nur wenig. „Wir werden sehen.“, entgegnete er gut gelaunt. „Und wenn nicht, bieten sich wenigstens genügend Möglichkeiten, sich das Ganze schönzutrinken.“ Damit wandten sich die beiden Männer der nächsten Straße zu, die sie vom Bordell fort in eine der Tavernen führen sollte. Eine der weniger zwielichtigen, verstand sich, immerhin waren sie an diesem Abend nicht auf Schlägereiwetten sondern auf ansehnliche Gesellschaft aus. „Ein paar Straßen weiter müsste ein kleines Gasthaus sein, wenn ich’s noch recht in Erinnerung habe. Nicht ganz so zweifelhaft wie manche der anderen Läden. Ich hoffe, du bringst ein bisschen Durst mit?“
Lucien kam in diesem Moment nicht umhin, sich zu fragen, was Liam zu seinem Angebot bewog. Zu dem Wunsch, ihm zu zeigen, was genau er unter Leidenschaft verstand. Denn offensichtlich hatte es mit rein körperlicher Begierde wenig zu tun. Dann würde es ihm nicht so widerstreben, auch dafür zu zahlen. Also ein unerschütterlicher Romantiker? Gegen einen eingefleischten Pragmatiker, wie es der junge Captain war? Auf Liams Schulterzucken, das gelassene 'wir werden sehen' konnte der 21-Jährige sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ganz egal, wie dieser Abend verlaufen würde – eigentlich konnte es nur lustig werden. Und wer weiß? Vielleicht waren sie sich doch ähnlicher, als er es in diesem Augenblick vermutete. Zumindest eines, dessen waren sich vermutlich beide Männer nicht einmal bewusst, einte sie schon jetzt: Selbst wenn keiner von ihnen am Ende zwischen den Beinen einer Frau landete, bedeuteten auch für Lucien gute Gesellschaft und angeregte Gespräche schon einen gelungenen Abend. Genau deshalb ließ er sich darauf ein. „Ich bringe immer Durst mit.“, versicherte er seinem Begleiter mit einem Lachen in der Stimme. Ohne einen Blick zurück zu werfen, schloss er sich dem Älteren an, verschränkte in einer Geste der Gelassenheit die Arme am Hinterkopf und maß den Weg, den sie beschritten mit einem kurzen Blick. Er würde sie weiter vom Hafen wegführen, in dem sich die düstersten Spelunken häuften. Tiefer hinein in die kleine Stadt, wo das Leben teurer wurde. Es kam Lucien nur gelegen. „Ich hoffe nur, dort gibt es auch die ein oder andere Frau, die unseren Ansprüchen genügt..“, gab er mit unüberhörbar amüsiertem Ton zu bedenken.
iam war alles andere als berechnend. Aus der offenherzigen Einladung, sich gemeinsam in einer der Tavernen niederzulassen und nach einer möglichen Verbindung für Lucien Ausschau zu halten, versprach er sich tatsächlich nicht mehr als eben das: einen angenehmen Abend, den er ansonsten auch allein verbracht hätte. Der Lockenkopf lebte im Augenblick, tat, was ihm in den Sinn kam und war nicht wirklich auf Vorteile aus, ganz egal, mit welcher Gesellschaft er sich umgab. Und Lucien war für ihn im Augenblick auch nicht mehr als ein Mitglied der Crew, mit der er zur Zeit segelte, kein Captain. Diese Rolle verlangen genügend andere Crewmitglieder von ihm. Mit einem Lächeln und einer eindeutigen Handbewegung bedeutete er dem Jüngeren, dass Durst schon mal eine ziemlich gute Voraussetzung für den Abend war, ehe er die Hände in seinen Taschen verbarg und die Straße entlang in die Richtung schlenderte, in der er das Gasthaus vermutete, an das er sich dumpf erinnerte. „Das kommt ganz darauf an, worauf du abzielst.“, lachte er bei Luciens Bedenken und warf ihm einen amüsierten Seitenblick zu. Allzu wählerisch schätzte er den jungen Captain allerdings nicht ein – im Augenblick jedenfalls. Er trieb sich nach Jahren in Gefangenschaft immerhin nicht grundlos in den Bordellen herum. Aber das war nichts, worüber Liam groß urteilte. Vorallem: Selbst wenn etwas für sie dabei war, bedeutete das noch lange keinen Erfolg. Es gehörte immer noch zwei dazu, immerhin war es mit Nichten seine Absicht gewesen, Lucien zu einer Vergewaltigung einzuladen. Bei diesem Gedanken vermied der Lockenkopf einen kurzen Seitenblick, entschied aber, den Jüngeren vielleicht etwas im Auge zu behalten. Man wusste immerhin nie, auf welche Idee diese Piraten kamen, auch wenn man es ihnen nicht zutraute. „Aber vielleicht profitieren wir noch ein bisschen von der feierlichen Stimmung.“
„Naja, zumindest hübsch sollten sie sein, finde ich.“, antwortete der Dunkelhaarige in gespielt grüblerischem Ton und sah von der Seite her zu seinem Gesprächspartner hinüber. In den tiefgrünen Augen lag unverfänglich amüsierte Gelassenheit. Aber auch ein gänzlich unergründlicher Ausdruck, der dazu nicht zu passen schien. Seine Antwort ließ zwar etwas anderes vermuten, doch es gehörte für ihn tatsächlich noch weit mehr dazu. Die Optik mochte das Merkmal sein, das sich wie ein Schema durch sämtliche seiner Liebschaften zog, aber er hatte, je nach Stimmung, sehr ausgeprägte Ansprüche. Es passte nur nicht in das Bild, dass sich andere von ihm machten – und Lucien hatte nicht die Absicht, ein anderes zu zeichnen, weshalb er es dabei beließ. Gerade jetzt versprach Liams Gesellschaft ohnehin mehr als genug Ablenkung, sodass es ihm bei den Frauen relativ egal sein konnte. „Und ganz bestimmt.“, fügte er optimistisch hinten an. „Es ist ja erst ein paar Tage her.“ Wie zur Bestätigung seiner Worte passierten sie in diesem Moment eine Seitengasse, in der sich eine Gruppe von Menschen ausgelassen vor der Tür einer Schankstube tummelten. Der Gesang und der Lärm, der durch das geschlossene Holz drang, legte die Vermutung nahe, dass darin ausgelassene Stimmung herrschte. Lucien warf dem Älteren neben sich einen fragenden Blick zu.
„Wenn das dein einziger Anspruch ist…“, lachte er gutgelaunt, ohne weiter darauf einzugehen. Der Abend würde vermutlich eine gute Möglichkeit bieten, seinen neuen Captain etwas besser einschätzen zu können. Wahrscheinlich allerdings würde Liam – so wenig berechnend wie er eben war – eher darauf achten, ihren kleinen Ausflug zu genießen, statt zu versuchen, irgendeinen Vorteil aus ihrer gemeinsamen Unternehmung zu ziehen. Es war zu selbstverständlich für ihn, mit flüchtigen Bekanntschaften aus allen Welten umzugehen, sie sein zu lassen, wie sie waren und den Augenblick zu leben, statt über ihr Benehmen oder ihre Ansichten zu urteilen. Meistens sah er die Leute nie wieder. Und auch, wenn er sich nun bereits mehrfach dazu entschieden hatte, die Sphinx vorerst weiter zu begleiten, würde er dieses Verhalten eher nicht allzu bald ablegen. Ob sie mit ihren Erfolgsaussichten jedenfalls recht behielten, würde sich im Laufe der Nacht zeigen. Die Voraussetzungen klangen schon einmal gut, wenn man den Lautstärkepegel bedachte, der aus einer der Tavernen drang, auf die Lucien ihn soeben aufmerksam gemacht hatte. Der Lockenkopf nickte einverstanden und sie steuerten zielstrebig auf die Tür zu, um sich selbst ein Plätzchen in der Stube zu suchen. Als Liam die Tür aufschob, kam ihnen eine Wolke aus stickiger Luft entgegen, die Tabak und Alkohol erahnen ließ. Der Raum war gut gefüllt. Mit dem Kinn wies er dem Jüngeren auf einen der wenigen leeren Tische hin und bahnte sich sogleich einen Weg dorthin, um sich erst einmal einen Überblick verschaffen zu können. Und natürlich, den Durst zu löschen, bevor sie weitersehen würden. „Die scheinen alle noch nicht genug vom Feiern zu haben.“, stellte er im Hinblick auf ihre Vermutung von draußen positiv überrascht fest, während er eine hagere Gestalt dabei beobachtete, Bierkrüge durch die Reihen zu balancieren. „Milúi scheint ein recht aufgewecktes Völkchen zu sein. Gefällt mir.“