11.01.2019, 01:52
Gesichter der Vergangenheit 2:
Vögel im goldenen Käfig
Vögel im goldenen Käfig
"Sleep in peace, you members of the jury who condemned me to this place; sleep in peace."
Henri Charrière, Papillon
Henri Charrière, Papillon
Das Licht der Morgensonne fiel golden durch den Spalt zwischen den Vorhängen und erhellte, zusammen mit einigen Kerzen, den Raum spärlich. Joannas Hand tauchte hinein, griff die Kante des Stoffes und zog sie leise über die Andere. Sie hatte Anweisung, van der Meers Zimmer bis zum nachmittägliche Besuch des Arztes Dunkel zu halten. Zumindest bis sie durch den Gast eine andere Anweisung erhielte.
Der Herr hatte lange geschlafen, nachdem sie ihm gegen Mitternacht ins Bett geholfen hatte. Vielleicht hatte er es gebraucht, vielleicht lag es auch am Tee, den die Herrin des Hauses verordnet hatte. Diesem Hexenwerk war alles zuzutrauen. Selbst nach all den Jahren betrachtete das Dienstmädchen die Herrin mit einer gehörigen Portion Skepsis.
Jetzt war es kurz nach der Unterrichtszeit des jüngeren jungen Herren und der hatte darauf bestanden, dass sie dem Gast Frühstück bereite, und ihm bescheid gäbe sobald er wach würde. Der Herr hätte mit ihm und seiner Schwester frühstücken wollen und auch wenn es jetzt Teezeit war, so wäre der Seemann sicher nicht an Kuchen und Süßigkeiten interessiert.
"Frühstück um diese Zeit! Was wird dem jungen Herrn wohl als nächstes einfallen?", meinte sie zu den geschlossenen Vorhängen. Sie sprach weder laut, noch flüsterte sie, so wie es vom Personal erwartet wurde. "Vielleicht Reitunterricht in der Guten Stube?"
Sie schüttelte den Kopf und ging zum Tisch um ihn einzudecken. Leise klang Porzellan und klackte Besteck. Die Geräusche waren so leise, sogar ein geflüstertes Gespräch hätte sie wahrscheinlich übertönt, doch da es sonst still war im Raum drangen sie gedämpft auch durch den Betthimmel an das Ohr des Schlafenden.
"Bestimmt liegt es an den seltsamen Gepflogenheiten der Hausherrin", grübelte sie leise weiter. "Immerhin ist sie eine Arak, wenn auch eine überraschend zivilisierte. Und eine ausnehmend nette Person. Eigen aber wirklich sehr nett."
Das Fauchen eines Streichholz war zu vernehmen, kurz darauf klackte erneut Geschirr.
"Na, wenigstens das ist fast wie es zur Teezeit gehört."
Normalerweise würden die Speisen und Getränke zu einem vereinbarten Zeitpunkt gemacht und gebracht und nicht auf einem Stövchen warm gehalten, aber das war noch etwas, mit dem sie leben konnte, das vorkam, wenn der Hausherr sich verspätete oder jemand krank war, aber Frühstück am Nachmittag? Ein Unding was die Etikette betraf.
Sie horchte auf:
Hatte sich etwas im Bett geregt?
Dann machte sie weiter, fing an Alles an Lebensmitteln bereitzustellen, dass nicht möglichst kühl gelagert werden musste. Ab jetzt vermied sie es auch laut zu denken und fürchtete Cornelis hätte etwas von dem Gesagten gehört...
Nur langsam drang das Hier und Jetzt durch den Schlaf der Genesung, der Cornelis seit der späten Nacht in seinem Bann hielt. Als erstes hörte er ein zischendes Geräusch, das ihn zunächst verwirrte, das er danach jedoch als das Zünden eines Streichholzes einordnen konnte. Mit einem leisen, unwilligen Brummen wandte er den Kopf von der Wandseite um in Richtung der Geräusche, die nun in sein Bewußtsein drangen. Die leisen Worte des Mädchens waren bis dahin noch nicht zum ihm vorgedrungen, so daß er nicht wußte, was sie vor sich hingemurmelt hatte.
Einen Moment lag er nun wach in dem Bett und öffnete die Augen nicht. Ihm graute vor dem Gedanken, die Lider zu heben und sich dennoch in völliger Dunkelheit wiederzufinden. Doch schließlich seufzte er tief und öffnete langsam die Augen.
Doch was war das?! Ein heller Punkt befand sich in seinem sonst noch dunklem Gesichtsfeld. Es war die Flamme der Kerze, was er jedoch noch nicht erkennen konnte. Ungläubig schloß er die Augen noch einmal und öffnete sie dann wieder. Doch der helle Punkt verschwand nicht!
Ein Laut von Überraschung und Freude sprang von seinen Lippen. In der Aufregung seinen lädierten Kopf vergessend, erhob er sich zu schnell aus den Kissen, so daß der einsetzende stechende Schmerz im Kopf ein gequältes Stöhnen von seinen Lippen riß, doch hinderte es ihn nicht daran, sich vollends aufzusetzen und die Beine über die Bettkante zu schwingen.
"Enrique!", rief er halblaut, in der Erregung die Möglichkeit, daß der Junge nicht hier sein könnte, gar nicht erst in Betracht ziehend. "Enrique, es kommt wieder!" Ein kurzes Stocken, dann wurde aus dem Ruf eher ein Flüstern: "Bei den Göttern, es kommt wieder - ich werde wieder sehen können." Danach erstarb Cornelis´ Stimme in einem halb unterdrücktem Schluchzer und heiße Tränen der Erleichterung und Freude liefen sein Gesicht hinab, das er inzwischen in seinen großen Pranken verborgen hatte.
Joanna richtete die letzte Gabel und bewegte sich anschließend mit dem Tablett Richtung Tür, öffnete diese und stellte das Tablett auf den Küchenwagen. Dann schloss sie leise die Zimmertür.
Sie wollte sich gerade auf den Stuhl vor der Tür setzen und weiterstricken, als Cornelis Ausruf sie überrascht inne halten ließ.
Eilig legte sie die Sachen zurück und eilte wieder hinein, auch dieses Mal die Tür sorgfältig schließend. Leise Schritte bewegten sich auf Cornelis zu. Dabei ergriff sie das Wort:
"Herr? Geht es ihnen gut? Ist alles in Ordnung? Oh Gott, Herr, ihr solltet liegen bleiben!"
Das Zimmermädchen hielt abermals inne, wusste nicht, ob sie Cornelis zurück ins Bett befördern sollte oder nicht. Da sie Anweisung hatte den Besuch nicht alleine zu lassen betätigte sie die Klingelschnur.
"Soll ich den Arzt rufen lassen Herr?"
Cornelis hörte die Schritte erst gar nicht und wurde durch die halblaut gesprochenen Worte der jungen Frau aufgeschreckt. Schnell richtete er sich etwas auf und wischte zuvor noch verstohlen die Tränen aus seinem Gesicht. Er richtete sein Gesicht in Richtung der Stimme aus... Bewegten sich dort nicht die Schatten ein wenig? Ein erleichtertes und freudiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht und seine Augen richteten sich sogar grob auf Joannas aus, auch wenn sie sie noch nicht wirklich zu fixieren vermochten.
Er schloß für einen Moment überlegend die Augen. Er kannte diese Stimme doch...
"Ach, Joanna, richtig? Sie waren heute Nacht schon bei mir, oder wann es war als ich ins Bett gegangen bin. Ob alles gut ist, fragen Sie? Es ist besser, alles WIRD wieder gut. Da, ich sehe es."
Sein Blick richtete sich gen dem Tisch und auf die Flamme der Kerze aus. "Dort ist ein Licht in der Dunkelheit." Seine Stimme klang nun erstickt und ganz gegen seine sonstige Beherrschung stahlen sich zwei Tränen aus seinen Augenwinkeln. Hatte er doch noch gestern gedacht, sein Leben sei endgültig vorbei, konnte er nun wieder Hoffnung schöpfen, daß alles wie früher wurde.
Unbeweglich starrte er in Richtung der Kerze, diesem kleinen Licht der Hoffnung. Er wandte auch den Blick nicht ab, als er Joanna auf ihre letzte Frage antwortete.
"Nein, ich brauche keinen Arzt. Der Junge, Enrique, können Sie ihn holen?" Er hatte das Gefühl, daß er es dem Knaben, der sich am Vortag so rührend um ihn gekümmert hatte, schuldig war direkt mitzuteilen, daß es ihm besser ging.
"Bitte verzeiht Herr, ich wollte euch nicht erschrecken!", entschuldigte sich Joanna und war erleichtert, als sie das Strahlen auf seinem Gesicht sah.
Noch ein emotionaler Mann in diesem Haus.
Dem jungen Herrn kam der Steuermann zwar nicht gleich aber gut, dass mochte erklären, warum Enrique diesen hierher gebracht hatte.
"Ja Herr, das war ich."
Ihr Blick folgte seinem grob zur Kerze.
"Das freut mich zu hören."
Sie lächelte und dachte sich ihren Teil, da sie Cornelis empfinden nicht nachvollziehen konnte, noch nie in so einer Situation gewesen war.
"Ich— Ja?"
Ein leises Klopfen unterbrach sie. Die Tür wurde geöffnet und jemand trat ein. Wie sie erwartet hatte war es der Butler des Hauses.
"Was gibt es, Joanna?"
"Würdet ihr bitte dem jüngeren jungen Herrn und der jungen Herrin bescheid geben, dass unser Gast bereit ist?"
"Braucht der Herr sonst noch etwas?"
Sie wandte sich zu Cornelis:
"Brauchen Sie sonst noch etwas? Und es ist ihnen doch recht? Die jungen Herrschaften sagten, sie hätten zusammen speisen wollen und alles ist dafür bereit."
Cornelis irritierte es schon, daß er hier immer "Herr" genannt wurde, doch er war in diesem Hause Gast und würde sich den gegebenen Gepflogenheiten beugen. Auf Joannas Entschuldigung hin winkte er nur ab, war er doch im Moment viel zu froh, um auch nur irgendetwas krumm zu nehmen.
Dann wurde an die Tür geklopft und er hörte eine weitere Stimme, die Stimme eines Mannes, der fragte, was es gäbe. Cornelis hatte sich inzwischen wieder völlig unter Kontrolle und die Tränenspuren endgültig aus seinem Gesicht gewischt. Doch runzelte er die Stirn, als der Butler sprach. Das war eins der Dinge, die ihn am meisten störte: Menschen sprechen zu hören, die er nicht sehen konnte.
Auf die Nachfrage, ob er noch etwas bräuchte, antwortete er: "Es wäre nett, wenn Sie mir etwas zu trinken geben würden. Mein Mund ist so trocken wie die Wüste. Ansonsten warte ich jetzt auf die jungen Herrschaften." Wobei er die "jungen Herrschaften" in leicht amüsiertem Ton aussprach.
"Sehr wohl Herr."
Joanna knickste aus reiner Gewohnheit. Dann griff sie zum Krug und goss Wasser in das Glas, das sie Cornelis dann vom Nachtschrank reichte.
Der Butler schloss leise die Tür von außen und ging.
***
"Er ist endlich wieder waaahhhAAACH!", rief Enrique von der Tür.
Isabella zuckte nur leicht zusammen und lächelte ihren Bruder an.
"Geh schon!", antwortete sie leise, "ich bin nicht so schnell wie du."
"Nichts da!"
Er stürmte zu ihr, ergriff ihre Hand und zog sie erst auf die Beine, dann hinter sich her.
"Wir sollen doch im Haus nicht laufen!", mahnte sie heiter.
"Aber van der Meer wartet!"
Und so eilten sie Hand in Hand zu den Gästezimmern.
***
Derweil hatte Joanna den Verletzten zum Tisch geleitet, der Butler das Essen gebracht und Letztere sich wieder verabschiedet.
*
Vor der Tür wurden sie dann doch langsamer, zum einen konnte Joanna wieder dort sitzen, falls Cornelis sie dorthin gebeten hatte, zum anderen war Enrique plötzlich überraschend nervös. Seit dem Abendessen ging ihm eine Idee im Kopf herum und er musste sie unbedingt Cornelis unterbreiten. Was aber, wenn er gar nicht darüber reden wollte oder sie ihm nicht gefiele?
Und so war es das Mädchen, das am Ende den Jungen mitbrachte und klopfte.
*
"Ihr Besuch ist hier Herr."
Joanna hatte die Tür geöffnet. Isabella zog ihren Bruder mit hinein, der am liebsten wieder umgedreht wäre.
"Guten Tag Señor!", wünschte sie leise.
"¡B-Buenas tardes!", kam es daraufhin genuschelt von ihrem Begleiter.
Enrique war hochrot im Gesicht und völlig verunsichert, auch weil er keine Ahnung hatte, in welchem Zustand der Steuermann war oder welche Laune der hatte. Ein Was-wäre-wenn-Szenario nach dem anderen lief in seinem Kopf schlimmer and schlimmer aus dem Ruder...
Cornelis trank das Wasser und reichte den Becher dankend Joanna zurück. Danach ließ er sich brav von dieser an den Tisch führen und auf den Stuhl bugsieren. Wäre ihm das gestern noch zutiefst zuwider gewesen, vermochte es heute seine Laune um kein Stück zu trüben. Statt dessen saß er nun mit freudigem Lächeln am Tisch und hielt seinen Blick weiterhin auf dieses nun ein wenig größer gewordene Licht gerichtet, das zu ihm durchdrang.
Als es an der Tür klopfte, wandte er den Blick in diese Richtung. Und wieder schienen die Schatten nicht mehr ganz so durchdringend zu sein und sich zu bewegen. Dementsprechend war sein Blick auch grob auf die beiden Ankömmlinge ausgerichtet, als diese den Raum betraten. Auf ihre Begrüßung entgegnete er in einem Ton, der freudiger nicht sein konnte: "Hallo ihr beiden. Mögt ihr meiner Einladung folgen und mit mir essen?" Dann glitt sein Blick zurück zur Kerze, blieb gebannt an der Flamme hängen und man konnte sehen, daß seine Augen tatsächlich darauf ausgerichtet waren!
"Si Señor. Sehr gerne", erwiderte das Mädchen leise.
Isabella lächelte ob Cornelis guter Laune und bugsierte ihren Bruder zu einem der Stühle. Danach ließ sie sich auf den Anderen helfen.
Derweil führte das Dienstmädchen die Hand des Steuermannes sanft über den Tisch.
"Hier steht ihre Tasse Herr. Sagen sie mir einfach ob sie Tee oder Kaffee möchten.
"Hier steht ihr Teller.
"Hier drüben sind Sandwiches, rechts mit Käse und Gurke, links mit Hühnchen und Tomate.
"Hier stehen Haferflocken. Milch, Sahne, Früchte, Zimt oder Zucker kann ich ihnen gerne hineinmischen.
"Ansonsten stehen Toast, Rührei, gebackene Bohnen, Würstchen, Lachs und Hering bereit. Oder falls Ihnen danach ist auch Marmelade, Honig und Pflaumenmus."
Dann wartete sie darauf, dass der Herr sein Frühstück wählte.
Joanna zog sich danach in den Hintergrund zurück, darauf wartend, ob die Herrschaften noch etwas bräuchten.
Enrique betrachtete zunächst Cornelis Gesicht und folgte dessen Blick.
Konnte der die Kerze etwa sehen? Oder gar wieder alles? Falls ja wäre es das mit seiner schönen Idee.
Im Gegensatz zu sonst fehlten ihm auch deshalb immer noch die Worte, obwohl es ihn freute, dass der Seebär guter Stimmung war.
"Sags ihm", flüsterte Isabella Enrique zu. Die Idee stimmte sie zwar traurig aber sie hatte auch schöne Seiten.
Erst wollte er protestieren, dann meinte er kleinlaut:
"Ich hatte gestern Abend eine Idee, die Ihnen helfen könnte... Falls sie sie überhaupt noch brauchen."
Er hatte sich und Isabella das ganze so schön ausgemalt, sich überlegt, wie der Rotbart darauf reagieren könnte. Und jetzt? Jetzt war das bestimmt nicht mehr nötig...
Cornelis ließ sich von Joanna einen Kaffee mit viel Zucker und Milch machen. Dann ließ er brav seine Hand führen um zu erfahren, wo was stand. Doch irgendwann mittendrin zog er seine Hand zurück und sagte lachend:
"Danke, aber das reicht. Ich bleibe bei den Butterbroten, die kann ich wenigstens halbwegs unfallfrei essen im Moment."
So schob er vorsichtig seine Hand nach vorne in die Richtung, in der das Dienstmädchen ihm zuvor die Sandwiches gezeigt hatte. Dabei stieß er an das Zuckerdöschen und warf dieses um. Nein, seine Bewegungen machten eindeutig, daß er noch nicht viel wieder sah, wenn überhaupt. Aber er schaffte es doch, sich eines von den fertigen Broten auf seinen Teller zu legen, auch wenn es nicht in der Mitte, sondern ziemlich an einem Rand zu liegen kam.
Mit freudestrahlendem Gesicht wandte er sein Antlitz in die Richtungen, aus denen er zuletzt die Stimmen der Kinder vernommen hatte.
"Enrique, Isabella, da ist ein Licht. Ein Licht durchdringt die Dunkelheit - jetzt wird alles wieder gut."
Und er sah wieder zur Kerze und streckte die Hand nach der Flamme aus. Da er jedoch Entfernungen noch nicht wieder einschätzen konnte, langte er in die Flamme hinein und zog die Hand schnell und leicht wedelnd wieder zurück. Danach erfüllte sein tiefes Lachen das Zimmer, das, durchtränkt mit soviel Freude, einfach nur ansteckend war.
Danach eröffnete Enrique ihm, daß er eine Idee gehabt hätte, und er wandte seinen Blick wieder dem Jungen zu, wobei er diesen noch nicht zu fixieren vermochte, da das Gesicht noch in den Schatten lag.
"Ja, du hattest eine Idee für mich? Dann immer heraus damit. Bis jetzt war deine Hilfe jedenfalls sehr gut."
"Vorsicht Herr!"
Joanna trat sofort herbei, schob ihm die Sandwiches näher und kümmerte sich anschließend um den Zucker.
Dann teilte er sich den Kindern mit.
"Wie schön!"
Isabella klatschte begeistert in die Hände. Da erklang schon von der anderen Seite ein möglicherweise vertrauter Warnruf:
"¡Ojo!"
Doch Enrique war dieses Mal nicht schnell genug um Schaden von Cornelis abzuwenden. Stattdessen stieß er seinen Tee und den Kerzenhalter um und stürzte die Kerze auf den Aufschnitt.
Joanna betrachtete die Katastrophe mit resignierter Gelassenheit. Jetzt wusste sie, welches Chaos der Junge Herr bei diesem Essen anrichten würde und hoffte, dass es nicht noch mehr werden würde. Sie eilte zu ihm.
"Junger Herr, eure Hilfsbereitschaft ehrt euch, aber bitte gebt ein wenig mehr acht auf das was ihr tut. Jetzt habt ihr euch überall bekleckert."
"¡Lo siento, Joanna! Aber das ist nur Tee auf der Kleidung und die kann man waschen. Das tut nicht weh. Wenn man sich verbrennt schon."
Das Zimmermädchen seufzte Verhalten und knickste. Dann kümmerte sie sich weiter um die Eingrenzung der Überflutung.
Ob van der Meers Lachen musste aber auch sie schmunzeln.
Nur Enrique brauchte einen Moment länger und so musste ihr Besuch tatsächlich nachfragen.
"Ich— Ich—“
Da hatte er plötzlich die Erkenntnis, dass das so ja noch viel besser war und seine Begeisterung sprudelte über:
"Aber das ist ja wunderbar Sir! Dann werden sie bestimmt auch wieder richtig sehen können. Und bis dahin werde ich für sie gucken! Dann brauchen wir nämlich nicht bis dahin zu warten sondern können sofort los — oder spätestens dann wenn sie sich wieder richtig fit fühlen. Es geht ihnen doch schon besser, richtig? Und sie wollen doch bestimmt nicht im Bett liegen bleiben oder? Also werde ich ihre Augen sein! Dann können wir zusammen die Inselwelten erkunden. Ich sage ihnen was ich sehe und sie sagen mir wo ich hingucken muß oder wie ich die Instrumente lese, damit ich ihnen sagen kann was die anzeigen. Und später können sie mir dann auch richtig den Rest beibringen! Ich will nämlich auch zur See fahren. Ich dachte zwar erst an später aber warum nicht jetzt? So hätten wir nämlich beide was davon. Wir müssen nur noch ihren Capitán überzeugen Sir."
Kurz hielt er inne und besann sich, dass es unhöflichen war etwas über den Kopf einer anderen Person zu entscheiden. Also fragte er:
"Und? Was meinen sie? Wäre das nicht was?"
Voll Hoffnung und Begeisterung sah er zu Cornelis auf und wartete auf dessen Antwort.
Cornelis hörte ein Scheppern, als Enrique seine Tasse umkippte, dann sah er das Licht sich senken und erlöschen, als das Wachs den Docht übergoß. Sofort wurde ihm wieder mulmig zumute, als die Dunkelheit von ihm erneut Besitz ergriff. Deshalb erstarb sein Lachen auch ziemlich aprupt und er bat:
"Bitte, kann das Licht wieder angezündet werden."
Als dies geschehen war, folgte er Enriques Ausführungen, wobei sein Gesichtsausdruck immer zweifelnder wurde.
"Nun ja", begann er vorsichtig. "Ich weiß ja nicht genau, wie alt du bist, aber mit 12 wurde ich Schiffsjunge. Ich glaube, du bist auch nicht weit davon weg, so wie ich deine Stimme einschätze. Aber: Was würden deine Eltern dazu sagen? Und wenn du es um jeden Preis willst, so wie ich damals, müßtest du bereit sein, von Zuhause wegzugehen und die Möglichkeit in Kauf nehmen können, daß du nie wieder zurückkehren kannst. Könntest du das wirklich?"
Er schwieg einen kurzen Moment. "Mal ganz abgesehen davon, daß eine gute schulische Ausbildung dir im Leben oftmals weiterhelfen kann. Und ich denke doch, daß du diese hier bekommst." Er dachte dabei an das, was er vom Hause Don Jorges bisher mitbekommen hatte - Dienstmädchen und Butler... das waren keine armen Leute.
Der Steuermann hatte kaum die Bitte geäußert, da fauchte auch schon wieder ein Streichholz und brachte den Lichtpunkt zurück.
"¡Lo siento Sir!", kam es dabei leise von Enrique in Cornelis Richtung. Direkt danach befand er sich dann mit Joanna im Gespräch.
Als sein Vorschlag dann auf wenig Gegenliebe zu stoßen schien bildete sich ein Klumpen in der Magengegend des Jungen.
"Ich bin jetzt bald 11", erklärte er dann, während er überlegte, wie er van der Meer doch überzeugen könnte, "also gar nicht weit davon weg! Bibi wird es mir bestimmt erlauben und Baba kriege ich auch noch überzeugt, dass das für mich besser ist als Händler zu werden. Und selbst wenn ich nicht zurückkommen kann, dann treffen wir uns eben bei unserer Großmutter Isa. Da kann Baba nichts gegen machen! Das geht schon Sir."
Anfangs unsicher mischte sich nach und nach wieder mehr Begeisterung in Enriques Stimme, je mehr er Lösungen fand.
"Aber wenn sie wirklich meinen ich soll erst noch lernen, dann... Dann lerne ich hier eben noch bis ich genug weiß und sie können mir die Sachen erklären, die ich dann später auf See brauche. Und wenn ich dann genug weiß, dann komme ich mit auf See. Bis dahin haben meine Eltern dann auch bestimmt nichts mehr dagegen!"
Wieder strahlte er über das ganze Gesicht.
"Das wird bestimmt wundervoll! Meinen Sie nicht auch? Und wir haben Zeit das mit 'ich gucke für sie' zu üben, bis sie wieder richtig schauen können, dann wird das auf See auch nicht so gefährlich, dann können wir das ja schon oder sie wieder richtig sehen. Das ist also auch gar nicht so schlecht meint ihr nicht?"
Er sah zwischen den Beiden hin und her und erhielt von Isabella ein warmes, glückliches Lächeln.
“Und Isa kann Anfangs mit uns kommen, oder? Dann macht das alles noch viel mehr Spaß!"
Das Mädchen kicherte hinter vorgehaltener Hand.
Sofort erschien wieder das glückliche Lächeln auf Cornelis´ Gesicht, als der Lichtpunkt zurückgekehrt war. Er lauschte Enriques Ausführungen, dabei führte er das Sandwich zum Mund und aß es mit einigen großen Bissen einfach auf. Man konnte sehen, daß er es gewohnt war schnell zu essen, da auf dem Schiff oftmals nicht die Zeit für lange Mahlzeiten war.
Als der Junge geendet hatte nickte er.
"Ja, ich denke auch es ist das beste, wenn du zunächst einmal deine Ausbildung fortführst. Und wenn du dann immer noch zur See fahren möchtest, dann bringe ich dich gerne dorthin. Da drehe ich dann schon etwas für dich.
Aber jetzt können wir das gerne machen, daß du meine Augen bist und natürlich darf uns Isa gerne begleiten, wenn sie möchte."
Danach bat er darum, daß jemand seine Hand zu seiner Tasse führen möge, damit er seinen Kaffee trinken konnte.
"Ich weiß jetzt schon, dass ich dann immer noch zur See fahren will! Ganz bestimmt!", sprudelte es weiter aus ihm heraus.
Joanna half Cornelis derweil beim Trinken.
"Ich kenne jetzt schon fast alle Geschichten über Don Martin. Señor Cortés war nahezu überall, sooo viel hat er entdeckt! Und genau das will ich auch machen. Ich will ein genau so berühmter Entdecker werden!
"Oder wie Philippe Soar gegen Piraten kämpfen oder mit Tairani guami'roa durch einen Huraca'n segeln oder wie Steven Lovejoy gegen Seeungeheuer kämpfen und Schätze heben. Oder wie Señor Alfredo Garcia die Schiffahrt revolt- reval- grundlegend erneuern oder wie Anacaona gegen Riesen Kämpfen..."
Er versuchte sich zu bremsen, aber er war Feuer und Flamme, Namen purzelten nur so von seinen Lippen, reale und fiktive Personen, Seefahrer, Abenteurer, Ingenieure, Navigatoren, Schiffsbauer, Ärzte, Wissenschaftler und Entdecker aller Stände und Bekanntheit gaben sich eine Stelldichein. Ob gelesen oder erzählt bekommen, er kannte sie alle.
Waren Cornelis die Namen unbekannt, so bräuchte er das nur zu erwähnen und der Zehnjährige würde anfangen dem Steuermann von ihnen zu erzählen.
Isabella genoss den fröhlichen, nur gelegentlich unterbrochenen Redefluss und das glückliche Lächeln des Seemanns. Ihr war es recht still dabeizusitzen.
So Cornelis Enrique nicht unterbrechen würde um selbst ein Thema anzuschneiden oder den Tisch zu verlassen wären sie also gut unterhalten. Auch Enrique war ein schneller Esser, gab es doch so viel zu tun oder zu sagen. Darüber vergaß er nur für eine kleine Weile seinen Plan, danach fing er an, Joannas Aufgabe zu übernehmen und Cornelis beim Essen zu helfen.
Sie waren schon eine kleine Weile damit fertig als es an die Tür klopfte und der Butler damit den Jungen unterbrach:
"Doctor Carstairs ist hier. Ich werde ihn verständigen, sobald die Herrschaften bereit sind ihn zu empfangen."
Dabei sah und sprach er hauptsächlich Cornelis an und wartete auf dessen Reaktion, auch wenn Enrique bereits antwortete:
"Dann holen sie ihn! Wir haben wunderbare Neuigkeiten für ihn!"
Natürlich kannte auch Cornelis als eingefleischter Seebär all die Namen und so waren er und Enrique bald in ein angeregtes Gespräch über diesen oder jenen Kapitän oder Entdecker verstrickt. Dabei frühstückte Cornelis mit Hilfe des Jungen ausgiebig und lehnte sich schließlich gemütlich im Stuhl zurück, um das Gespräch weiterzuführen.
Nur eine kleine Weile später klopfte es an der Tür und der Butler kündigte die Ankunft des Arztes an. Cornelis schmunzelte, als Enrique ihm aufgeregt die Antwort vorausnahm und bestätigte seine Worte gegenüber dem Butler. Während sie nun darauf warteten, daß dieser mit dem Arzt zurückkehren würde, fragte Cornelis Enrique:
"Möchtest du eurem Arzt von meinen Fortschritten berichten?" Er glaubte, dem Jungen einen Gefallen damit zu tun, ihm eine so "wichtige" Aufgabe zu übertragen.
Hätte Enrique darüber nachgedacht, ihn hätte es wohl irritiert, dass Cornelis nicht nach den Helden der Ara'tayu fragte, doch es gab zu viele Seefahrer, über die sie reden konnten, da waren sie längst ganz woanders.
Joanna beobachtete das Ganze missbilligend. Dieser Gast ließ den jungen Herren gänzlich seine Manieren vergessen! Er schlang, sprach mit vollem Mund, ignorierte die Servietten, fragte nicht ob er aufstehen dürfe und benahm sich auch sonst nicht gerade vorbildlich.
Sie musste ihm aber zu Gute halten, dass er sich zur vollsten Zufriedenheit des Steuermannes um eben jenen kümmerte, darauf achtete, nichts weiter umzuwerfen und zudem gute Laune verbreitete.
Insgesamt war sie vor allem froh, dass der Hausherr nicht anwesend war und sehr erleichtert, als sie endlich das Essen abtragen konnte.
"Ich Sir? Vielen Dank Sir, aber nein. Señor Carstairs wird das von ihnen hören wollen. Außerdem kann ich doch gar nicht wissen, wie sie sich genau fühlen. Das sage ich ihm jedes Mal, wenn er fragt: 'Wie fühlen wir uns Heute?' Inzwischen fragt er auch eher, wie es mir geht."
Kurz darauf klopfte es erneut an der Tür und der Butler kündigte den Arzt an, der dann auch mit einem freundlichen, ruhigen "Guten Tag" das Gästezimmer betrat.
"¡Hola Señor Carstairs! Kommen sie rein! Es gibt wunderbare Neuigkeiten!"
"Langsam junger Mann! Ich glaube, in diesem Fall haben wir durchaus etwas Zeit."
Der Neuankömmling klang trotzdem recht erheitert und er musste sich doch recht schnell genähert haben, denn schon legte der Junge die Hände der beiden Älteren in einander.
"Ich freue mich sie endlich auch im Wachen und bei bester Laune kennen zu lernen, Herr van der Meer!"
Der Griff der schlanken Hand des Arztes war eher leicht aber nicht ohne Vitalität.
"Wollen wir dann gleich mit der Untersuchung anfangen oder wollen sie zunächst berichten?"
Cornelis lachte kurz erheitert auf, als Enrique davon erzählte, daß er ja nicht wissen könnte, wie sich Dr. Carstairs genau fühlen würde. Dann klopfte es auch schon erneut an der Tür, der Butler kündigte den Arzt an und Dr. Carstairs betrat mit einem Gruß das Zimmer. Cornelis wandte den Kopf und stellte erneut zu seiner Zufriedenheit fest, daß dort Bewegung in den Schatten war, wenn auch noch nicht sehr deutlich.
"Guten Tag, Sir."
Er schmunzelte, als Enrique ganz aufgeregt von den wundervollen Neuigkeiten sprach.
"In der Tat habe ich beste Laune. Mir geht es auch ausgezeichnet. Zwar brummt mein Schädel noch ganz gut, aber sehen Sie das Licht dort?" Er hob die Hand und deutete in Richtung der Kerze auf dem Tisch. "Ich sehe es auch wieder. Das bedeutet doch wohl, daß ich mein Augenlicht zurückbekommen werde? Und von mir aus können wir jetzt auch mit der Untersuchung beginnen."
Bei seiner guten Laune ließ er alles, was folgen würde, geduldig über sich ergehen.
Der Doktor nickte.
"Dass ihnen der Kopf brummt, nachdem, was ich an ihrem Hinterkopf behandelt habe und mir ihr Kapitän über den Unfall berichtet hat, glaube ich gern. Ich bin sehr froh, ihnen sagen zu können, dass nichts gebrochen ist, da haben sie sehr, sehr viel Glück gehabt Herr van der Meer. So dürfte es sich hierbei in erster Linie um eine sehr schwere Gehirnerschütterung handeln."
Carstairs machte eine kurze Pause.
"Da die Platzwunde, laut Frau de Guzmán gut und ohne Komplikationen heilt - ich möchte mich zunächst davon trotzdem selbst überzeugen - sollten sie, wenn sie sich weiterhin möglichst viel ausruhen, und ich rede hier von Bettruhe!, diese Kopfschmerzen innerhalb von ein oder zwei Tagen los sein.
"Andernfalls kann sich das noch weitere Tage hinziehen. Sie tun sich also selbst einen Gefallen, wenn sie die Zeit außerhalb auf das Nötigste beschränken."
Beschwichtigend hob er die Hände und fügte an:
"Falls ihnen das gar nicht behagt ruhen sie im Lehnsessel. Das wird gehen."
Enrique schaute zwischen den Erwachsenen hin und her und lauschte gebannt. Dass die Antwort, die er und Cornelis unbedingt hören wollten, nicht sofort kam machte ihn unruhig, so sehr, dass er sich an einer Stuhllehne festhalten musste.
"Zu ihren Augen:
"Habe ich das richtig verstanden, dass sie den Verband die ganze Zeit auch vor den Augen hatten? Oder haben sie ihn nur zeitweise so getragen und zu den anderen Zeiten Gestern gar nichts sehen gekonnt? Das hat mir der junge Herr de Guzmán nicht sagen können."
Während er sprach trat er neben Cornelis und fing an, den Verband zu lösen.
Als der Doktor von Bettruhe sprach, zogen sich seine Augenbrauen zornig nach unten. Schon wieder einer, der ihn wie einen Totkranken behandeln wollte. Doch als der Doktor beschwichtigend hinzufügte, daß der Lehnsessel von gestern auch in Ordnung wäre, entspannten sich seine Züge wieder und er nickte leicht.
Dann wartete er gespannt auf die Beantwortung seiner Frage, doch statt einer Antwort stellte der Arzt noch weitere Fragen zu dem vorherigen Verband.
"Vermutlich war mein Glück, daß mich das Segeltuch bereits zu Boden gerissen hatte, bevor das Stag mich traf. Ich denke, es war durch die Ladung in der Mitte des Hauptdecks bereits etwas abgebremst worden, sonst hätte es mich eigentlich erschlagen müssen."
Er hielt einen Moment inne und rief sich die Geschehnisse nochmals in Erinnerung, bevor er die Fragen des Arztes zu beantworten begann.
"Als mich meine Kameraden unter dem Segel herausgezogen hatten, war ich noch ohne Bewußtsein. Da haben sie nur meine Wunde verbunden gehabt. Wir haben im Moment keinen Schiffsarzt an Bord, weil dieser vorm Auslaufen durch Krankheit kurzfristig ausgefallen war. Als ich dann wieder zu mir kam, merkte ich, daß ich nichts mehr sehen konnte. Daraufhin haben sie mir einen neuen Verband gemacht - die Wunde blutete ja auch wie ein Schwein - und diesen dann auch über meine Augen gemacht. Sie sagten, daß sie hofften, etwas Schonung könnte meinen Augen gut tun."
Vorsichtig schob Carstairs, nachdem er das letzte bisschen verhüllenden Stoff entfernt hatte, Cornelis Haar beiseite und tastete über die Naht.
"Das sieht in der Tat gut aus. Frau de Guzmán leistet hervorragende Arbeit mit ihrer Pflege. Tut die Wunde noch weh?"
Das war zwar noch immer nicht die Antwort, die er hören wollte, aber so aufgeregt wie er war konnte er vor Begeisterung sein Mundwerk nicht halten:
"Bibi ist sowieso die beste! Gleich nach Isa. Sie— scusa, Doktor...", endete er kleinlaut unter dessen strengen Blick, dann aber strahlte er schon wieder, als er leise zu seiner Schwester meinte:
"Trotzdem klasse, dass Bibi das so gut kann und es unserem Gast jetzt schon wieder so gut geht, nicht mehr lange und van der Meer ist wieder ganz gesund!"
"Auch dank dir", antwortete sie leise.
Da wurde er rot und schwieg.
"Der leichte Druck ist normal und mit fortschreitender Heilung wird die Narbe, denn es wird eine zurückbleiben, auch anfangen zu jucken. Versuchen sie so wenig wie möglich zu kratzen, das wird die Heilung beschleunigen."
Während er sprach erneuerte Carstairs den Verband.
"Ich kann sie beruhigen, wenn sie ihr Haar weiter wie bisher tragen, wird davon nichts zu sehen sein, sowie ihre Haare dort nachgewachsen sind. Außerdem ist sie meines Erachtens nach ein kleiner Preis für dass, was sie überlebt haben."
Geschickt befestigte er das Ende des Verbandes.
"Jetzt zu ihren Augen."
Zunächst nahm er Daumen und Zeigefinger um die Lider daran zu hindern, sich zu schließen und betrachtete die geweiteten Pupillen und ihre Iris genau, verdeckte dabei kurz das Licht, dann zog er sich zurück und holte einen kleinen Kerzenhalter mit Metallspiegel aus seiner Arzttasche vom Tisch, dann eine kleine Kerze, entzündete sie und setzte sie vor den Hohlspiegel.
Dann wandte er sich wieder dem Seemann zu.
"Ich werde jetzt in ihre Augen hineinleuchten und schauen, ob ich dort etwas erkennen kann."
Abermals spreizten seine Finger die Augenlider des Verletzten, anschließend führte er das gebündelte Licht direkt vor Cornelis rechtes Auge.
"Nein, eigentlich nicht. Nur bei Berührung eben", beantwortete Cornelis Carstairs Frage, ob die Wunde noch schmerzte. "Es freut mich zu hören, daß die Heilung gut voranschreitet."
Von der leisen Unterhaltung der Kinder bekam er bewußt nichts mit, da er sich in diesem Moment auf den Arzt konzentrierte. Geduldig ließ er den Verbandswechsel über sich ergehen.
Er vernahm zwar, daß sich Carstairs jetzt seinen Augen zuwenden wollte, doch da er die Bewegung nicht sah, zuckte er im ersten Moment vor den Fingern des Arztes zurück, als diese ihn an seinem Auge berührten. Doch dann wußte er ja, was kommen würde, nickte leicht und erwartete das nächste Mal die Berührung, ohne wegzuziehen. Er zog nur leicht mißbilligend die Augenbrauen zusammen, als der Arzt seinen Hoffnungsschimmer verdeckte.
Er hörte, daß Carstairs ihm in die Augen leuchten wollte, und dachte sich nichts weiter dabei. Doch das gebündelte Licht wirkte in seinem Hirn wie eine Explosion und bereitete ihm erneut Kopfschmerz. Reflexartig schnellte seine Hand nach oben, um sein Auge vor dieser gleisenden Helligkeit abzuschirmen. Dabei schlug er unabsichtlich die Hand des Arztes weg. Dann drehte er den Kopf zur Seite und unten und seine Finger gingen an die Schläfen und massierten diese langsam.
Kerze und Halter folgen im hohen Bogen durch den Raum.
Joanna und Isabella stießen erschreckte Laute aus.
"¡Cuidado!", rief Enrique und und versuchte beides zu fangen, was ihm auch bei der Lampe gelang, doch die Kerze kollerte verlöschend und kleckernd über den Tisch.
Carstairs wich zurück, ließ Cornelis erstmal sich beruhigen. Als der Junge ihm Kerze und Halter reichte nickte er ihm zu, ließ ihn aber augenblicklich zu dem Steuermann durch, als dieser weiter wollte.
'Faszinierend...'
"Sir? Geht es ihnen gut? Kann ich helfen?"
Der Zehnjährige legte dem Verletzen dabei die Hände auf die Oberarme.
"Ich denke Herr van der Meer braucht vor allem erstmal ein Glas Wasser."
"¡Sí, doctor!"
Fast sofort bekam er eines von Joanna und reichte es weiter.
Derweil richtete Carstairs die kleine Kerze und entzündete sie wieder.
Nachdem Cornelis getrunken und der Junge ihm das Glas wieder abgenommen hatte, trat der Mediziner zu seinem Patienten.
"Darf ich?"
Vorsichtig legte er die Finger auf die Schläfen und tastete.
"Wie ich sehe geht es wieder einigermaßen. Sehen sie mich bitte an und schließen sie dabei das rechte Auge!"
Als der Seemann seiner Bitte nachkam bewegte er langsam das Licht von Tisch ein bisschen auf Cornelis Gesicht zu, immer darauf achten, was er für Reaktionen bekäme. Noch bevor das Licht blendend grell werden konnte stellte er es auf den Tisch zurück, beobachtete Cornelis linkes Auge aufmerksam und nickte dann.
Enrique war dabei die ganze Zeit argh versucht, den Doktor mit einem 'Wu'a Señor!' zu stoppen hielt sich aber an der Tischkante fest und schwieg bang, musste der Arzt das doch wahrscheinlich tun um zu wissen, wie es dem Rotbart ginge.
Und in der Tat ergriff Carstairs schließlich das Wort:
"Ich habe eine gute und eine Schlechte Nachricht für sie Herr van der Meer. Welche wollen sie zuerst hören?"
Nachdem der Schmerz in seinem Schläfenbereich langsam nachgelassen hatte, richtete sich Cornelis wieder auf. Er hörte Enriques Stimme vor sich und fühlte kleine Hände auf seinen Armen liegen. Er wußte nicht warum, doch er hob automatisch seine rechte Hand und tastete vorsichtig nach Enriques Kopf. Dort strich er sanft an der Seite durch dessen Haar, falls er seiner Berührung nicht auswich, während er sagte: "Danke, Enrique, es geht schon wieder."
Er nahm das Glas Wasser entgegen. Er trank einige kleine Schlucke. Bevor er es zurückreichte. "Danke. Entschuldigen Sie, Doktor, ich hoffe, ich habe nichts beschädigt..."
Als der Doktor ihn darum bat, seine Augen nochmals untersuchen zu dürfen, nickte er und erwartete geduldig, was da folgen würde. Er sah wieder ein Licht, das auch größer und heller wurde, aber doch nicht so nah herankam, daß es wieder den Schmerz im Kopf auslöste.
Dann runzelte sich die Stirn des Steuermannes, als Carstairs von einer guten und einer schlechten Nachricht sprach. "Ist mir gleich, fangen Sie halt an."
Enrique war viel zu aufgewühlt um über Nähe und wie er dazu stünde nachzudenken und dann viel zu erleichtert, um der Hand auszuweichen. Stattdessen hielt er absichtlich still, weil Cornelis mit der Hand etwas tun wollte und das bestimmt leichter wäre, wenn er sich nicht bewegte. Die Geste selbst erinnerte ihn an Nahia und seine Großmutter. Ein leises Lächeln verdrängte seine Sorge um seinen Gast.
Bevor er allerdings irgendwie darauf reagieren konnte war er wieder mit helfen beschäftigt.
"Ich glaube, sie haben mit ihrer Reaktion den anwesenden Damen einen leichten Schrecken verpasst. Und ein paar Wachsflecken auf der Tischdecke verteilt. Sonst ist kein Schaden entstanden", erwiderte Carstairs ruhig.
Auf Cornelis Antwort überlegte der Arzt kurz. Dann fing er an:
"Ich werde versuchen, ihnen die ganze Angelegenheit so einfach wie möglich zu erklären.
"Ihre Augen sind derzeit sehr empfindlich, gerade was helles Licht betrifft. Das liegt an einer stark verlangsamten Reaktion auf äußere Reize. Dass sie darauf reagieren und dass sich ihr Sehvermögen, wenn auch eingeschränkt, wieder eingestellt hat, bietet Anlass zur Hoffnung. Immerhin funktionieren ihre Sehnerven noch.
"Bei meinem kurzen Blick in ihr rechtes Auge konnte ich keinen Schaden sehen. Was auch immer ihr Sehvermögen einschränkt scheint mir nichts Äußerliches zu sein. Will heißen, die Verletzungen, die heilen müssen, sind in ihrem Kopf, ich kann also nichts tun.
"Alles was mir bleibt, ist sie und ihre Augen vor weiterem Schaden zu bewahren und ihnen bei der Selbstheilung unterstützend unter die Arme zu greifen.
"Dazu muss ich ihnen die Augen verbinden und ihnen noch einmal strikte Ruhe nahelegen. Innere und äußere Verletzungen am Kopf heilen auf diese Weise am Besten und das anderenfalls hohe Risiko negativer Auswirkungen verringert sich.
"Vermeiden sie unbedingt jegliche größere Anstrengungen in nächster Zeit, es kann sein, dass sie andernfalls nicht nur jegliche Chance auf Genesung verspielen."
Er machte eine kleine Pause, hoffte, dass seine Ermahnung in ihrer ganzen Schwere verstanden wurde, dann schloss er zuversichtlich:
"Wenn sie sich allerdings daran halten, dann glaube ich, werden nicht nur die Kopfschmerzen bald gänzlich verschwunden sein."
"Es tut mir leid, meine Damen. Ich wollte euch nicht erschrecken, es war ein Reflex..."
Als dann Carstairs mit seinen Ausführungen begann, blieben seine Züge ruhig. Als dieser geendet hatte, sagte er:
"Sie haben recht, Doktor, normalerweise würde mir das gar nicht passen. Aber für mein Augenlicht tue ich alles, bedeutet das doch auch, daß ich wieder zur See fahren kann."
Er wandte leicht den Kopf in die Richtung, in der er Enrique vermutete, und lächelte.
"Dann kommt deine Idee, meine Augen zu sein, ja gerade recht. Aber zunächst könntest du mir den Gefallen tun und meinem Käpt´n Bescheid geben lassen, daß ich kein Totalausfall bin. Jedenfalls aller Wahrscheinlichkeit nach."
Dann wandte er sich wieder an Carstairs: "Dann fangen Sie an, verbinden Sie meine Augen, wenn das nötig ist."
Isabella kicherte nur, während Joanna leise "Nada para excusar, señor" murmelte.
Der Doktor nickte knapp auf Cornelis Antwort.
"Ich werde persönlich gehen. El Capitán Shane kennt mich ja jetzt. Dann kann ich ihm auch sämtliche seiner Fragen gleich beantworten. Und falls sie mich nicht auf das Schiff lassen brauche ich ja nur zu rufen."
Carstairs griff in seinen Arztkoffer und tat schließlich wie geheißen. Als er fertig war verabschiedete er sich:
"Dann sehen wir uns in zwei Tagen Herr van der Meer. Vielleicht dann auch schon richtig. Geben Sie auf sich Acht!"
***
Cornelis war danach erschöpft und ließ sich wahrscheinlich sogar überreden, doch vorerst ins Bett zurückzukehren.
Kurz darauf brachte Enrique die bestätigende Worte und gute Wünsche des Kapitäns mit. Er freue sich sehr und würde Cornelis besuchen kommen, sobald er Zeit fände. Die Reparaturen an der Seepferdchen Schritten gut voran, dennoch würde sie noch eine ganze Weile lang nicht auslaufen. Er habe also alle Zeit der Welt, sich zu erholen.
- Ende -