28.05.2022, 11:16
It's the way you look at me
when no one's around
Mittag des 19. Juni 1822
Lucien Dravean & Shanaya Árashi
Shanaya hatte ihre Zeichensachen sanft neben sich geworfen. Sie hatte es versucht. Mit wenig Licht und einem gesunden Arm. Aber in manchen Momenten scheiterte es schon daran, dass sie das Papier nicht festgehalten bekam, es ihr weg rutschte und sie die Linien falsch zog. So war aus dem Umriss der Karte schließlich nur ein wüstes Gebilde aus wirren Linien geworden, die den Frust ihres Künstlers klar machten. Sie hatte ein bisschen das Schiff sauber gemacht, bis Liam sie zu sich an das Steuer gelassen hatte. Das war ein wenig Ablenkung gewesen, ein bisschen Freude – und jetzt lag sie am Boden des Frachtraumes, neben ihr in einem kleinen Chaos Stifte und Kohle. Frustration war kein Gefühl, dass der jungen Frau oft begegnete, aber jetzt, in einem Moment, in dem sie wieder einmal eingeschränkt war, ihr Körper sie nicht machen ließ, was sie wollte… Nun lag sie neben ihren Utensilien, auf dem Rücken, den verletzten Arm auf ihrem Bauch ruhend, den anderen von sich weg gestreckt. Die ganze Szene wurde von einer Laterne mit spärlichem Licht beleuchtet. Aber hier ließ man sie vielleicht in Ruhe mit ihrem Frust. Und vielleicht blieb sie einfach hier liegen, bis die Schulter wieder vollkommen verheilt war. Ein Gedanke, der sie schnaufen ließ. Hätte sie sich nicht gerade erst auf den Rücken sinken lassen, wäre sie vermutlich schon wieder auf den Beinen.
Es gab nicht mehr viel zu erledigen. Zumindest nicht für ihn. Er hatte sich in den letzten zwei Tagen ein gründliches Bild von den Schäden an Bord gemacht, hatte zeitweise das Steuer übernommen, um einen der anderen abzulösen, die sich den Posten im Moment teilten, hatte sich mit Greo daran gemacht, die zerschlissensten Taue auszutauschen, bevor ihnen die Takelage um die Ohren flog und brütete über den Karten auf dem Schreibtisch in der Kajüte, als stünde der Kurs nicht längst fest. Jetzt war es kurz nach Mittag, Talin hatte seine Pflichten übernommen, Liam hatte das Steuer und wenn die Hand des jungen Captains nicht wieder zur Flasche greifen sollte, brauchte er eine andere Beschäftigung. Eine, die aus der Begegnung mit den riesigen Vögeln nicht gänzlich unbeschadet herausgekommen war, vielleicht. Sein erster Weg hatte Lucien also zu Shanayas Hängematte auf dem Mannschaftsdeck geführt, die er verlassen vorgefunden hatte. Auch im Lazarett, wo er als Nächstes nachgesehen hatte, war keine Spur von ihr. Und da er sie vor ein paar Minuten auch nicht mehr am Steuer bei Liam hatte stehen sehen, wo er sie noch am Vormittag entdeckt hatte, blieb ihm nun die Wahl zwischen Hauptdeck und Frachtraum. Widersinnigerweise entschied er sich für den Frachtraum – einfach aus einem Gefühl heraus. Als er die Stufen in den Bauch der Sphinx hinabstieg, führte sein erster Griff zu einer kleinen Laterne, die direkt neben der Treppe an einem Pfosten hing. Er hätte sie jedoch nicht gebraucht, um die junge Frau schließlich zu finden. Ein anderes Licht weiter vorn wies ihm den Weg. Mit einem sachten Lächeln auf den Lippen trat er näher, ließ den Blick dabei zunächst über das Utensiliengemetzel schweifen, das die Planken neben ihr bedeckte. Dann legten sich die grünen Augen auf Shanaya selbst. „Meinst du nicht, an Deck ist das Licht zum Zeichnen besser?“
Shanaya hing dem Gedanken nach, was sie mit nur einem Arm erledigen konnte. Dieses Mal plagte sie kein Fieber, keine Schwäche, die sich durch ihren ganzen Körper zog. Sie hätte quasi alles tun können – wenn sie nur ihren zweiten Arm hätte benutzen können. Liam stand vermutlich immernoch am Steuer, aber das war einfach nicht das Gleiche. Und während sie so da lag, die dunkle Decke über sich betrachtete, näherten sich Schritte, die die Schwarzhaarige tonlos seufzen ließen. So viel zu ‚hier unten ließ man sie in Ruhe‘. Ihr lag zuerst etwas auf der Zunge, um schnell wieder allein zu sein, aber sie schluckte es herunter und wartete erst einmal ab. Vorsorglich schloss sie auch die Augen, vielleicht musste sie ja irgendwen damit vertreiben, dass sie ganz offensichtlich schlief. Die Stimme, die dann erklang, war eine der wenigen, die sie in diesem Moment in ihrer Nähe akzeptierte. Ihre erste Antwort, ohne dass sich auch nur ein Muskel in ihrem Körper regte, war ein leises Brummen. War es, ja. Die anderen Umstände wurden dadurch aber auch nicht besser. Nun hob sie die gesunde Hand, wedelte etwas durch die Luft und ließ den Arm dann wieder sinken. „Ist es.“ Ein leises Seufzen folgte auf ihre Worte. „Hier unten hat man aber mehr seine Ruhe. Dachte ich zumindest. Aber da das Ganze eh nicht klappt, wie ich will...“ Neben dem leicht frustrierten Ton in ihrer Stimme, der sich zum Ende hinein schlich, schwang auch ein Hauch Belustigung mit. In keinem Wort lag jedoch etwas, was Lucien wieder fortschicken wollte. Wenn jemand sie aus dieser Situation retten konnte, dann wahrscheinlich er.
Ihr Brummen entlockte Lucien ein sacht amüsiertes Schmunzeln. Trotz der Zustimmung, die sie damit ausdrückte, entnahm er dem Geräusch auch eine gewaltige Portion Frustration und ein sanfterer Mensch, als er es war, hätte darauf sicherlich mit Mitgefühl reagiert. Immerhin kannte er Shanaya gut genug, um zu wissen, was sie so frustrierte. Und die Zettelwirtschaft um sie herum bestätigte das nur. Er war jedoch kein sanfter Mensch. Stattdessen reagierte er mit freundschaftlichem Spott, obgleich er darauf verzichtete, sie weiter aufzuziehen. Zumindest fast. „Oh, ich kann auch wieder gehen, wenn ich störe.“ In seiner Stimme lag der gleiche Hauch Belustigung, wie auch in ihrer, und sein Ton machte deutlich, dass ihm nichts ferner lag, als das. Er trat näher an den Haufen Zettel, der neben ihr lag, ging vorsichtig in die Hocke und hob seine Laterne ein bisschen an, um im dämmrigen Licht besser sehen zu können. Sie hatte wohl versucht, wieder zu zeichnen. Versucht, wohlgemerkt, denn nach wenigen Strichen, die mal eine Insel hätten werden können, artete die Linienführung in ein wirres Gekrakel aus, das sich über das ganze Blatt zog und eher an einen düsteren Albtraum erinnerte, als an ein Stück Land. „Dein Arm will wohl nicht so, wie du?“ Mit diesen Worten hob er den Blick und suchte den Shanayas.
Noch immer wandte Shanya sich in keinster Weise zu Lucien herum. Das wäre mit Schmerz oder zu viel Aufwand für den Moment verbunden gewesen. Ein bisschen fühlte sie sich wie eine Schildkröte, die man auf den Panzer gedreht hatte. Und da raus zu kommen wäre für den Dunkelhaarigen sicher ein amüsantes Bild. Seinen Worten galt also, Mal wieder, nur ein Brummen. Wenn er hätte gehen wollen, hätte er das schon längst getan. Sie hörte, wie er noch ein wenig näher kam, ignorierte das schneller schlagende Herz und lauschte aufmerksam, wie der Mann sich neben sie hockte. Er sprach wieder und damit öffnete Shanaya eines ihrer blauen Augen. Den Kopf leicht zur Seite gedreht, musterte sie Lucien, auch wenn die Antwort schon auf ihrem Gesicht geschrieben stand, nickte sie schließlich. „Wenn das nicht irgendwie kontraproduktiv wäre, würde ich den Arm einfach abschneiden.“ Ein tiefer Atemzug, um ihr Inneres ein wenig zu beruhigen. „Aber die Kopfschmerzen sind weg. Ich bleibe also vollkommen optimistisch.“ Die Schulter schmerzte immerhin nur noch bei nicht ganz so gut koordinierten Bewegungen, es hätte deutlich schlimmer sein können. Damit drehte sie den Blick wieder in die Richtung der Decke, nun jedoch beide Augen geöffnet.
Die Spitze seines neuen Degens klackte leise auf die Planken, als der Dunkelhaarige das Gewicht verlagerte und mit einem leisen Schnauben den Blick wieder auf die Blätter richtete. „Ich glaube, damit hättest du langfristig mehr Probleme, als es jetzt lösen würde“, stellte er unnötigerweise fest. Dessen war sie sich sicherlich bewusst und ihm war klar, dass sie zu einem solchen Mittel niemals greifen würde. Zumindest nicht, wenn es nicht wirklich notwendig war. Er schubste einen Kohlestift aus dem Weg und zog eine der krakeligen Inseln zu sich heran. „Wie geht’s dir sonst, abgesehen von deinem ungebändigten Hass gegen mich, weil ich dir verboten habe, wieder ans Steuer zu gehen?“ Sachte Belustigung lag in seiner Stimme, ein Hauch von Wärme und zugleich ehrliches Interesse, Neugier, Sorge. „Keine Kopfschmerzen hört sich gut an. Und der Arm? Noch Schmerzen?“
Shanaya blickte nun zur Decke, blinzelte in dem leicht flackernden Licht. Was Lucien wohl nach hier unten geführt hatte? „Vielleicht wäre ich die erste Navigatorin, die mit dem Mund ein Schiff steuert. Und mein Mund könnte sicher noch ganz andere Tricks!“ Die leisen Geräusche auf dem Holz ließen die Schwarzhaarigen nun doch den Blick wieder etwas zur Seite richten, bei seinen Worten blinzelte sie leicht und lachte leisem bevor sie zu einer Antwort ansetzte. „Er verzehrt mich, Lucien. Jeden Morgen wache ich auf und will meinen Dolch auf ein Bild von dir werfen.“ Ein kurzes Zögern. „Und ich schwöre dir, ich ramme dir hier und jetzt meinen Dolch in den Hals, wenn du auch nur den Ansatz eines Witzes übers Werfen von dir gibst!“ Ein mahnender Blick galt dem Dunkelhaarigen, ein stilles Versprechen in den blauen Augen, das mit den nächsten Worten jedoch deutlich sanfter wurde. Sanfter, und vielleicht auch etwas verwirrter. „Nur, wenn ich ihn falsch bewege. Also… ich müsste ihn viel mehr bewegen, bevor er noch in dieser Position bleibt…“ Kurz huschte ihr Blick zu dem Arm in der Schlinge, jedenfalls zu dem Teil, den sie aus ihrer Position sehen konnte. Dann folgte ein leises Seufzen. „Aber das selbe Übel. Ich bin Mal wieder zum Stillstand gezwungen.“
Lucien hatte tatsächlich, ausnahmsweise, keine anderen Absichten, als sich danach zu erkundigen, wie es ihr ging. Nicht, dass es wirklich Anlass zur Sorge gab. Eine ausgekugelte Schulter heilte und soweit er Gregory verstanden hatte, würde ihre Jugend dafür sorgen, dass keine Einschränkungen blieben. Aber ihm behagte der Gedanke nicht, dass sie sich mit Schmerzen herumplagen musste. Dass sie litt – unabhängig davon, ob sie es am Ende wegsteckte oder nicht. Leid, in welcher Form auch immer, war das, was er am liebsten von ihr fernhalten würde. Doch was Shanaya letztlich antwortete, ließ ihn den Gedanken beinahe vergessen. Wieder hob er den Blick und dieses Mal blieben die tiefgrünen Augen an den ihren hängen. Schalk blitzte in ihnen auf, sichtbar angetan von dem Bild, das sie ihm mit nur wenigen Worten in den Kopf gesetzt hatte. Wohl wissend, dass er nicht anders konnte, als daran zu denken, welche Tricks sie mit ihrem Mund lernen würde. Und dass es ihm gefallen würde. Aber er ging nicht darauf ein. Dieses Mal nicht. Stattdessen grinste er mit dreistem Spott auf den Zügen und bezog sich lediglich auf ihre unverblümte Morddrohung. „Dafür müsstest du mich erst mal kriegen. Und im Moment siehst du so aus, als kämst du so elegant wieder auf die Beine, wie ein Käfer auf dem Rücken.“ Dann wurde sein Lächeln sanfter. „Du solltest dich vielleicht nicht so oft verletzen lassen, kleine Sirene. Irgendwann muss ich dich vielleicht einsperren, um zu verhindern, dass du wieder auf Krücken läufst. Oder dein Arm in einer Schlinge hängt.“
Genauso wie Frust lag es sonst nicht wirklich an Shanaya, groß herum zu jammern. Auch jetzt fiel das für sie nicht darunter, es nervte sie einfach unglaublich, so eingeschränkt zu sein, sich nicht einmal richtig mit einer simplen Zeichnung zu befassen. Umso besser, dass Lucien es war, der zu ihr gekommen war. Der größte Teil der Crew hätte vermutlich nicht gewusst, wie man jetzt mit ihr umgehen sollte. Und mit diesem Gedanken und einem leicht stolpernden Herzen, erinnerte Shanaya sich an die Nacht, in der Lucien an ihrem Bett gesessen hatte. Wie gut, dass er ihre Gedanken mit seinen Worten ein wenig umlenkte. „Sei froh, dass du auf der Seite sitzt, an der ich verletzt bin. Andernfalls hätte ich dir jetzt sehr weh getan!“ Ein Käfer! Sie hatte sich wenigstens noch zu einer Schildkröte gemacht, und er kam mit so einem mickrigen Insekt um die Ecke! Nach seinen nächsten Worten strich sie sich mit der Hand des gesunden Armes über das Gesicht, schnaufte in einem beinahe verzweifelten Ton. „Das kommt davon, wenn man immer mittendrin sein will.“ Nun warf sie ein etwas schräges Lächeln in die Richtung des Mannes. „Und du musst wirklich glauben, dass ich dich verdammt gern hab‘! Jeder andere, der auch nur drüber nachdenken würde, mich einzusperren, hätte meinen Fuß im Gesicht.“
Wieder ein Schmunzeln, sichtbar belustigt. In den tiefgrünen Augen funkelte es vergnüglich. „Wenn du mich denn kriegen würdest“, konterte er und griff bewusst auf das gleiche Argument zurück, das er gerade schon genutzt hatte, um sie ein bisschen zu ärgern. Er war sich zwar ziemlich sicher, dass er im Fall der Fälle eher geblieben und sich ihr gestellt hätte – wer wusste schon, wohin sie die Kabbelei am Ende geführt hätte – statt sich auf einem Schiff zu verstecken, auf dem man sich kaum verstecken konnte, aber das tat an der Stelle nichts zur Sache. Und rückte mit ihren nächsten Worten ohnehin in den Hintergrund. Lucien rechnete in diesem Moment mit vielem, aber nicht damit, dass sie ihn derart kalt erwischte. Für ein, zwei Herzschläge fegte sie das Lächeln von seinen Lippen, bis er den Blick senkte, um die Veränderung auf seinen Zügen zu verbergen. Wie hätte er dabei nicht unwillkürlich Talins Stimme im Ohr haben können? „Tja“, erwiderte er, zwang das Lächeln dorthin zurück, wo es hin gehörte und sah wieder zu ihr auf. „Die Vermutung hatte ich tatsächlich. Oder ich ruhe mich nur darauf aus, dass du mich in deiner jetzigen Lage ohnehin nicht erwischst.“ Scheinbar als hätte er sich dafür bereits die ganze Zeit interessiert, nickte Lucien schließlich auf die angefangenen und verworfenen Karten, die zwischen ihnen lagen. „Was hat dich eigentlich daran gehindert, die mit dem gesunden Arm zu zeichnen?“
Lucien wiederholte sinngemäß seine Worte und Shanaya warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Irgendwann schläfst du.“ Und dann…! Viel mehr blieb ihr dazu jedoch nicht zu sagen. Ihre eigenen Worte lösten ein leises Stechen in ihrem Inneren aus. In dem Moment, in dem sie Shanayas Lippen verlassen hatten, lagen sie mit einem… undefinierbaren Nachgeschmack auf ihrer Zunge. Die Schwarzhaarige konnte nicht richtig definieren, woher dieses Gefühl war, gestattete sich in diesem Moment jedoch auch nicht, genauer darüber nachzudenken. Ihr Blick richtete sich kurz auf Lucien, der in diesem Moment den Blick senkte. Einige, schnelle Herzschläge musterte sie den Dunkelhaarigen, verspürte noch mehr als zuvor das Bedürfnis, aufzustehen. Das änderte ihr Captain auch mit seinen Worten nicht mehr. „Schlechte Idee, sich drauf auszuruhen.“ Trotzdem lag ein Lächeln auf den Lippen der jungen Frau und während Lucien sich der ‚Karte‘ zu wandte, stützte die Schwarzhaarige sich mit der gesunden Hand auf dem Holzboden ab, mühte sich mit einem leisen Stöhnen in eine sitzende Position. Sie musste blinzeln, dem überforderten Kreislauf entgegen wirken. Einen Moment dauerte es, bis sie die blauen Augen wieder zu Lucien wandte, mit seiner Frage kurz selbst auf das Papier blickte. „Das verdammte Papier ist weg gerutscht… und in den meisten Positionen tat der Arm dann doch weh.“ Sie zuckte mit der gesunden Schulter. Ein Lächeln auf den Lippen, trotzdem innerlich einfach… überfordert. „Ich war also mehr als unzufrieden.“
Dieses Mal lockte ihre Antwort nur ein schwaches Schmunzeln auf seine Lippen, das kaum mehr war als ein kurzes Verziehen seiner Mundwinkel. Vielmehr abwesend als wirklich ehrlich empfunden, obgleich ihm kurz der scherzhafte Gedanke kam, in Zukunft wohl die Tür zur Kajüte abschließen zu müssen, wenn er schlafen ging. Doch ihm behagte die Richtung nicht, die ihr Gespräch einschlug, also zog er es vor, auch diese Worte unerwidert im Raum stehen zu lassen. Die Karten – oder vielmehr das, was mal eine Karte hätte werden sollen – bot ihm dagegen die beste Möglichkeit, das Thema auf etwas Unverfängliches zu lenken. Während Shanaya sich am Rande seines Blickfelds mühsam aufsetzte, stellte Lucien die Laterne dicht neben den Pergamentblättern auf den Boden, fischte mit der Linken schließlich ein noch leeres Blatt aus dem zusammengewürfelten Papierhaufen und zog es mit einem Finger näher ins schwache Licht. Dann hob er den Blick wieder und lächelte. Ruhiger, sanfter, aber dieses Mal ehrlich. „Was meinst du? Klappt es besser, wenn jemand das Blatt für dich festhält?“ Wobei ziemlich offensichtlich war, dass er mit ‚jemand‘ kein x-beliebiges anderes Crewmitglied meinte. „Zumindest, bis der Arm wieder meckert...“ Es war nur ein Angebot. In dem Wissen, dass dieses Nichts-Tun das Schlimmste überhaupt für sie war. Seine Art, ihr zu helfen, Ablenkung zu schaffen, für sie da zu sein.
Shanaya zog die Beine in einen Schneidersitz, auch wenn in ihnen das Kribbeln des Verlangens zum Aufstehen aufkam. Lucien ließ die vorangegangen Worte unkommentiert, etwas woran sie normalerweise einen Haken gemacht hätte. Nur jetzt… irgendwie. Hm. Die Schwarzhaarige schüttelte den Kopf, blinzelte noch einmal gegen den kurzen Schwindel an und richtete die blauen Augen dann zu Lucien, der ein leeres Blatt zu sich zog. Die junge Frau musterte die Züge ihres Gegenübers, sein Lächeln, das ihr einen warmen Schauer durch den Körper jagte. Zusammen mit der Frage, ob er es jetzt selbst mit einer Zeichnung versuchen würde. Sonst wusste sie nicht wirklich, was er damit anfangen wollte. Niemals hätte sie mit dem gerechnet, was er sie als nächstes fragte. Im ersten Moment fragte sie sich wirklich, wen er meinen konnte. Vielleicht Talin? Greo? Die Verwirrung war für einige, viel zu schnelle Herzschläge, in ihren blauen Augen zu sehen. Sie saß einfach nur da, musterte Lucien, bis zu dem Moment, in dem ihr Verstand es zu ließ, dass sie verstand. Noch ein tiefer Atemzug, bevor das Lächeln auf ihren Zügen einen unbekannten, warmen Ton annahm, anders als bisher. Eine glühende Dankbarkeit in den blauen Augen. Ein Angebot, dass sie jeglichen Frust der Momente hier unten vergessen ließ. Die Verwirrung, wenn sie für die junge Frau auch noch deutlich zu spüren war, war von ihrem Gesicht gewichen, auf dem nun nichts außer sanfter, warmer Zuneigung lag. Solch eine kleine Geste, mit solch einer großen Bedeutung für die junge Frau. Es dauerte einen Moment, bis sie eine Antwort formen konnte. „Ich denke, das könnte helfen, ja.“ Shanaya wog den Kopf ein wenig zur Seite, lächelte noch immer warm. Irgendwie bekam sie jedoch nicht mehr als diese kurze Antwort zusammen.
Die Verwirrung in ihrem Blick lockte nun doch wieder ein ehrlich amüsiertes Schmunzeln auf seine Lippen. Er würde sich zwar hüten, diesen Gedanken laut auszusprechen, aber mit ziemlicher Sicherheit hatte sie in diesem Moment keine Ahnung, wie niedlich er das fand. Es dauerte etliche Herzschläge, bis sie endlich verstand, wen er meinte und was er ihr gerade anbot, und als es hinter ihrer Stirn endlich klickte, neigte Lucien mit warmer Belustigung den Kopf auf die Seite, ohne den Blick von dem ihren zu lösen. „Gut“, erwiderte er sanft und setzte dazu an, sich bequemer hinzusetzen. „Wahrscheinlich wäre es besser, wir würden dafür an Deck gehen, aber... Ich denke, so geht es auch.“ Einerseits hatte sie Ruhe vor allzu neugierigen Crewmitgliedern gesucht, andererseits war er nicht scharf darauf, jetzt Zuschauer zu haben. Nicht dieses Mal, nicht in diesem Moment. Er winkelte ein Bein im halben Schneidersitz an den Körper, stützte sich mit dem freien Arm und zog mit der anderen Hand den Kohlestift wieder heran, den er kurz vorher noch zur Seite geschubst hatte, und hielt ihn der Schwarzhaarigen entgegen. „Was soll es denn für eine Insel werden?“
ShanayaArashi auch nach einigen Atemzügen mehr fiel Shanaya nicht mehr ein, was sie dazu hätte sagen können. Ihr schnell schlagendes Herz ließ sich nicht ignorieren, so sehr die junge Frau es auch versuchte. Luciens Lächeln wirkte jetzt anders als zuvor, irgendwelche Zusammenhänge ergaben sich in diesem Moment jedoch nicht für die junge Frau. Zu aufgewühlt und verwirrt war sie. Sie schluckte, das warme Lächeln noch immer auf ihrem Gesicht, ihren Augen. Erst mit seinen Worten lockte er wieder ein leises Lachen über ihre Lippen, mit dem sie leicht den Kopf neigte. So war es ihr definitiv lieber, ohne Zuschauer, ohne neugierige Blicke. Zuschauer störten sie nicht, aber jetzt… jetzt hatte sie das Gefühl, die Kohle, die Lucien ihr reichte, kaum richtig halten zu können. Trotzdem umfasste sie den Stift, betrachtete einen Moment das leere Stück Papier, ehe sie den Blick wieder zu ihrem Gegenüber hob, in ihrem blauen Blick der Hauch von Scheue, einem beinahe schüchternen Ausdruck. In ihrer Stimme klang jedoch die gewohnte Leidenschaft mit, wenn es um ihre Karten ging. Auch wenn sie nicht oft über die Inseln sprach, die sie sich selbst ausgedacht hatte. „Ich hatte vor kurzem die Idee einer Insel, auf der ein kreisförmiges Gebirge ist… und mittendrin ein riesiger See. Wer nicht völlig lebensmüde ist, hat nur einen Weg zum Inneren der Insel, eine unterirdische Höhle…“ Noch kurz musterte sie den Dunkelhaarigen, ehe sich ihr Blick auf das Papier legte, grübelnd, womit sie beginnen sollte.