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Shanaya Árashi ist 17 Jahre alt und wurde unter den Sternen der ersten Welt auf der Insel Yvenes geboren. Dieser mutige Pirat reist als Navigator durch die Meere der Inselwelten und plünderte mit der Crew bereits auf 170 Streifzügen in 155 Tavernen.
Habseligkeiten
Einen Degen, einen Dolch und eine Tasche voller Geheimnisse
Körperliche Verfassung
Endlich Mal wieder vollkommen uneingeschränkt!
Nachmittag des 21. Mai 1822
Lucien Dravean, Shanaya Árashi, Zairym al Said
Als Lucien mit Ceallagh, Trevor und Zairym zum Bordell zurückkehrte, bekam er nicht viel Gelegenheit, sich von den Nachwirkungen ihres kleinen Auftrags zumindest kurz zu erholen. Sie waren zwar immerhin glimpflich davon gekommen und er konnte auch nicht behaupten, dass die Tage seit ihrer Ankunft in Silvestre für ihn besonders ruhig verlaufen wären, aber er hätte gut und gerne zumindest heute darauf verzichten können, mit so etwas wie einem ‚Shanaya ist verschwunden‘ empfangen zu werden.
Unter anderen Umständen hätte es ihn wenig angehoben. Die Schwarzhaarige war erwachsen und konnte gut auf sich alleine aufpassen. Selbst jetzt, mit ihrem verletzten Bein, hätte Lucien darauf vertraut, dass sie ihren Weg zurück schon von alleine fand. Doch Josiah hatte ihm erzählt, was passiert war: Dass sie nur ein wenig frische Luft hatten schnappen wollen; dass sie beraubt und in Folge dessen von Liam getrennt worden waren; und dass zu guter Letzt auch der Attentäter ihre Spur verloren hatte. Nachdem ihre Wunde wieder aufgerissen war und Josiah ihr zunächst Nadel und Faden abgenommen hatte, um zu vermeiden, dass sie sie im größten Staub der Straße nähte. An sich ein guter Grund – wären sie dann eben nicht getrennt worden, bevor sie Gelegenheit bekam, sich zu versorgen.
Lucien bezweifelte dabei nicht eine Sekunde, dass die Schwarzhaarige ihren Teil zu dieser ‚Trennung‘ beigetragen hatte. Doch das spielte angesichts der Vorstellung, sie halb oder gar gänzlich verblutet in einer Nebenstraße zu finden, auch keine Rolle mehr. Er hatte Josiah mit einem frustrierten Knurren nur das Döschen mit den Nadeln und den Garn aus der Hand gerissen, sich wieder zur Tür umgedreht und sich im Vorbeigehen den ahnungslosen Zairym gepackt, der dort noch herum stand, für den Fall, dass er ein Paar Hände mehr brauchte, um Shanaya nach Hause zu bringen. Ob der Ältere das ganze Szenario dabei beobachtet hatte oder nicht, war Lucien in diesem Moment ebenso herzlich egal.
Wütend war der junge Captain zumindest nicht mehr. Er wusste auch nicht, ob er es vorher gewesen war. Genervt traf es vielleicht besser. Genervt, weil sich Josiah die Schwarzhaarige nicht einfach gepackt und sie zurück ins Bordell getragen hatte. Genervt, weil die halbe Crew offensichtlich nicht fähig war, mit einer so eigenständigen Persönlichkeit wie Shanaya umzugehen. Genervt, weil ihm schon der Auftrag der Tarlenn mächtig gegen den Strich ging und der Tag keine Anstalten machte, besser zu werden. Und besorgt, weil er wusste, wie stur, wie provokant die junge Frau ihren Willen durchsetzen konnte. Und er war sich nicht sicher, wie wachsam sie noch auf ihren eigenen Körper lauschte, wenn man sie nur weit genug reizte. Lucien stieß ein leises Seufzen aus, rieb sich kurz die Stirn und warf einen Blick über die Schulter. Oben an der Mündung der Straße, zu der Josiah sie geschickt hatte, hatten sie einen Standbesitzer mittleren Alters nach Shanaya befragt, der wohl dabei gewesen war, als ihre Verletzung wieder zu bluten begonnen hatte. Er versicherte ihnen um Verzeihung heischend, er habe den Medicus rufen wollen, damit sie versorgt werden könne, aber sie sei aufgestanden und die Straße hinunter marschiert. Und dann hinter der Biegung verschwunden, die man dort vorne noch sehen könne. Dann seien Soldaten aufgetaucht und hätten ihre Begleiter in die Flucht geschlagen. Und ob einer von ihnen denn ihr Vormund wäre. Diese Frage hatte der junge Captain kurzerhand ignoriert und sich abgewandt, um der Beschreibung zu folgen. Rym hatte er nur mit einem ungeduldigen Wink hinter sich her gelotst. Als sie die Gasse erreichten, fanden sie zumindest keine halb tote Shanaya auf dem Boden sitzen. Allerdings auch sonst keine Spur von ihr. Erst etwa hundert Meter weiter fiel ihnen die Blutspur auf, die sich fleckchenweise durch den Staub zog und ihnen einen sicheren Weg wies.
An ihrem Ende, zwei Querstraßen weiter, stießen sie auf eine junge Frau, die etwas hilflos vor einer alten, grünen Hintertür saß. Sie strich sich immer wieder nervös mit der Hand den bodenlangen Kleiderrock glatt, sah zur Türklinke über ihr auf und blieb doch sitzen, während sie am Saum ihrer Kleidung knibbelte. Als sie die beiden Männer auf sich zukommen sah, merkte sie erwartungsvoll auf, als hoffe sie, sie kämen, um sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Welche auch immer das war. Lucien warf seinem Begleiter einen kurzen Seitenblick zu, dann trat er vor. Die Begrüßung sparte er sich, Dorfkind, das er war, ganz und gar.
„Wir sind auf der Suche nach einer jungen Frau, die vor nicht mehr als einer Stunde hier vorbei gekommen sein muss. Schwarzes Haar, eine blutende Wunde am Bein. Habt Ihr sie zufällig gesehen?“
Shanaya schloss einen Moment lang die blauen Augen. Zwei, drei tiefe Atemzüge folgten, in denen sie die letzte Stunde noch einmal vor ihrem inneren Auge abspielte. Kurz wallte etwas Wut in ihr auf, der sich jedoch leicht wieder herunter schlucken ließ. Josiah war es ihr einfach nicht wert, er war ihr so oder so nicht der Sympathischte… und dass er sich ihren Dolch und den Rest geschnappt hatte, machte die ganze Situation nicht besser. Sie hoffte für den Dunkelhaarigen, dass sie ihre Sachen unbeschädigt wieder bekommen würde. Aber das würde sie dann sehen, spätestens, wenn sie im Bordell aufeinander trafen. Mir diesem Gedanken öffnete die junge Frau wieder die Augen, ließ den Blick kurz schweifen. Aber sie war allein, die Schneiderin hatte das Haus verlassen, nachdem sie ihr Nadel, Faden und Alkohol übergeben hatte. Vielleicht hatte sie gemerkt, wie unterirdisch die Laune der Schwarzhaarigen war. Da war es vermutlich besser, die Flucht zu ergreifen. Shanaya hoffte nur, dass sie keinen Arzt anschleppen würde. Sie war hierher geflohen, um eben diesen zu entkommen und sie hatte für heute wirklich genug von ‚Du musst‘, ‚Du solltest nicht‘ und ‚Das wäre besser für dich‘. Sie war einfach froh, wenn sie die Wunde versorgt hatte, den Weg zum Bordell hinter sich gebracht hatte und sich auf ihr Bett rollen konnte. Das klang so verlockend, dass ein leises Seufzen die Lippen der jungen Frau verließ. Nach einem Schluck aus der Flasche, der sie kurz husten ließ, machte sie sich also daran, den Faden in das Nadelöhr zu fädeln und die Wunde sowie die Nadel mit Alkohol zu überkippen. Die Hose ein wenig herunter gezogen, damit sie an die Wunde kam, saß sie auf einem Stuhl, stellte den Alkohol neben sich auf den Tisch und begann schließlich die Wunde zu nähen. Bei jedem Stich und festziehen des Fadens hielt sie die Luft an und war froh, als sie zumindest schon einmal die Hälfte hinter sich gebracht hatte. Woraufhin sie noch einen Schluck des brennenden Alkohols trank.
Obwohl es ihm Freunde von früher und vermutlich auch niemand von den Piraten zutraute, Rym wusste sehr wohl, wann er die Klappe zu halten hatte. Er wusste auch, wann er es mit einem sehr frustrierten, sehr genervten Kerl zu tun hatte und das es gerade dann manchmal angebracht war, diese Wut nicht auf sich selbst zu lenken. Außerdem genoss er immer noch das Gefühl des Nervenkitzels, dem er noch vor einer knappen Stunde hatte nachgehen können. Und wo befand er sich jetzt? Nachdem sie von ihrem Auftrag wieder gekommen waren, hatte sich alles ganz plötzlich darum gedreht, dass die kleine Königin verschwunden war. Nachdem, was er hörte und wie er das Mädchen einschätzte, war sie wahrscheinlich aus lauter Frust über die Bevormundung bis Asanu gelaufen, nur um ihren Ärger loszuwerden. Er hätte sie wahrscheinlich auch in der Ecke, in der sie wahrscheinlicher lag, liegen gelassen, nur damit sie zusehen konnte, wie sie allein zurückkam. Aber offensichtlich fand die Idee nicht so viel Anklang bei seinem Captain, der sich Rym kurzerhand schnappte und sich auf die Suche nach der kleinen Königin machte. Und ergeben, wie er war, folgte er Lucien wortlos. Und auf einmal stand er in einer Seitenstraße und verfolgte Blutspuren die Straße hinunter bis zu einer Tür und einer ziemlich mitgenommen aussehenden jungen Frau. Das Leben spielte einem manchmal schon seltsame Streiche. Das Lucien immer noch schlechte Laune hatte, erkannte Zairym an seiner sehr charmanten Art, wie er mit der Frau sprach. Und das war dann auch der Moment, in dem er auch einmal den Mund aufmachte. Er schnaubte auf und sah den anderen Man von der Seite an. „Wirklich, Commodore? Siehst du nicht, dass ein schwarzer Sturm über sie gezogen ist? Scheint mir ganz gut zu deiner Laune zu passen, meinst du nicht?“ Er trat vor, lächelte die Frau charmant an und half ihr auf die Beine. Sie erschien ihm immer noch ein wenig fahrig, als sie an Lucien gewandt schließlich hastig sprach.
„Sie ist dort drin. Sie kam rein, verlangte nach Nadel und Faden und….das war wirklich sehr viel Blut. Ich wollte einen Medicus holen, aber sie…sie…“
Nochmals schnaubte Rym und versuchte der jungen Frau auszuhelfen.
„Sie hatte eine Mordslaune?“
Sie sah ihn an und nickte hektisch, während er sie sanft zur Seite scheuchte, damit Lucien durch die Tür treten konnte.
Immerhin war Lucien so höflich gewesen, die junge Frau zu siezen. Aber offensichtlich war das seinem Begleiter nicht charmant genug. Der Dunkelhaarige hatte bei Weitem nicht den Nerv, sich belehren zu lassen oder sich gar zu entschuldigen, also winkte er auf Ryms Worte hin nur kurzerhand ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf das Gebäude, die Tür und das Fenster daneben, das einen Blick in den Raum gewährte. Doch durch das staubige Glas erhaschte er lediglich einen Blick auf Webstühle, Schneidertische und einen Durchgang, der wohl in den Verkaufsraum vorne führte. Keine Shanaya. Nur mit halbem Ohr hörte er dem Gespräch zwischen Schneiderin und Söldner zu, wandte erst den Kopf zu den beiden zurück, als Rym sie zur Seite zog und ihr zugleich eine Mutmaßung unterbreitete, die die Dame mit einem hektischen Nicken zu bestätigen wusste. Na, dann sollte die Schwarzhaarige jetzt mal seine Laune erleben. Vorausgesetzt, sie lebte noch. Wer wusste schon, ob 'sehr viel Blut' nun die Wahrheit oder ein Ausdruck weiblicher Hysterie war. Er wandte sich an Rym, nicht ohne der Schneiderin einen kurzen Seitenblick zuzuwerfen.
„Bleib kurz bei ihr und versuch, sie ein bisschen zu beruhigen, bevor das halbe Viertel davon Wind bekommt. Ich sehe nach Shanaya und wenn wir tatsächlich einen Medicus brauchen, schaffen wir sie zu Gregory.“
Damit drückte er auch schon die Klinke und schob die Tür zur Schneiderstube nach innen auf.
Ihn empfing stickiges Zwielicht und der angenehme, ein bisschen muffige Duft von frisch gewaschenen Stoffen. Gestört lediglich von einem metallischen Hauch Blut. Shanaya saß halb entblößt auf einem Stuhl, eine Flasche Alkohol neben sich auf dem Tisch und Nadel und Faden in der Hand – wovon es hier immerhin mehr als genug geben sollte. Und sicherlich hätte ihn der Umstand, dass sie ihre Hose halb nach unten gezogen hatte, unter normalen Umständen ebenso amüsiert, wie Ryms lose Sprüche gerade eben. Genauso, wie ihn die Wahl ihres Rückzugsortes beeindrucken würde, wenn er nicht so... ja, was? Wütend, genervt, frustriert? Oder doch eher... enttäuscht gewesen wäre? Leise, fast lautlos stieß Lucien die Luft aus und verschränkte die Arme vor der Brust, presste die Kiefer aufeinander, sodass sich die mahlenden Muskeln auf seiner Wange abzeichneten. „Immerhin lebst du noch“, stellte er schließlich trocken fest.
Die Müdigkeit kroch Shanaya mehr und mehr in die Knochen. So gut es ging versuchte die Schwarzhaarige, den Gedanken zu verdrängen, dass sie auch noch den Weg zurück zum Bordell antreten musste. Vielleicht sollte sie sich doch lieber für eine Nacht… nein. Würde schon schief gehen… so weit war der Weg zurück ja nicht. Ein Gedanke, der von einem leisen Seufzen untermalt wurde, ehe sie zum nächsten Stich ansetzte. Sie war fast fertig… dann würde sie sich eine kurze Erholungspause gönnen und dann den Rückweg antreten. In der Hoffnung, dass sie nicht noch einmal einem wild gewordenen Maultier begegnete.
Ein weiterer Stich und sie vernahm das Öffnen der Tür. Beinahe wäre ihr ein lautes Brummen über die Lippen gekommen. Die Schritte waren viel zu schwer für die Schneiderin. Sie schnaufte. Nichtmal in Ruhe entblößen konnte man sich, um eine Wunde zu versorgen!
„Der Laden ist… geschlossen.“
Waren die ersten Worte noch ein Ton, der einem ‚Verschwinde‘ gleichkam, wurde das letzte Wort deutlich leiser, da sie den Kopf gehoben hatte und nun sah, wer hier vor ihr stand. Shanaya blickte den Dunkelhaarigen einfach nur an, still, hielt mit ihrer Arbeit inne. Etwas in seinem Blick ließ ihr Herz automatisch viele Takte schneller schlagen. Sie glaubte darin zu erkennen, wieso seine Stimme so klang, wie sie eben klang. Sie hatte es ihm versprochen. Und nun saß sie hier und nähte die Wunde. Sie machte sich ein wenig kleiner, der Blick in den blauen Augen wurde einen Hauch schuldbewusst. Nur stumm fragte sie sich, was Lucien wohl wusste. Die Tatsache, dass er hier war, sprach dafür, dass er nach ihr gesucht hatte. Zumindest konnte sie es sich nicht anders erklären. Was sollte er bei einem Schneider? Und seine Worte… Trotz allem ruhten die blauen Augen auf dem Gesicht Luciens, auch wenn ihr Kopf ein wenig zwischen ihre Schultern gesunken war.
„Ich lass mich doch nicht so leicht unterkriegen.“
Ihre Stimme war noch ein wenig leiser als zuvor geworden, auf ihren Lippen lag jedoch auch der zarte, vorsichtige Hauch eines Lächelns. Nur die Erschöpfung ließ sich nicht aus ihrer Stimme verbannen.
Sie stockte, als sie ihn im dämmrigen Zwielicht erkannte. Und von einem Moment auf den nächsten veränderte sich ihre Haltung, wurde von 'sichtlich genervt', weil sie wohl die Schneiderin erwartete, zu etwas, das Lucien zu einem anderen Zeitpunkt vielleicht als 'kleinlaut' bezeichnet hätte. So dunkel es im Raum auch war, in ihren Augen erkannte der 21-Jährige, dass sie den Grund für seinen Ärger ahnte – und sich schuldig fühlte. Weil sie es versprochen hatte. Sie hatte versprochen, auf sich aufzupassen, damit er sich nicht mehr um sie sorgen musste. Doch dieser bis dahin ungerichtete Ärger war nichts im Vergleich zu dem, was er empfand, als Shanaya antwortete. Die tiefgrünen Augen wurden düster vor Zorn. Er presste die Kiefer so fest aufeinander, dass seine Wangenmuskeln zuckten.
„Nein, natürlich nicht“, erwiderte er nach einem kurzen Schweigen frostig und sein Ton verriet, dass er das gänzlich anders sah. Er hatte es schon anders erlebt – und das war noch gar nicht so lange her. Dieser Tag, an dem er sie in dieser Seitenstraße gefunden hatte. Verletzt und vollkommen aufgelöst. Ihr Bruder mochte sie vielleicht nicht brechen können. Aber 'unterkriegen' konnte Bláyron sie durchaus. Und mit nur ein bisschen mehr Pech hätte ihr Bruder sie nach dem Zusammenstoß mit diesem verdammten Esel (oder was es auch immer für ein Vieh gewesen war) schon wieder gefunden. Sie selbst hatte Lucien erzählt, dass er nicht locker lassen würde. Dass er es wieder versuchen würde, wenn er die Gelegenheit dazu bekam. Und sie tat ihr Möglichstes, um es ihrem Bruder noch ein bisschen einfacher zu machen.
Lucien stieß mit einem angespannten Laut die Luft aus, wandte den Blick zur Seite. Was ihn jetzt so wütend machte, war nicht die Tatsache, dass sie die Sorge, die er ihr damals anvertraute, einfach ignoriert hatte. Er war nicht verletzt, fühlte sich nicht verraten. Es war lediglich die Angst, die Anspannung, sie ein weiteres Mal irgendwo in einer Gasse zu finden und dieses Mal zu spät zu sein, die sich jetzt, da er sie lebendig vor sich hatte, irgendwie entladen musste. Doch wie immer schluckte er die Dinge, die ihm auf der Zunge lagen, schüttelte nur den Kopf und sah Shanaya schließlich wieder an, knirschte leise mit den Zähnen, bevor er wieder sprach.
„Geht es dir gut? Glaubst du, du schaffst es zurück zum Bordell, wenn du damit fertig bist?“
Shanaya spürte diese innere Unruhe, die sie dazu verleiten wollte, vor dieser Situation zu flüchten. Wäre das mit dem verletzten Bein und einem Lucien, der sie vermutlich nicht so einfach davon kommen lassen würde, nicht schier unmöglich. Und selbst wenn… ewig hätte sie nicht vor ihm flüchten können. Trotzdem wich sie seinem Blick kurz aus, schloss selbst die blauen Augen und hob sie erst wieder an, als der Dunkelhaarige mit kalter Stimme etwas erwiderte. Shanaya lag nicht einmal eine Erwiderung auf den Lippen, unter seinem Blick schluckte sie lieber alle Worte herunter, die sie nun hervor gebracht hätte. Was hätte sie auch sagen sollen? Shanaya wusste nicht, was sich in diesem Moment in Luciens Gedanken abspielte – und vielleicht war das auch besser so. Sie saß nur still da, drückte inzwischen eines der Tücher auf die Wunde, die sie fast zu Ende versorgt hatte. Sie musste nur noch das Ende verknoten…
Schließlich war es jedoch Lucien, der den Blick abwandte. Eine Bewegung, die es Shanaya ermöglicht hätte, tief durchzuatmen, was sie jedoch nicht tat. Sie spürte dem aufgeregten Schlagen ihres Herzens nach, änderte dabei nichts an ihrer Position, in die sie ein wenig hinein gesackt war. Sie verstand dieses schmerzhafte Ziehen nicht, dass sich durch ihren Körper zog, ihr ein wenig die Luft nahm. Warum verschreckte es sie so sehr, dass Lucien so reagierte? Es hätte ihr egal sein können, immerhin hatte sie ihr Entscheidungen getroffen und musste damit leben. Trotzdem… Sie schluckte, senkte bei Luciens Blick jedoch nicht den Blick, hielt im Stand. Tja. Wie ging es ihr?
„Ich...“ Shanaya setzte an, biss sich dann jedoch leicht auf die Zunge und seufzte dann leise. „Mein ganzer Körper fühlt sich ein bisschen… wackelig an.“ Eine erneute, kurze Pause.
„Ich bleibe wohl am besten noch etwas hier, bevor ich zurück humpele...“
Noch einmal versuchte sie sich an einem Lächeln, auch wenn sie nicht glaubte, dass das bei dem Mann in diesem Moment viel bezwecken würde. Aber ohne ständige Pausen würde sie den Weg wohl erst einmal nicht schaffen, die Erschöpfung stand ihr in diesem Moment schon ins Gesicht geschrieben. Ihr gingen noch so viele Fragen an den Dunkelhaarigen durch den Kopf, aber sie hielt sich zurück, sparte sich ihre Kräfte für den besagten Rückweg.
„Hier in der Nähe ist eine Taverne, vielleicht bleibe ich da eine Nacht...“
Sie sprach mehr zu sich selbst, trotzdem laut genug, dass Lucien sie verstehen können würde. Dabei glitt ihr blauer Blick kurz zu der Tür, ehe sie sich wieder vorsichtig an den Älteren wandte.
Noch während er die eingeschüchterte Frau ein Stück von der Tür wegschob, meinte er zu spüren, wie die Temperatur um einige Grad sank. Nicht, dass das wirklich der Fall gewesen wäre, aber er wollte sicher nicht mit der kleinen Königin tauschen, wenn der wütende Commodore dort drin auf sie traf. Und ehrlich gesagt, wollte er es sich auch nicht einmal vorstellen. Deshalb konzentrierte er sich auch auf die junge Schneiderin, die immer noch vollkommen verstört zur Tür ihres Ladens sah. Es kostete ihn einiges an Zeit und guten Willen, die Frau soweit zuberuhigen, dass sie ihm auch wirklich zuhörte. Er sprach, er schmeichelte, er gurrte und schließlich schien sie ihm zu glauben, dass sie dafür sorgen würden, dass sie ihren Laden wieder bekam. Mit keinem Wort erwähnte er eine Entschädigung oder dass der Raum aufgeräumt sein würde, aber sie schien zufrieden mit dem Gedanken bald wieder hinein zu können, ohne eine verletzte, zickige Königin. Und er wäre ein Narr, ihr noch irgendwelche andere Ideen in den Kopf zu setzen. Die Frau verschwand ein paar Sekunden später Richtung Hauptstraße, um sich dort etwas zu Essen zu holen und sich so zu beruhigen, wie sie meinte. Er glaubte nicht, dass sie den Stadtwächtern bescheid geben würde, was hier vorgefallen war, aber mit Sicherheit würde sie darüber mit einer bekannten Marktverkäuferin tratschen. Denn wann hatte man es einmal mit einem Derwisch in kleiner Frauengestalt zu tun, die nach Nadel und Faden verlangte?
Rym hielt die Schneiderin nicht auf, sondern atmete kurz einmal durch und wappnete sich in den Raum zu treten. Wenn Shanaya tot in der Ecke lag, dann würde er seinem Commodore nur dabei helfen, die Leiche zu beseitigen, doch dieses Problem stellte sich offensichtlich gar nicht. Es war immer noch merklich unterkühlt in dem dunklen Raum, als der Mann eintrat und er konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen, als er Shanayas letzte Worte hörte.
„Wie ich sehe, lebst du doch noch, kleine Königin. Aber es könnte schwer werden, zu der Taverne zu humpeln, vor allem weil bald ein paar Gaffer hier sein werden.“
Er verschränkte belustigt die Arme hinter dem Kopf und zuckte gleichzeitig mit den Schultern, während er in Luciens Richtung sah.
„Die kleine Schneiderin ist auf den Markt gegangen, um zu tratschen. Also sollten wir den Arsch der Kleinen hierrausbringen. Wie willst du es machen, Commodore?“
Ob Shanaya es ahnte oder nicht – Ryms spontaner Auftritt rettete sie in diesem Moment. Lucien stockte bei ihrer Antwort für einen Augenblick der Atem, raubte ihm jedes Wort von der Zunge. Der Zorn, der wie ein Hammerschlag in ihm hochkochte, war drauf und dran, sich in einer einzigen Explosion zu entladen. Da saß sie ernsthaft vor ihm – vor ihm, der ihr versprochen hatte, dass sie nicht mehr allein sein würde – und redete davon, wie sie erst einmal in einer Taverne unterkommen würde, bevor sie dann morgen zurück zum Schiff humpelte. Was, bei den Titten einer verdammten Meerjungfrau, glaubte sie denn, würde er jetzt tun?! Schön, sie war noch am Leben, er ging dann schon mal vor? Wir sehen uns dann morgen? Doch Zairyms Worte hielten ihn auf. Nicht, weil sie so etwas wie Vernunft in ihm weckten und es das Sinnvollste wäre, zeitnah zu verschwinden, um keine weitere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es fühlte sich eher so an, als hätte er gerade mit aller Kraft eine Bogensehne gespannt und in genau dem Moment, in dem er sie losließ, kitzelte ihn jemand im Nacken. Er verriss. Mit einem Laut, der an unterdrückter, frustrierter Wut kaum zu überbieten war, wandte Lucien sich ab, machte einen halben Schritt in Richtung Tür und brachte damit eher zufällig als gezielt Ryms Gestalt zwischen sich und die Schwarzhaarige. Um die aufwallenden Gefühle nur irgendwie unter Kontrolle zu bringen, fuhr er sich mit beiden Händen übers Gesicht, raufte sich einen Augenblick später die Haare und sog Luft in seine wütend brennenden Lungen. Sie machte ihn wahnsinnig. Ganz ernsthaft. Sie machte ihn wahnsinnig.
Ohne Shanaya auch nur anzusehen, wandte er sich an sie. Sein Tonfall noch ein Stück unterkühlter, als zuvor.
„Sieh zu, dass du fertig wirst. Wir gehen jetzt zurück zum Bordell.“
Mit einem Seitenblick zu Rym ließ der Dunkelhaarige die Arme sinken.
„Zu Fuß, selbstverständlich. Sie kann selbst laufen. Bis hier her hat es schließlich auch gereicht, nicht wahr?“
Und dieses mal richteten sich die tiefgrünen Augen wieder direkt auf Shanaya. Ein Ausdruck der Provokation darin, der ganz und gar nichts Spielerisches mehr an sich hatte. Oh, er würde sie nicht selbst laufen lassen. Jedenfalls nicht die ganze Strecke. Doch er war in diesem Augenblick zu wütend, um auch nur ein freundliches Wort für sie zu erübrigen.
Gerade hatte Shanaya den Blick von der Tür abgewandt, als sie erneut aufging. Ein heller Lichtschein ließ die junge Frau kurz blinzeln, ehe sie erkannte, wer den Raum betreten hatte. Der kuschelbedürftige Söldner, der sich direkt an sie wandte. Shanaya wog nur leicht den Kopf, setzte dann mit einem „Was machst du hier?“ nach. Worte, für die sie nur Luft und Zeit fand, da Lucien nicht auf ihre Worte antwortete. Dafür ging sie auf den Rest seiner Worte nicht ein. Ihre hellen Augen ruhten auch nicht lang auf dem Dunkelhaarigen, sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Lucien – unter dessen Blick sie fast noch ein wenig mehr auf ihrem Stuhl zusammen sackte. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hoffte die junge Frau auf irgendeine Antwort, auf eine Zurechtweisung. Aber nichts dergleichen folgte, Lucien wandte sich einfach ab. Und das stach tiefer in ihrem Inneren, als es vermutlich jedes laute Wort getan hätte.
Die Schwarzhaarige biss fest die Zähne aufeinander, schloss kurz die Augen und versuchte mit einigen ruhigen Atemzügen ihr aufgeregt schlagendes Herz zu beruhigen. Sie verstand diesen Kerl nicht. Er wollte, dass sie auf sich aufpasste, wollte sie jetzt aber zurück zum Bordell laufen lassen? Inzwischen ruhte ihr Blick wieder auf der Wunde, die frisch vernäht war. Die schneidende Stimme des Mannes ließ sie kurz den Blick zu ihm wenden, ohne den Kopf zu bewegen. Er stand in der Tür. Aufbruchbereit. Sie brauchte nicht mehr lang… die Aussicht, den ganzen Weg zurück zu humpeln erschien ihr aber doch nicht sehr verlockend. Sie verknotete trotzdem den Fäden, der die Wunde zusammen hielt. So gut es eben mit vor Erschöpfung zitternden Fingern ging. Sie reagierte nicht auf die Worte, die ihr Captain an den anderen Mann wandte, erst, als sie seinen Blick auf sich spürte, drehte sie den Kopf zu ihm herum. Sie erwiderte den Blick aus den grünen Augen so fest es ihr möglich war, einen hauchzarten, rebellischen Ausdruck im eigenen Blick. Einige Herzschläge hielt sie dem Stand, ehe sie sich wieder herum wandte, nach dem bereit gelegten Verbandszeug griff und begann, die Wunde zu umwickeln. Kein dicker Verband, nur ein dünner Schutz, bis sie… irgendwo anders war. Sie wollte sich einfach nur hinlegen.
Als nächstes erhob sich die Schwarzhaarige gerade so weit, dass sie ihre Hose wieder ganz anziehen und verschließen konnte. Ihr war schwindelig, was sie damit zu überspielen versuchte, dass sie kurz die Augen schloss. Wie weit war es bis zum Bordell? Das würde sie doch wohl schaffen! Fest entschlossen, aber trotzdem erschöpft, griff sie nach ihrer Krücke, richtete den Blick auf die beiden Männer, wobei sie Lucien etwas länger musterte.
„Wenn es das ist, was du willst.“
In ihrer Stimme lag eine Mischung aus Herausforderung und müder Resignation. Sie konnte sich denken, dass ihr Captain sie nicht Kurs auf die Taverne nehmen würde – also durfte er sich auch nicht wundern, wenn sie diese ‚Herausforderung‘ annahm, den ganzen Weg zum Bordell allein zurück zu legen.
Shanaya Árashi ist 17 Jahre alt und wurde unter den Sternen der ersten Welt auf der Insel Yvenes geboren. Dieser mutige Pirat reist als Navigator durch die Meere der Inselwelten und plünderte mit der Crew bereits auf 170 Streifzügen in 155 Tavernen.
Habseligkeiten
Einen Degen, einen Dolch und eine Tasche voller Geheimnisse
Körperliche Verfassung
Endlich Mal wieder vollkommen uneingeschränkt!
Er versuchte, wirklich einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten. Ein Lächeln hier, ein Schmunzeln da, war zu verkraften. Aber wenn er lauthals über diese Situation lachte, dann, so hatte er das Gefühl, würde der Captain ihm vermutlich an die Kehle springen. Übertragung von Ärger so nannte sich das wohl. Und genau aus diesem Grund wanderte Ryms Blick an die Decke, als er auf einmal zwischen dem Mädchen und dem Mann stand. Ganz ehrlich? Wenn sie noch so einiges zu klären hatten, dann sollten sie das einfach im Bett oder im Heu oder hier auf dem Boden tun. Das wäre auf jeden Fall angenehmer, als wütend auf einander zu sein. Das Gefühl der Wut oder des Ärgers war immer so ... unproduktiv und unschön. Aber was sollte er sich da einmischen? Er wusste ja nicht, was zwischen den beiden vorging auf dieser tieferen Ebene, die diese Gefühle überhaupt erst ansprach. Er war nur ein Zuschauer oder in diesem Fall das fünfte Rad an einem Wagen. Obwohl sie ihm beide immer mal wieder Aufmerksamkeit schenkten, fühlte er sich eher unscheinbar oder wie ein Sprachrohr. Etwas, was er zuletzt als jugendlicher Taschendieb in den Straßen seiner Stadt gewesen war. Ziemlich schnell kehrte er aus dem Schwank seiner Jugendzeiten wieder ins Hier und jetzt zurück, als Shanya aufstand und sich ankleidete. Auf ihre Frage, was er hier tat, ging er gar nicht wirklich ein. Denn wenn sie von allein noch nicht darauf gekommen war, dass er für sie einen guten Schutz vor der Wut des Commodore abgab, dann würde er ihr das nicht noch auf die Nase binden. Er war milde genug, eine verletzte Person nicht über Gebühr zu ärgern. Stattdessen ließ er den Blick zwischen dem jungen Mann und der kleinen Königin hin und her wandern, bevor er die Augen verdrehte. „Jaaaaaa, also da wir uns ja dann einig sind, dass wir im langsamsten Tempo der Welt zurück ins Bordell kriechen, sollten wir vielleicht langsam mal los. Ich würde gern noch vor Sonnenuntergang dort ankommen.“ Auf jeden Fall machte er sich nicht über verletzte Personen lustig.
In eisigem Schweigen begegnete Lucien dem Blick der Schwarzhaarigen. Er sah den Anflug von Trotz darin, registrierte ebenso, wie sie ihm für einen Moment noch standhielt und sich dann abwandte, um sich der Verletzung an ihrem Bein zu widmen. Er bemerkte, wie ihre Hände vor Erschöpfung zitterten, sah zu, wie sie sich mühsam ein wenig aufrichtete, um ihre Hose vorsichtig über den Verband zu ziehen und mit bebenden Fingern zu verschließen. Wie sie nach ihrem Krückstock griff und sich schwer darauf stützte. Wie sie die Augen schloss und tief Luft holte, um die Kraft für das zu schöpfen, was er ihr gerade aufzwang. Er sah all das und doch berührte es ihn in keinster Weise. Mitgefühl und Verständnis war etwas, das sie in diesem Moment nicht von ihm erwarten konnte. Die tiefgrünen Augen verdunkelten sich ein Stück weit. Düstere Wut lag darin, als er Shanayas Blick ein letztes Mal erwiderte. „Du hast keine Ahnung davon, was ich wirklich will, Shanaya“, stieß er mit einem leisen Grollen in der Stimme hervor. Worte, die eigentlich noch so viel weiter reichten, als über die Frage, wie er sie alle zurück zum Bordell kriegen wollte. Doch er wandte sich nur um, nickte dem Söldner aus der Bewegung heraus kurz zu und bedeutete ihm schweigend, darauf zu achten, dass sie es bis zur Tür schaffte. Selbst warten tat der Dunkelhaarige jedoch nicht. Er verließ die Schneiderei auf demselben Weg, wie sie auch gekommen waren, trat hinaus auf die staubige Seitengasse und ließ die Tür hinter sich zufallen. Zu ihm aufzuschließen würde mit Shanayas Geschwindigkeit ein paar Sekunden dauern. Nur ein paar Sekunden für sich allein. Lucien stieß die Luft aus, fuhr sich mit der Hand erschöpft über die Augen, schloss für einen Moment die Lider, um sich ganz auf das wütende Brodeln in seinem Inneren zu konzentrieren. Wut vor Sorge. Wut über ihren Starrsinn. Wut über ihre Ignoranz. Aber es ging ihr gut. Es ging ihr gut... Sie lebte noch. Sie war noch da. Mit gespreizten Fingern fuhr Lucien sich durch die Haare, machte einen Schritt weiter hinein in die Gasse und wandte sich dann wieder halb der Schneiderei zu, um auf seine beiden Begleiter zu warten. Immerhin. Er wartete.
Zairym antwortete nicht auf Shanaya Frage, die sowieso mehr rhetorisch über ihre Lippen gekommen war. Vielleicht auch, um sich nicht all zu sehr auf Lucien zu konzentrieren, dessen kalter Blick ihre innere Unruhe nur anfachte. Trotzdem hielt sie dem Blick des Dunkelhaarigen noch einen Moment Stand, hielt die Luft bei seinen Worten an und schluckte mit aller Kraft eine Antwort herunter. In einem anderen Moment hätte er sich sicher etwas Passendes anhören dürfen, jetzt allerdings… glaubte die Schwarzhaarige nicht die Kraft für einen Streit aufbringen zu können. Sie schwieg also, richtete den müden Blick zu dem Söldner herum, nahm nur im Augenwinkel war, wie Lucien die Schneiderei verließ. Die Worte des Mannes ließen die junge Frau ruhig eine Augenbraue heben, ehe sie zu einer Antwort ansetzte. „Du kannst auch schon ruhig vorgehen, wenn du es so eilig hast.“ Abschätzend ruhten die blauen Augen einen Moment auf Zairym, dann richtete sie sich in Richtung Tür. Sie war zu müde, um ihre Gedanken zu ordnen, um sich mit manchen Gedanken näher zu befassen. Sie wollte nur ihre Ruhe. Die Krücke fest umklammert stieß sie die Tür also auf, kämpfte sich auf die Gasse davor und spürte schon nach dieser kurzen Strecke, wie ihr Körper sich gegen die Anstrengung wehrte. Kein weiterer Blick galt ihrem Captain, Shanaya biss nur die Zähne fester aufeinander, kämpfte sich Schritt für Schritt vorwärts. Sie würde das auch allein schaffen. Sie brauchte niemanden, um zurecht zu kommen. Immerhin hatte sie es auch bis hierher allein geschafft. Zumindest redete sie sich das in diesem Moment ein, um sich darauf konzentrieren zu können, den Weg hinter sich zu bringen, ohne vor Erschöpfung noch einmal im Dreck zu landen.
Seine Worte blieben unkommentiert, bis auf die Tatsache, dass Shanaya sich weiter langsam wie eine Schnecke bereit machte hier zu verschwinden und der Commodore fast wortlos aus dem Laden verschwand. Rym schürzte für einen Augenblick die Lippen. In seinem Kopf entstand ein Bild von einem zweirädrigen Wagen, der auf einmal noch ein drittes bekommen hatte und nun über unebenen Boden ruckelte.
Als würde er es aufgeben, zwischen den beiden Rädern zu vermitteln, hob er die Hände und wedelte kurz damit herum. „In Ordnung, dann beachten wir einfach Zairym nicht, der versucht hat dafür zu sorgen, dass ihr euch nicht gegenseitig umbringt.“ Das Schließen der Tür, als Lucien den Raum endgültig verließ, war Zeichen genug und Rym nickte nur zustimmen. Als Shanaya dann aber ebenfalls auf ihn zu, nein, auf die Tür, zukam, nein, eher zukroch, zuckte eine seiner Augenbrauen in die Höhe und er zuckte fast, als täte es ihm wirklich leid, mit den Schultern. „Ich habs zwar eilig mich schöneren Dingen als eurem Gezänk zu widmen, aber ich erfülle immer meine Aufträge, kleine Königin,“ kurz überlegte er, „Es sei denn, du kannst mir mehr geben, als der Commodore?“ Zwar sagte er ihr das, aber kaum hatte er geendet, da stieß sie auch schon die Tür auf und war nach draußen verschwunden. Rolle, rolle, mein drittes Rad. Rym schüttelte belustigt den Kopf und folgte dem Mädchen, das mit stoisch, stolzer Haltung an Lucien vorbei ging und versuchte sich ihren Weg zurück zum Bordell zu bahnen. Mit einer Schnelligkeit...Rym seufzte, als er neben Lucien stehen blieb. Es juckte ihn in den Fingern, das Mädchen einfach hochzuheben, damit sie schneller wieder zurück kamen, aber er wollte sich ehrlich gesagt, nicht seine Sachen mit Blut einsauen. Das würde er nie wieder ganz rauskriegen. Sein Blick fiel auf den Captain, der, so hoffte der Braunhaarige, sich in den paar Minuten allein, etwas beruhigen konnte. „Es wäre vielleicht angebracht, sie in Brautmanier zu tragen, Commodore. Nur ein Vorschlag, damit wir nicht irgendwann Rückwärtslaufen, so schnell, wie wir voran kommen.“
Auch wenn sich nur wenige Augenblicke später die Tür zur Schneiderei knarrend hinter ihm öffnete, reichte die Zeit allein zumindest, um sich wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen. Shanaya nicht mehr unmittelbar vor sich zu haben, half dabei durchaus, und als er nun den Blick hob, um ihr und Rym entgegenzusehen, nahm er mit kühlem Gleichmut hin, dass sie ihn beharrlich ignorierte. Er ließ die Schwarzhaarige an sich vorbei humpeln – nicht weniger verärgert über ihren störrischen Trotz, als gerade eben schon, aber zumindest ohne dass ein weiterer Wutanfall in ihm hochkochte – und wartete mit vor der Brust verschränkten Armen, bis der Söldner zu ihm aufgeschlossen hatte. Die Schwarzhaarige übernahm derweil die Spitze. In einer Geschwindigkeit, die es Lucien erlaubte, demonstrativ stehen zu bleiben, zu warten, Abstand zwischen sie zu bringen und schließlich in gemächlichem Tempo zu folgen, ohne sich Sorgen machen zu müssen, er könne sie aus den Augen verlieren. Erst dann löste er die Arme wieder und wandte sich in merklich beherrschterem Ton an seinen Begleiter. „Wenn du mit Brautmanier meinst, sie mir über die Schulter zu werfen und dort baumeln zu lassen, bis wir zuhause sind – sicher. Aber jetzt noch nicht.“ Die tiefgrünen Augen ruhten dabei unverwandt auf Shanayas Rücken. Seine Züge blieben ernst und angespannt, ohne jedes Lächeln. Er genoss es nicht, sie unter dieser Anstrengung leiden zu sehen. Er empfand auch keine Genugtuung dabei. Aber er war wütend genug, um sie an ihre Grenze treiben zu wollen. Wütend genug, um sie für die Sorge bestrafen zu wollen, die er sich ihretwegen hatte machen müssen. Früher oder später würde sich dieses Gefühl wieder legen, dann konnte er sie sich immer noch über die Schulter werfen und Rym kam doch noch rechtzeitig zum Abendessen. Vielleicht ließ er sie noch den Hügel hinauf krauchen und dann... Mal sehen. Er warf dem Söldner einen kurzen Seitenblick zu. „Du kannst schon vorgehen, wenn du willst. Wir haben sie ja nun gefunden, den Rest schaffe ich auch alleine.“
Dieses verdammte Fieber machte sie wahnsinnig. Der Schmerz (und das damit für sie viel zu niedrige Tempo) waren eine Sache… aber dieses Fieber zerrte an ihren letzten Kräften. Und davon konnte sie so viel herunter schlucken, wie sie wollte, es würde ein einfaches sein, ihr anzusehen, wie erschöpft sie war. Auch das wäre vermutlich kein Problem, wenn sie sich zwischendurch eine Pause gönnen würde, nur… mit diesen beiden… Anhängseln in ihrem Nacken war das etwas anderes. Zairyms Frage hatte sie unbeantwortet gelassen, sich nur darauf konzentriert, hier endlich weg zu kommen. Wenn sie sich schon keine Nacht vor dem Bordell drücken konnte, dann wollte sie einfach nur diesen Weg hinter sich bringen. Sie glaubte, die Blicke der beiden auf sich zu spüren, versuchte dieses nagende Gefühl jedoch irgendwie auszublenden. Sie hörte die Stimmen der beiden Männer, achtete jedoch nicht auf ihre Worte. Mit dem nächsten Gedanken war Shanaya stehen geblieben, versuchte einige Male tief durch zu atmen, um den müden Körper zu beruhigen. Ihr heller Blick wanderte suchend umher, bis sie erkannte, wonach sie gesucht hatte. Drei kleine Stände unter einem Vordach, was sie von ihrem Punkt aus sehen konnte, lag bei zumindest einem Stand genau das aus, was sie suchte. Ohne noch einen Moment zu zögern setzte die junge Frau sich wieder in Bewegung, biss dabei fest die Zähne aufeinander. Während ihre eine Hand sich an die Krücke klammerte, kramte die andere bereits in ihrer Tasche, bis sie zwei kühle Münzen an ihren Fingern spürte und diese hervor holte. Bei dem Stand, der jede Menge Obst und Gemüse ausgelegt hatte, warf sie dem Mann, der sie mit verschränkten Armen skeptisch anblickte, das Geld zu, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Einen Apfel steckte sie in ihre Tasche, einen weiteren behielt sie in der Hand und humpelte fest entschlossen weiter, um kurz danach stehen zu bleiben und sich an eine Wand zu lehnen. Zuerst nahm die junge Frau noch einen tiefen Atemzug, ehe sie ein Stück von dem Apfel abbiss. Die zwei Männer beachtete sie nicht. Sie sollten ruhig vor gehen.
Nun er war vielleicht nicht mehr so wütend, wie noch in der Nähstube, aber gänzlich verraucht war seine Wut auf die kleine Königin auch nicht. Rym wollte wirklich tapfer sein und sich einen Kommentar verkneifen, aber er merkte schon, wie er den Mund öffnete, um Luciens Worte zu kommentieren. Was sollte er auch sonst tun? Anders konnte er sich gerade ja nicht unterhalten. Doch statt etwas zu sagen, hob er eine Hand an den Mund und räusperte sich nur. Das war eine große Leistung für ihn, was niemand von den beiden hier anwesenden zu schätzen wissen würde. Sie kannten ihn immerhin nicht. Aber wieso sollte der Dunkelhaarige auch kommentieren, dass ihm die zukünftige Frau des Commodore leidtat? Oder ob Lucien noch einmal Unterricht darin benötigtige, wie man eine Frau richtig behandelte? Nein, er wollte die Wut des jungen Mannes nicht wieder entfachen, denn wahrscheinlich würde es schon reichen, die kleine Königin nur weiter zu beobachten. Statt also die zukünftige Braut zu bemitleiden, schüttelte Rym nur seinen Kopf auf Luciens nächste Worte, während er Shanaya dabei beobachtete, wie sie um die Ecke humpelte und...sich einen Apfel kaufte. „Nein, ich denke, ich bleibe lieber hier. Ich habe das Gefühl, dass unsere kleine Königin hier dich heute vermutlich doch noch dazu bringen wird, ihr den Hals umzudrehen.“ Abschätzend ließ er den Blick über das Mädchen wandern, dass demonstrativ ignorant darauf wartete, dass die beiden Männer sie überholten. Stattdessen blieb Rym stehen und verschränkte halbgrinsend wieder die Arme. „Ich hoffe, Essen ist jetzt nicht deine Ausrede dafür, eine Pause zu machen, weil du nicht mehr kannst?“, scherzte er fragend.
Lucien bemerkte durchaus, dass dem Söldner ein entsprechender Kommentar auf der Zunge lag, den er letztlich doch hinunter schluckte. Nur aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie der Ältere den Mund öffnete, ihn unverrichteter Dinge wieder schloss und das Ganze in einem Räuspern erstickte. Nur zu gern hätte der junge Captain ihn dazu angehalten, sich doch auszusprechen – er würde ihm schon nicht den Kopf abreißen – entschied sich dann allerdings dagegen. War vielleicht besser so. Auf Rym konzentrierte sich seine Wut zwar nicht, aber dass seine Zündschnur gerade ganz besonders kurz war, konnte Lucien schließlich nicht leugnen. Er zuckte also nur gleichgültig mit den Schultern, richtete seine Aufmerksamkeit wortlos auf Shanaya, die derweil einen Stand mit Obst und Gemüse ansteuerte, sich dort ein Paar Äpfel kaufte und an der nahegelegenen Wand schließlich eine Rast einlegte. Augenblicklich runzelte der 21-Jährige die Stirn, doch bevor er etwas sagen konnte, kam Rym ihm zuvor. Lucien blieb ebenfalls stehen, verschränkte die Arme wieder vor der Brust und sah Shanaya direkt in die himmelblauen Augen. „Na, nur keine Müdigkeit vorschützen. Dein Bein war ja schließlich gesund genug für einen Stadtspaziergang, dann schaffst du das Bisschen Weg bis zum Bordell ja auch noch.“ Nur kurz huschte sein Blick zu den Ständen, die die Schwarzhaarige hinter sich gelassen hatte. „Oder soll ich Rym vielleicht noch schnell für’s Abendessen einkaufen schicken? Dann kannst du dich doch ein bisschen ausruhen.“ Wobei in diesem letzten Satz ein unausgesprochenes und umso schneidenderes ‚was du natürlich nicht nötig hast‘ mitschwang.
Es wäre Shanaya am liebsten gewesen, wenn die beiden einfach voraus gingen. Ohne sich selbst abzuwerten, war sie in diesem Moment nicht mehr als ein aufhaltendes Anhängsel. Aber man tat ihr diesen Gefallen natürlich nicht, vorerst zumindest. Shanaya biss erneut von dem Apfel ab, richtete den Blick dann auf Zairym und kommentierte seine Worte mit einem leisen Brummen, antwortete dann mit ruhig Stimme, noch ohne Kälte darin. „Ich habe eine ganze Weile nichts gegessen… Da kommt mir das nur gelegen.“ Lucien war der Nächste, der das Wort ergriff und das, was er sagte, schnitt deutlich tiefer. Seine Worte verletzten auf eine Art, die der jungen Frau vollkommen unbekannt war. Und so wunderte es sie nicht, dass sie dem gegenüber eine kalte Mauer errichtete. „Ich komme auch allein sehr gut zurecht. Vielen Dank.“ Mehr erwiderte auf die Worte ihres Captains nicht. Ihre Stimme war nach wie vor ruhig, nur schwang jetzt eine deutliche Kälte darin mit. Ihr Herz schlug einige Takte schneller, dieses eine Wort betonte die Schwarzhaarige jedoch vollkommen bewusst. Sie war fast ihr ganzes Leben vollkommen allein zurecht gekommen. Und scheinbar würde sie sich auch allein durch den Rest ihres Lebens kämpfen müssen. Eine Tatsache, mit der sie sich früh abgefunden hatte. Die junge Frau biss noch einmal von ihrem Apfel ab, auch wenn ihr der Hunger gerade vergangen war. Ihr Blick ruhte abwartend auf Lucien.
Er hatte die perfekte Antwort auf ihre Worte parat. Er wollte sie sagen, wollte es so unbedingt, aber Lucien schien viel lieber Kleinholz aus dem Ego der kleinen Königin machen zu wollen, als sich Ryms wundervollen, pointierten Kommentar auf Shanayas Worte anzuhören. Nur mit Mühe unterdrückte der Dunkelhaarige ein Stöhnen, dafür aber nicht sein Augenrollen. Und das Mädchen machte es dann auch nicht viel besser, mit ihren kalten Worten. Entnervt warf der Mann die Hände in die Luft und war kurz davor sich wirklich auf den Weg zu machen und für das Abendessen einzukaufen, nur damit er den beiden Streithähnen entkommen konnte. DAS, und wirklich nur das, war der Grund, warum er sich von Menschen, die tiefere Gefühle in einem wecken konnten, fern hielt. Man fing an, sich zu sorgen, begann sich Gedanken um den anderen zu machen und wollte, dass dem anderen nichts geschah. Sein Herz zog sich zusammen und er wusste, was das zu bedeuten hatte. Menschen, die einem wichtig waren, brachten für gewöhnlich nur Schmerzen mit sich. Wieder verdrehte er die Augen, verscheuchte seine Gefühle und brachte gleichzeitig zum Ausdruck, was er von dem Streit der beiden hielt, da es ihn nicht mehr gänzlich amüsierte. Sein Blick fiel dabei aber eher auf Shanaya, da er trotz der harschen Worte, verstand, was Lucien sagen wollte. „Schätzchen, hättest du nicht deinen Stadtrundgang gemacht, hättest du sehr wohl essen können. Und das früher, als jetzt. Allein kommst du in diesem Falle nämlich nicht zu recht.“ Er sah zu seinem vorläufigen Captain. „Und auch wenn du sie für ihre bescheuerten Handlungen leiden lassen willst, Commodore, das Mädchen braucht einen Arzt. Eher früher als später.“ Er machte eine ausladende Handbewegung, als wolle er den Jüngeren auffordern, sich der Wildkatze zu nähren.
Die Kälte in ihrer Stimme prallte ungehört an ihm ab. Verletzte weder, noch berührte es ihn irgendwie. Auch wenn ein kleiner Teil in ihm wusste, zumindest ahnte, dass er sie getroffen hatte und das ihre Art war, sich zu schützen. Doch mit nur einem einzigen Wort traf die Schwarzhaarige genau den Nerv, der ihn innerhalb eines Herzschlags schlicht explodieren ließ und ihm jegliches Verständnis und jegliche Selbstbeherrschung nahm. Die tiefgrünen Augen verdunkelten sich vor unverhohlenem Zorn. Ohne darüber nachzudenken, was er sagte, was es bedeuten mochte, fuhr Lucien sie an: „Oh, ich weiß, Shanaya. Denn du wirst ja nicht müde, genau das immer wieder zu betonen! Und wehe den armen Idioten, die dich tatsächlich gern haben und ums Verrecken nicht wollen, dass dir etwas passiert. Denn was interessiert’s dich?!“ Ihm war durchaus klar, dass er ihr zumindest in diesem letzten Punkt Unrecht tat. Dass es sie durchaus interessieren würde – würde sie es nur begreifen. Aber das war nichts, was er in diesem Augenblick hätte kontrollieren können. Denn ihr ständiges ‚ich komme allein zurecht‘ trieb ihn schier in den Wahnsinn. Natürlich kam sie das! Niemand bezweifelte das – er am allerwenigsten. Aber sie begriff einfach nicht, dass es darum gar nicht ging!
Also war alles, was er tun konnte, sich abzuwenden. Sie nur einen Moment lang nicht anzusehen, bevor er etwas sagte oder tat, was er später bereute. Wäre Rym nicht da gewesen, um das Wort zu ergreifen, um einzugreifen in dem Versuch, zwischen ihnen zu schlichten – wer weiß, was der Dunkelhaarige dann getan hätte. So raufte er sich in dem Bemühen, die aufwallenden Emotionen in seiner Brust halbwegs zu kontrollieren nur die Haare, zwang sich, tief Luft zu holen. Der Söldner hatte Recht. So sehr Lucien auch das Bedürfnis trieb, sie aus lauter Wut weiter zu bestrafen, wusste er, dass er ihr damit nur schaden würde. Und das war trotz allem nicht das, was er wollte. Mühsam beherrscht rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel, schloss für einen Moment die Augen, dann warf er Rym einen kurzen Seitenblick zu und drehte sich wieder zu Shanaya um, sah sie nur einen Moment lang schweigend an, bevor er ihr mit einem Wink bedeutete, zu ihm zu kommen, damit er sie den Rest der Strecke tragen konnte und sie ihr verletztes Bein ausruhte. „Komm her“, forderte er sie auf. Sehr viel ruhiger, sehr viel weniger wütend als gerade eben noch. Das einzige Anzeichen dafür, dass er bereit war, nachzugeben, wenn sie das gleiche tat.
Nur einen kurzen Moment huschten die blauen Augen zu dem Söldner herum, viel Aufmerksamkeit schenkte Shanaya dem Mann jedoch nicht. Was er dachte und tat, war ihr, solange er nicht näher zu ihr kam, ziemlich egal. Lucien dagegen… aber nach wie vor machte keiner Anstalten, die einfach hier zu lassen. Der Weg zur nächsten Taverne war kürzer als der zum Bordell. Vielleicht wussten die beiden das. Der Gedanke verblasste jedoch einen Moment lang, als Lucien den Dolch, mit dem er zuvor zugestochen hatte, noch einmal herum drehte. Innerlich sackte Shanaya in sich zusammen, die Kälte blieb jedoch in den blauen Augen bestehen. Nur das verräterische Glitzern von Tränen milderte dieses Bild leicht ab. Ihr Captain wandte sich ab und die Schwarzhaarige biss sich auf die Unterlippe, versuchte die Tränen herunter zu schlucken. Zairyms Worte ließen sie dem Dunkelhaarigen nur einen weiteren Blick zu werfen. Was wusste er schon? Er kannte sie kein Bisschen, kannte nicht ihre Beweggründe. Eine Antwort blieb sie ihm dennoch schuldig. Sie hatte längst einen Haken hinter die Sache gemacht, den Apfel neben sich auf der Mauer abgelegt und nach ihrer Krücke gegriffen. Wenn sie nicht gingen, würde sie ihnen diesen Part eben abnehmen. Verletzt und unendlich müde. Zairyms Worte an Lucien nahm sie nur halbherzig wahr. Sie brauchte keinen Arzt, sie brauchte niemanden. Nur sich allein. Denn scheinbar konnte sie sich auch nur auf sich selbst verlassen.
Bestimmt, sofern ihr das möglich war, humpelte die Schwarzhaarige einen Schritt nach vorn, eigentlich bereit, keinem von beiden noch einen Blick zu zu werfen. Sie sollten sie in Ruhe lassen. Sie hatte sich nicht einmal die Tränen aus den Augen gewischt, wollte einfach nur hier weg. Als Lucien sich doch wieder herum wandte (Shanaya hatte gehofft, er würde jetzt einfach gehen), spannte sich die junge Frau automatisch an, hob den Blick zu dem Mann. Bereit für noch solch eine Ansprache. Einen zweiten Dolch in der Brust. Genau das lag in ihrem Blick, neben der Kühle und ungeweinten Tränen. Aber im Blick ihres Captains hatte sich etwas verändert. Etwas, von dem Shanaya nicht wusste, wie sie es zuordnen sollte. Beinahe wäre sie wieder einen Schritt zurück gewichen, es mischte sich jedoch nur Verwirrung auf die Züge der jungen Frau. Mit seinen Worten hob sich kaum merklich eine ihrer Augenbrauen und (für sie vollkommen ungewohnt) musterte sie verunsichert den Dunkelhaarigen. In ihrem Inneren lieferten sich Verstand und Herz einen wilden Kampf, mit dem Shanaya nur einige Herzschläge inne hielt, Lucien direkt anblickte. Es dauerte einige Momente, bis sich die Schwarzhaarige sich wieder regte, sich in Bewegung setzte. Zuerst nicht ersichtlich, ob sie nun einen anderen Weg ging, oder ob sie zu Lucien trat. Bis sie direkt vor dem Dunkelhaarigen stand, sich fast zögerlich gegen ihn lehnte und sich mit der freien Hand an seinem Hemd fest hielt.
Nachdenklich presste Rym die Lippen zusammen, hin und her gerissen, ob er gerade wirklich das richtige getan hatte. Oh, Lucien fuhr die kleine Königin nicht mehr an oder ließ seine Wut an ihr aus, aber auf der anderen Seite, hätte der Mann wirklich gern gewusst, wie es zwischen den beiden ausgegangen wäre, wenn er sich nicht schlichtend eingemischt hätte. Das er überhaupt als Schlichter fungierte, überraschte ihn schon. Oder vielleicht auch eher die Tatsache, dass er in dieser Rolle hatte helfen können. Zumindest einem der beiden Streithähne. Es kam kein Kommentar von Seiten der Wildkatze, außer der Tatsache, dass sie sich anscheinend doch ihren Weg allein bahnen wollte. Seine Worte waren dann wohl an ihr abgeperlt wie Wasser an einem Schiff, was ihn nur dazu brachte die Augen zu verdrehen und schließlich die Arme vor der Brust zu verschränken. Nicht allein wegen Shanaya, sondern weil er nun doch ungeduldig wurde und sich fragte, was genau er hier tat, wenn die Person, die Hilfe benötigte, sich so penetrant weigerte, die Hilfe anzunehmen. Sein Blick fiel auf Lucien, der seine Hand dem Mädchen entgegenstreckte und Rym schlug mit dem Zeigefinger auf seinen Ellenbogen, während er darauf wartete, dass die Navigatorin das Angebot annahm oder ausschlag. Als sie es endlich zu dem Captain geschafft hatte, klatschte Rym in die Hände, allein um diesen unglaublichen Moment zu würdigen. „Sehr schön. Da das also geklärt ist, können wir jetzt gehen? Ich bin mir sicher, wir haben alle noch etwas schöneres vor, als uns zu streiten, zu ignorieren oder uns überflüssig zu fühlen, richtig?“ Damit drehte er sich um und schlug den Weg in Richtung Bordell ein.
Hätte sie nicht innegehalten und sich auf seine Aufforderung hin nicht wieder zu ihnen umgedreht, hätte Lucien sie sich geholt. Er hätte jede ihrer Grenzen übertreten können und es hätte ihn nicht gekümmert, ob sie es wollte, oder nicht. Er war immer noch wütend genug, damit es ihm egal war, ob sie nach ihm schlug oder kratzte oder trat oder er ihr Vertrauen brach, wenn er sie sich tatsächlich über die Schultern warf und zurück ins Bordell zwang. Doch ein kleiner, deutlich sanfterer Teil ihn ihm hoffte, dass Shanaya ihm entgegen kam. Er bot ihr eine Wahl, weil er wusste, wie stolz sie war und weil er sie eben nicht verletzen wollte. Nicht wirklich. Egal, ob sie nun begriffen hatte, weshalb er überhaupt so wütend auf sie war, oder auch nicht. Also wartete Lucien – bis die Schwarzhaarige sich wieder in Bewegung setzte und schließlich deutlich wurde, dass sie zu ihm kam. Erst dann löste sich seine Anspannung, löste sich auch seine Wut ein wenig auf. Der Ausdruck in ihren Augen machte ihn weicher, versöhnlicher und er stieß mit einem ergebenen, aber milderen Seufzen die Luft aus, kaum dass sie ihn erreicht hatte. Die Wärme ihres Körpers drang durch seine Kleidung, als sie sich gegen ihn lehnte und mit einer Vorsicht, die im krassen Widerspruch zu seiner bisherigen Wut stand, legte er einen Arm unter ihre Knie und den anderen an ihren Rücken, um sie hochzuheben, ohne ihr dabei mehr als nötig wehzutun. Nur einen kurzen Moment lang begegnete er dabei ihrem Blick, dann sah er zu Rym und nickte auf die Krücke. „Kannst du die nehmen?“ Auf die restlichen Worte des Söldners ging er nicht weiter ein, auch wenn sie ihm ein flüchtiges Schmunzeln auf die Lippen lockten. Gut möglich, dass der Bärtige gar nicht ahnte, was seine Gegenwart bewirkt hatte. Doch Lucien war ihm durchaus dankbar.
Shanaya wusste nicht, ob sie glücklich mit ihrer Entscheidung war. Eine Antwort darauf konnte ihr vermutlich auch niemand geben. Aber sie hatte sich entschieden – auch wenn die Anspannung damit noch längst nicht von ihr abgefallen war. Der Gedanke, sich in irgendeiner Taverne unter einer Decke zusammen zu rollen, war noch immer unglaublich verlockend. Aber den Weg dorthin hätte sie auch erst einmal schaffen müssen. Nun stand sie da, gegen Lucien gelehnt. Unsicher über ihre Entscheidung, inzwischen einfach zu müde für jeglichen Widerstand. Wenn sie es genau nahm… blieb der jungen Frau nichts anderes übrig. Shanaya hob vollkommen bewusst nicht den Blick zum Gesicht ihres Captains, erst, als er sie hoch hob und den Blick kurz zu ihr senkte. Ein Augenblick, ehe ihr Kopf erschöpft gegen seine Schulter sank, während sich ihre Hand noch am Stoff seines Hemdes fest hielt. Ohne noch weiter über irgendeine Entscheidung nachzudenken, schloss die Schwarzhaarige die blauen Augen, versuchte jede Grübelei zu unterdrücken. Zairyms Worte nahm sie wahr, schnaufte jedoch nur leise als Antwort, die er vermutlich eh nicht vernehmen würde. Sie regte sich auch nicht groß, ließ die Augen geschlossen, atmete lautlos durch. „Danke.“ Nur ein Hauchen, ein Wispern. Vielleicht hörte Lucien es, vielleicht auch nicht. Shanayas Geist war zu erschöpft, um sich darüber Gedanken zu machen. Trotzdem konnte sie sich etwas entspannen, auch wenn die Verwirrung grob an ihren Nerven zehrte.