Das Team der Inselwelten heißt euch herzlich Willkommen und steht euch bei allen Problemen mit Rat und Tat zur Seite. Bei den Piratenoberhäuptern findet ihr eine helfende Hand für eure Fragen.
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Lucien Dravean ist 21 Jahre alt und wurde unter den Sternen der ersten Welt auf der Insel Kelekuna geboren. Dieser mutige Pirat reist als Captain durch die Meere der Inselwelten und plünderte mit der Crew bereits auf 91 Streifzügen in 60 Tavernen.
A Night at the Cabaret Sich erheben, immer und immer wieder.
Ceallagh & Lucien 26. April 1813 | nachts | an Bord des Schmugglerschiffs Mytilus
Er beging den Fehler, in seiner Hängematte einzuschlafen. Normalerweise hütete er sich davor, verbrachte seine freien Schichten in Gesellschaft des alten Auri, während der auf dem Oberdeck seinen Dienst verrichtete, der den stets wissbegierigen, immer geduldigen Jungen schon im letzten Jahr unter seine Fittiche genommen hatte, und schlief in der Regel in einem Stapel alter Seile und Gerümpel immer mal wieder vor Erschöpfung ein. Nicht für lange, dafür war sein 'Bett' zu unbequem, aber wenigstens ließen ihn die anderen Schiffsjungen dort in Ruhe.
Dieses Mal jedoch, drei Wochen nach ihrem Aufbruch von Kelekuna, erwischten sie den Zwölfjährigen allein. Schon als er aufwachte, von einer unguten Vorahnung getrieben, und an die in der Dunkelheit der Nacht kaum zu erkennende Decke des Mannschaftsdecks starrte, hätte er ahnen müssen, dass er ihnen nun doch auf den Leim gegangen war. Diese Runde hatte er verloren.
Als sich die Hand schließlich von seinem Mund löste, die ihn beinahe erstickt und sonst jeden Hilferuf seinerseits im Keim unterbunden hatte, stieß Lucien einen leisen Wutschrei aus. Er verwandelte sich jedoch schnell in einen Schmerzenslaut, als einer der Jungen, der ihn festgehalten hatte, ihn grob zu Boden stieß. Reflexartig versuchte er, sich mit den Armen abzufangen, wobei er sich unangenehm das Handgelenk und den Ellenbogen prellte. Das dumpfe Pochen in seinen Knochen hielt ihn jedoch nicht lange auf. So schnell er konnte, warf er sich herum, um seine Gegner zumindest im Auge behalten zu können, und krabbelte im Krebsgang rückwärts außer Reichweite. Nur zwei, drei Schritte weit, ehe er mit dem Rücken gegen eine Kiste stieß, die diese Nische vom Rest des Frachtraums abschottete.
Sie hatten ihn in den hintersten Winkel des untersten Decks verschleppt. Dort, wo die Tierpferche gebaut worden und nun Ziegen und Hühner untergebracht waren. Die Luft stank unangenehm nach Ziegenmist, Vogelkacke und totem Fisch – doch der Zwölfjährige war diesen Geruch gewöhnt. Nicht selten fiel ihm die würdevolle Aufgabe zu, die Pferche zu säubern. Trotzdem hatte er Mühe, zu atmen. Sein Herz schlug schnell – vor Angst und Wut – und verhaspelte sich dabei mehr als ein Mal. Was es schwer machte, seine Gefühle nicht allzu offensichtlich zu zeigen.
„Soo.“ Ein Junge, den er als Saras älteren Bruder Coillin erkannte, klatschte kurz geschäftsmäßig in die Hände. Er war sechszehn. Die anderen drei vierzehn oder fünfzehn. Allesamt überragten sie ihn um mehr als einen Kopf. „Da haben wir ja unser Prinzchen.“ Das Grinsen auf ihren Gesichtern ließ den Dunkelhaarigen ahnen, dass ihm nichts Gutes bevor stand. Genau wie letztes Jahr. Nur dass sie damals nicht so vorfreudig gewirkt hatten. Damals hatten sie ihn nur gehasst, getriezt und ihm das Leben auf der Mytilus so schwer gemacht, wie es ihnen möglich war. Dieses Mal hatten sie wohl etwas besonderes für ihn vorbereitet. „Weißt du, wir wollten uns eigentlich bei dir entschuldigen, Lucien. Dass wir letztes Jahr so gemein zu dir gewesen sind.“ Irgendeiner der anderen kicherte. Als ob Lucien ihm sonst geglaubt hätte... „Deshalb haben wir uns gedacht, wir tun dir mal etwas Gutes!“
Leise raschelte das Pergament unter seinen Fingern, die vorsichtig Seite um Seite voraus blätterten. Mit jedem weiteren Kapitel des alten Romans steckte der junge Hayes erneut seine Nase tief zwischen das vergilbte Papier und lächelte wohlig. Während die hellen Augen Letter um Letter verschlungen, genoss der Blondschopf den angenehmen Geruch von Vergänglichkeit und Nostalgie. Spürte wie er sich kribbelnd durch seinen Körper bahnte und all das um ihn herum ausblendete, was mit eindrucksvoller Kontinuität und lautem Poltern in seine andersartige Realität zwängte. Genervt rauschte der Einband letzten Endes zwischen seinen Händen zusammen, als das Gepoltert selbst nach Minuten nicht verstummte. Hinterließ eine flimmernde Staubwolke im Schein der Öllampe, die auf einem der Regale neben ihm stand und kitzelte ihm unangenehm in der Nase. Die Zeit der Ruhe und Zurückgezogenheit war wohl endgültig vorbei. Zumindest machten ihm das die Stimmen deutlich, die fast schon verheißungsvoll in ein Flüstern übergegangen waren und eindeutig nach der kleinen Jungentruppe klangen, der er seit Anbeginn seines Dienstes auf diesem Schiff aus dem Weg gegangen war. Er roch Problemfälle wie diese auf Meilen Entfernung. Konnte den schillernden Augenpaaren jedes Mal von Neuem ansehen, dass sie ihm ohne mit der Wimper zu zucken ein Messer in den Rücken rammten - ganz gleich ob metaphorischer oder physischer Natur.
Sie lauerten wie wilde Tiere auf den Moment seiner Schwäche. Und er selbst war nicht sonderlich erpicht darauf unter der Strafe seines Vaters und Onkels mehr Schaden nehmen zu müssen als notwendig. Er hatte nicht freiwillig auf diesem verdreckten Kahn angeheuert, dessen Captain noch unbarmherziger war, als er es sich vorgestellt hatte. Bereits am ersten Tag hatte er sich einen Fausthieb eingehandelt und achtete seitdem tunlichst darauf, sich nicht unnötig in Schwierigkeit zu bringen - sofern es sich vermeiden ließ. Irgendwann würde er noch seinen Weg finden, sich auf den Planken zu bewegen und all jenen Unsinn anzustellen, der ihm in den Sinn kam. Letztlich war nur derjenige ein findiger Kerl, der sich bei seinen Schandtaten nicht erwischen ließ.
Leicht drehte er den Verschluss am Fuße der Lampe und erstickte somit die kleine Flamme, die den Raum augenblicklich in Dunkelheit tauchte. Das Buch klemmte er sich an seinem Rücken zwischen Hosenbund und Haut und versteckte es vor aller Augen unter dem weiten Leinenhemd, das er sich mit wenigen Handgriffen zurück in die Hose stopfte. Kalem hatte ihm schon einmal eines seiner kostbaren Bücher entwendet. Noch einmal würde er den Meisterwerken der Dichter und Autoren nicht dabei zusehen, von den tosenden Wellen des Meeres verschluckt zu werden.
Unter einem leisen, metallenen Knarzen baumelte die Öllampe nun sicher zwischen den langen Fingern des Hayes, während dieser mit ausladenden Schritten über Kisten und Säcke hinweg stieg. Tunlichst darauf bedacht nicht blind in eine der Seilschlingen zu geraten und der Nase lang polternd auf dem Boden zu landen. Wenige Sekunden später zog er bereits die Tür zum Flur mit sanfter Gewalt zurück. Lugt mit wachsamen Augen durch den schmalen Schlitz der sich vom Rahmen bis zur Kante erstreckte. Die Nacht hatte schon seit einigen Stunden damit begonnen das Leben unter Deck nur in einem seltsamen Zwielicht aufrecht zu erhalten. Ceallagh konnte also kaum erkennen, ob sich noch jemand über den Flur auf die anderen Ebenen schlich oder womöglich in den ausgedehnten Schatten vor ihm versteckt hielt. Somit verschwendete er also keine unnötige Zeit mehr, als er die Tür weit genug in den Raum hinein zog, um in einer schnellen Bewegung über die Türschwelle zu treten. Erst das laute Aufatmen dicht an seiner Seite, ließ ihn den blaugrünen Blick herum wenden. Mit geweiteten Augen, die irritiert auf den Jüngling hinab blickten, der beinahe gegen seine Schulter gerannt wäre.
Wie ein Felsen war der blonde Hayes stehen geblieben und machte auch jetzt, wo der kurzweilige Schock sein Herz schmerzlich zwischen seine Rippenbögen quetschte, keine Anstalten zurück zu weichen oder Preis zu geben, dass er dem kleinen Kerl vor Schreck fast die Öllampe gegen den Schädel gedonnert hätte.
"Ist irgendwas?", brummte es düster aus seiner Kehle heraus, ohne den Jüngeren aus den Augen zu lassen.
Erst als dieser schnaubend um ihn herum schlich und den eigenen Schock mit einem wütenden Blick kaschierte, ließ Ceallagh seine angespannten Schultern hinab sinken und schüttelte fast schon belustigt den Kopf. Wandte sich in Richtung des Hauptdecks ab und trat wenig später in die einnehmende Dunkelheit der Nacht.
Mit einem knappen Nicken brummte er Auri einen stummen Gruß zu und erwiderte seine Frage, was er denn noch hier oben trieb, mit einem knappen Schulterzucken. Der Alte war tatsächlich einer der wenigen, mit denen er nicht sofort ein Problem gehabt hatte. Der sogar ganz vernünftig schien - was sich allerdings noch in den nächsten Wochen beweisen musste.
"Nachteule... schon immer gewesen.", gab er ihm kurz zu verstehen und war gerade dabei weiter in Richtung Bug zu laufen, als ihn etwas innehalten ließ.
Der freie Platz in Auris Nähe machte ihn stutzig. Und Ceallagh verstand erst dann den Ursprung seines Impulses, als er sich halb herum wandte und vom älteren Seemann eben jene Antwort erhielt, dessen Frage er nicht recht zu definieren wusste. Der junge Dravean wäre das auch - aber scheinbar hätte es ihn für heute in seine Hängematte verschlagen.
"Der schnarcht wie ein Bär.", entgegnete Ceall mit einem aufgesetzten Grinsen. Wandte sich im selben Atemzug jedoch schon wieder herum.
"Ich hol mir was zu trinken... möchtest du auch was?"
Eigentlich stellte er diese Frage, um so gut es ging zu vertuschen, was er gleich tat. Nämlich nach der Jungengruppe Ausschau zu halten, die er noch vor wenigen Minuten die Treppen hinunter gehen gehört hatte. Er hätte seine nächste Essenration darauf verwetten können, dass er Lucien zwischen ihnen finden würde. In welchem Zustand - das malte er sich besser nicht aus. Wenngleich er ihre Feindseligkeit ihm gegenüber nicht verstand, hatte er sie trotzdem jedes Mal in ihren Augen aufblitzen sehen. Was ein weiterer Grund gewesen war, sich von ihnen so gut es ging entfernt zu halten. Als der Alte mit dem Kopf schüttelte wandte sich Ceallagh ab.
Schlich wie ein Wind durch den Flur und entledigte sich der kleinen Öllampe, kaum dass er an den Hängematten unter Deck vorbei geschlichen war. Spitze die Ohren bei jedem Schritt ein bisschen mehr und hörte irgendwann über das Schnarchen einiger Seemänner hinweg Worte, die - sofern man nicht darauf achtete - schnell unter den üblichen Geräuschen an Board verschwammen. Sich darunter mischten wie Wasser und kaum mehr vom Rest zu unterscheiden waren.
Immer wieder verlagerte der Hüne sein Gewicht gleichmäßig auf seinen Füße, während er die Treppenstufen hinab stieg. Sich dem Gestank nach Unrat und Heu näherte, der für einen kurzen Augenblick seine Nasenflügel hinauf zog. Selbst nach Monaten auf See würde er sich nicht an diesen Gestank gewöhnen können, der ihn hier unten jedes Mal von neuem ins Gesicht schlug. Ein Gestank der schnell vergessen war, als er die Worte der Jungen deutlicher vernahm, die irgendwo hinter einem der dicken Masten und Pflöcke hervor kamen. So wenig wie er sie sah, desto mehr machte er sich die Schatten und Versteckmöglichkeiten zu nutze. Lauschte der Situation und versucht einen geschützten Blick auf die Szenerie zu erhaschen, die ihm bereits jetzt eine beißende Gänsehaut in den Nacken trieb. Bis jetzt war er sich nicht schlüssig, was er genau tun sollte, wenn die Situation eskalierte. Und er überließ es mal wieder seinem Zukunftsich darüber zu entscheiden.
Etwas Gutes tun? Im ersten Moment glaubte der Dunkelhaarige, sich verhört zu haben. Für wie bescheuert hielten sie ihn eigentlich? Doch wie immer schwieg er verbissen. Verbissen im wahrsten Sinne des Wortes, denn er presste die Kiefer in stummer Wut so fest aufeinander, dass sich die angespannten Muskeln seiner Mimik deutlich unter der Haut abzeichneten. In die tiefgrünen Augen, die ruhelos auf Coillins dämlichem Gesicht lagen, trat ein Ausdruck verzweifelten Zorns, während er zugleich hektisch nach einer Möglichkeit suchte, dieser Situation irgendwie zu entkommen. Dummerweise... fiel ihm dazu nicht viel ein.
Coillin lachte, leise und hämisch. „Was ist? Du sagst ja gar nichts. Bist du schon so überwältigt von unserer Großzügigkeit? Dabei haben wir dir doch noch gar nicht gezeigt, was wir für dich vorbereitet haben!“
Wieder blieb Lucien stumm. Blieb mit dem Rücken an der Wand einfach liegen. Immer schon. Seine kleine Schwester war diejenige, die mit ihren gerade sieben Jahren die Krallen ausfuhr und kämpfte. Für sich. Für ihn. Ohne Rücksicht auf Verluste, ohne einen Gedanken an die Konsequenzen. Mit all der glühenden Leidenschaft, die sie in ihrem Herzen trug.
Doch er nicht. Er wusste, dass ihm Angriff nicht half. Er machte es nur schlimmer. Coillin und seine Freunde wären sicher begeistert, wenn er jetzt versuchte, sich zu wehren – in dem Wissen, ihnen vollkommen unterlegen zu sein. Sie waren älter, größer und in der Überzahl, während hinter Lucien niemand stand. Also hatte er gelernt, einzustecken. Einstecken konnte er gut und auch wenn es ihnen eine diabolische Freude bereitete, auch dann auf jemandem herum zu hacken, wenn er schon längst aufgegeben hatte, enthielt er ihnen zumindest das Vergnügen vor, seine Gegenwehr vorher brechen zu dürfen. Was auch immer jetzt kam – Lucien beschloss, es über sich ergehen zu lassen. Genau wie letztes Jahr.
Eilige Schritte näherten sich, ließen sie alle gleichermaßen aufsehen und den Blick auf die Lücke zwischen den Kisten richten, die zur Treppe nach oben führte. Der einzige Fluchtweg – nun versperrt durch einen fünften Jungen, dessen schnelles Atmen verriet, wie eilig er es gehabt haben musste. „Hey, fangt nicht ohne mich an“, warf er zur Begrüßung grinsend in die Runde. „Meine Ablösung hat sich verspätet.“ Coillin winkte gnädig ab und richtete sich mit seinen Worten direkt an den Neuankömmling. „Wo du gerade da stehst.. Hol doch mal das Geschenk für unser Prinzchen.“ Und wieder kicherten sie allesamt los.
Lucien schlug das Herz inzwischen unangenehm hart gegen die Brust. Er wusste nicht, warum er nicht aufstand und floh. Sein Verstand, sein Körper, alles in ihm schrie danach. Doch seine eigene Angst lähmte ihn. Er wusste, dass er das nicht schaffen konnte. Noch ehe er die Treppe erreichte, hätten sie ihn eingeholt. Und was sie dann mit ihm taten, wollte er gar nicht erst heraus finden. Stattdessen folgten die grünen Augen unsicher dem Jungen, der über ein paar Seilknäule und Säcke hinweg kletterte und kurzzeitig in einer schattenumwobenen Ecke hinter einer Kiste verschwand. Man hörte ein leises Rascheln, ein stumpfes Kichern, dann tauchte er wieder auf und hielt triumphierend eine kleine Gestalt in die Höhe.
Es dauerte tatsächlich mehrere Herzschläge, bis der Zwölfjährige im schummrigen Dämmerlicht erkannte, was er da vor sich hatte: Es war eine Puppe aus Stroh, gerade so groß wie ein Kind. Sie hatten ein Kleid ausgestopft, hatten mit Garn wild schlackernde Arme und Beine daran geknotet und ihr mit reichlich Schnur einen kugelrunden Kopf aufgesetzt, an dem einzelne, lange Strohhalme als Haare herab hingen. Und Lucien wusste, ohne, dass jemand etwas sagen musste, wen diese Puppe darstellen sollte – es war eines von Talins hellen Alltagskleidern.
Jenes Kleid, das eines nachmittags nicht mehr auf der Wäscheleine hing und wofür seine kleine Schwester die Strafe hatte kassieren müssen, weil sie es angeblich nicht sicher genug aufgehangen hatte. Sodass der Wind es sich gegriffen und fortgetragen haben musste.
„Kommt, Jungs. Seid so gut und helft ihm auf.“ Lucien riss den Blick von der Puppe los, traf auf den Coillins und spürte im nächsten Moment, wie zwei Paar Hände nach seinen Armen griffen, ihn in die Höhe rissen.
„Was soll das werden? Was ist eigentlich euer scheiß Problem??“
Irgendwo gefangen zwischen hilflosem Widerwillen und der wütenden Erkenntnis, dass sie Schuld an Talins Strafe trugen, spie er dem Älteren die Worte förmlich vor die Füße. Er verstand es nicht. Verstand nicht, was hier vor sich ging. Doch der Junge lachte nur falsch, kam zu ihm und seinen beiden Wächtern hinüber und legte Lucien geradezu kumpelhaft einen Arm auf die Schulter, um mit leichtem Druck dessen Blick wieder auf die Puppe zu lenken. „Komm schon, nicht so misstrauisch. Wir dachten uns.. so lange auf See, da vermisst du deine Schwester doch bestimmt. Also haben wir dir einen Ersatz gebastelt.“ Der Zwölfjährige wand sich in der unangenehmen Umarmung, wollte sich dem irgendwie entziehen, doch einer der Jungs, die ihn festhielten, drehte ihm nur den Arm auf den Rücken und blockierte den Weg nach hinten, damit Coillin selbst genug Raum bekam, um seinen schraubstockartigen Griff nicht lockern zu müssen. „Jaja, ich weiß schon... sie sieht nicht ganz aus, wie das Original, aber mit ein bisschen Phantasie...“ Lucien stieß ein Keuchen aus. Seine Schulter begann zu pochen und das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer, doch Saras Bruder sprach einfach weiter und hinderte ihn daran, den Blick von der Puppe zu lösen. „Wir können sie ja hier unten für dich verstecken. Dann kannst du jederzeit her kommen und mit ihr... kuscheln...“
Die Art, wie er dieses letzte Wort betonte, ließ Lucien schließlich doch innehalten.
„Was...?“
Verwirrt starrte er diese Puppe an, sah schließlich von einem schallend lachenden Gesicht ins nächste. Was Coillin meinte, war unmissverständlich, und doch fiel es seinem Verstand schwer, wirklich zu begreifen, worauf er anspielte. Er wollte gar nicht begreifen. Erst, als ihm der Junge, der sie festhielt, die Puppe entgegen streckte, stetig näher kam und dabei die Lippen zu einem Knutschmund schürzte, mit einem gespielt verzückten Blick wild in der Luft herum küsste, schnitt die Erkenntnis, was sie ihm da gerade unterstellten, wie ein Messer durch seine Brust. Er prallte so heftig zurück, dass er mit dem Rücken gegen den Jungen hinter ihm stieß und ein scharfer Stich durch seine Schulter schoss. Glühende Hitze stieg ihm in die Wangen – ob vor Scham, Wut oder Schmerz konnte er in diesem Augenblick nicht einmal sagen, doch sie trieb ihm die Tränen in die Augen. War es das? War es das, was sie ganz ernsthaft von ihm glaubten?
„Lasst mich in Ruhe! Hau ab damit!“
Vergessen war der Beschluss, alles über sich ergehen zu lassen. Ohne Rücksicht auf den pochenden Schmerz in seiner Schulter kämpfte er gegen die Griffe, die ihn festhielten. Er wollte weg, nur weg, bevor sie ihm diese bescheuerte Puppe ins Gesicht drückten.
Das schwache Licht unter Deck verschluckte die vielzählige Details, die Ceallagh dabei geholfen hätten, den wahren Kern dieses Zusammentreffen zu erkennen. Doch das höhnische Grinsen auf den spitzbübischen Gesichtern, die schiere Vorfreude und Gehässigkeit, die Ceallagh in jedem ihrer Worte vernahm und reichten vollkommen aus, um die dichten Augenbrauen skeptisch gegeneinander zu pressen. Sie mussten von ungemeinem Hass getrieben worden sein, wenn sie sich in einer solchen Übermacht einem kleinen Jungen entgegen stellten. Je weiter der junge Hayes voraus rückte und allmählich das Bündel Stroh als Puppe in einem hellen Kleid erkannte, desto finsterer wurde seine Miene. DAS konnte doch wohl kaum deren Ernst sein, oder?
Mit einem letzten Blick auf die Gruppe zog er sich langsam in die Schatten zurück. Schluckte vor lauter Anspannung, die unangenehm in seinen Gliedern zu zittern begann. Nicht zum erste Mal hatte er diese unausgesprochene Anschuldigung vernommen. Und wie damals erfüllte sie ihn mit unbändiger Wut, die sich erst brennend durch seine Muskeln, dann durch seine Eingeweide fraß und ihn wenig später schlagartig hinter ihnen aus den Schatten treten ließ. Mit gelangweilter Miene und funkelnd grünen Augen, die eisig und unnachgiebig wirkten, starrte er auf die kleine Gruppe. Malträtierte die winzigen Hinterköpfe und verschränkte die langen Arme vor der Brust.
"Könnt ihr mir mal erklären, was der Scheiß hier soll?"
Ceallagh erweckte nicht den Eindruck als würde er sich diesem Spielchen anschließen. Eher machte es den Anschein, als brauchte es nur einen kleinen Funken, um den Älteren in schiere Raserei zu versetzen.
Im nächsten Moment spürte er kratziges Stroh in seinem Gesicht, musste Mund und Augen schließen, damit die Halme ihn nicht verletzten oder gar erstickten. Doch alles Kopf Abwenden, alles Kämpfen gegen die eisernen Griffe brachte ihm nichts. Das hämische Lachen der Schiffsjungen dröhnte über das Rauschen in seinen Ohren hinweg und ihr Gelächter bohrte sich scharf schneidend durch seine Brust. „Komm schon, Lucien! Gib ihr einen Kuss. Du willst es doch auch.“
Tränen aus Wut und Scham brannten unter seinen geschlossenen Lidern. Er zog und zerrte an den Griffen, trat nach allem, was er erreichen konnte und doch hatte er das Gefühl, das dämliche Gekicher wurde dadurch nur noch lauter. Jedenfalls bis zu dem Moment, in dem der Dunkelhaarige – wie er es schaffte, wusste er im Nachhinein auch nicht zu sagen – einen Glückstreffer landete. Er stützte sein Gewicht auf die Arme, trat mit aller Kraft nach vorne aus und erwischte den Jungen, der die Puppe hielt, direkt im Magen.
Mit einem Keuchen stolperte er zurück und Lucien konnte endlich wieder richtig atmen, schnappte hörbar nach Luft und richtete die tiefgrünen Augen auf seinen Gegenüber. Jetzt sah er sich allerdings nicht mehr nur Schadenfreude gegenüber, sondern auch halb unterdrücktem Zorn.
Vermutlich wäre das, was hätte folgen sollen, für den Zwölfjährigen nicht gut ausgegangen. Aber es kam nie so weit. Eine unnachgiebig schneidende Stimme zerschnitt die dicke Luft im Frachtraum, ließ alle sechs – Lucien eingeschlossen – schlagartig erstarren. Plötzlich ließen sie ihn los und er sackte auf den Boden wie ein loser Ballen desselben Strohs, aus dem auch die Puppe war.
Die anderen Jungen drehten sich derweil zu Ceallagh um, starrten ihn an, als stünde ein Geist unter ihnen. Bis Coillin direkt neben Lucien endlich seine Stimme wieder fand und großspurig die Arme vor der Brust verschränkte. Dieser Hayes war immerhin in seinem Alter. Kein Grund, Schiss vor ihm zu haben. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“
Ein abfälliges Schnauben durchfuhr schlagartig Ceallaghs Kehle, während der eisige Blick finster und mit hinauf schnippender Augenbraue auf Coillin hinab zuckte. Glaubte dieses Hemd wirklich sich aufspielen zu können? Mit langsamen Schritten näherte sich der hoch gewachsene Körper und schien mit jedem seiner Schritte breiter und schwerer zu werden. Nur langsam lösten sich die langen Arme, ermöglichten es dem Blondschopf seine Hände mit festem, fast schon Schraubstock artigem Griff die beiden Schultern zu umfassen, die sich ihm in den Weg stellten. Schob die beiden Jungen mit einer solchen Leichtigkeit zur Seite, dass das diabolische Lächeln auf seinen Zügen noch unheimlicher wirkte.
"Ach, ist das so Coillin?"
Eine Handbreite. Mehr Platz war nicht mehr zwischen den beiden Gleichaltrigen geblieben. Und obwohl Ceallagh mit jeder Faser seines Körpers an Lucien dachte, zuckten die grünen Augen keine Sekunde lang zur Seite. Nach dem kleinen Haufen sehend, der sich diffus in seinem Augenwinkel befand.
"Weißt du was ich an Hosenscheißern wie dir nicht ausstehen kann?"
Der Schatten um Ceallaghs Augen wurde zunehmend dunkler, als er sich langsam zu dem Jungen hinab beugte und tief einatmete.
"Ihr spielt euch auf und macht dennoch jede Woche in eure Hängematte. Heult wie Schlosshunde, wenn ihr auf euch allein gestellt seid und klebt wie Babies am Rockzipfel eurer Mutter, sobald ihr euch unbeobachtet fühlt. Das widert mich an."
Lucien wusste beim besten Willen nicht, ob in diesem Moment Dankbarkeit über die unverhoffte Rettung überwog, oder die Panik bei dem Gedanken, der, wer auch immer ihm zu Hilfe gekommen war, hatte gehört, worüber genau sich die anderen Jungen so herzlich amüsierten. Es war nicht so, dass Lucien dieses Getuschel nie mitbekommen hätte. Die Dorfbewohner, die Kalem und Irina Dravean gegenüber äußerten, wie merkwürdig eng doch das Band zwischen ihm und seiner Schwester war. Doch er hatte dem nie viel Bedeutung beigemessen. Es waren schließlich nur Erwachsene. Erwachsene verstanden nicht, was in Kindern vor sich ging und was Lucien und Talin einte, verstanden sie ohnehin nicht. Sie sahen nicht, dass sie ohne einander schlicht allein wären. Weil es sonst niemanden gab, der so dachte, wie sie. Nicht auf Kelekuna. Doch er hatte nie erwartet, dass sie ihm solche Absichten unterstellten. Solche... Gedanken. Es war so absurd, völlig absurd, verletzend und demütigend. Wie konnten sie alle nur?
Mit einem tonlosen Japsen hob der Zwölfjährige den Kopf, wischte sich mit dem Ärmel über die tränenverschmierten Augen und blinzelte durch das schummrige Licht. Er erkannte den Jungen, der da mitten unter ihnen stand. Das war dieser Fremde, der dieses Jahr mit ihnen segelte. Er stammte nicht von Kelekuna, hatte von einer anderen Insel aus angeheuert. Lucien erinnerte sich nicht daran, von wo. Er ging ihm aus dem Weg, wie allen anderen Jungen auch. Auch wenn dieser Hayes nie Anstalten machte, sich den Hänseleien der anderen anzuschließen.
Und nun stand er da, baute sich vor Coillin auf und raunte ihm in einem so gefährlich düsteren Ton Beleidigungen zu, dass nicht nur Saras Bruder einen Hauch blasser zu werden schien, sondern auch die anderen vier Schiffsjungen vorsichtshalber einen halben Schritt zurück wichen. Hilflos huschten ihre Blicke zu ihrem Anführer, der offensichtlich um Beherrschung rang. „Was... Was weißt du denn schon?“, konterte er in einem ziemlich uneindrucksvollen Versuch, sich keine Blöße zu geben. Immerhin waren sie ja noch in der Überzahl... „Wir haben nur ein bisschen rumgealbert. Unter Freunden. Richtig, Jungs?“ Seine Stimme gewann wieder an Festigkeit, während sein Blick über seine Freunde huschte – die geflissentlich nickten – und mit einem drohenden Ausdruck schließlich auf Lucien hängen blieb. Dann sah Coillin wieder zu Ceallagh auf und drückte den Rücken durch. „Wie wär's, wenn du dich wieder dorthin verpisst, von wo du gekommen bist, Hayes? Wer nicht von unserer Insel kommt, hat hier nichts zu melden.“
Ein süffisantes Lächeln zog sich über die feinen Züge des Hayes. Wurde von einem herablassenden Auflachen begleitet, das ziemlich deutlich machte, wie sehr ihn diese Widerworte beeindruckten. Nämlich gar nicht. Viel eher spielten sie ihm so direkt in die Karten, dass es mit etwas mehr Mühe ausreichte, um diese Bagage ein für allemal loszuwerden.
"Oh lieber Coillin...", drang es gedämpft und bittersüß über die schmalen Lippen, während Ceallagh die grünen Augenpaare über das immer blasser werden Gesicht gleiten ließ.
"Ich weiß so einiges über dich. Wahrscheinlich mehr als dir lieb ist..."
Man musste kein emphatischen Genie sein, um den wabernden Unterton in seiner Stimme wahrzunehmen. Die leichte Drohung die darin mitschwang und wohl für reichlich Belustigung sorgen konnte, wenn der Schiffsjunge ernsthaft in Erwägung zog, diesen Streit vom Zaun zu brechen. Es brauchte nur noch einen kleinen Windhauch und der Blondschopf stünde lichterloh in Flammen. Denn was er just in diesem Moment spürte war eine Wut, die er nur allzu gut kannte. Eine Wut, die er bereits so laut und unnachgiebig hinaus geschrien hatte, dass er Tage später noch mit den Prellungen und Blutergüssen zu kämpfen hatte.
Und während der junge Mann äußerlich vollkommen ruhig zu lachen begann und den langen Haarschopf senkte, brach in ihm bei Coillins Worten und der versucht widerspenstigen Haltung der letzte Schutzwall. Ruckartig schnellten die großen Hände voraus und packten den Gleichaltrigen am Kragen. Zogen ihn mit einer unbändigen Kraft die letzten Millimeter zu sich heran, während nur einen Moment später der sichere Boden unter Coillins Füßen verschwand.
"Ach... und du bist der Oberbefehlshaber hier, du kleiner verlogener Bastard?"
Wild funkelnd huschen die grünen Iriden über die kindlichen Züge des anderen und machten absolut keinen Hehl daraus, dass er keine hohlen Phrasen hinaus posaunte.
"Hör mir mal ganz genau zu. Denn was ich dir jetzt sage, sage ich dir nur ein einziges Mal, bevor du am eigenen Leib zu spüren bekommst, wie man mit solchen Großmäulern wie dir auf unserer Insel umspringt : du hälst deinen stinkenden Arsch ab sofort fern von ihm. Haben wir uns verstanden.... Coillin?"
Traurigerweise schien der Zwölfjährige in diesem Moment der einzige zu sein, der weit genug vorausschauen konnte, um zu wissen, wie tief Coillin mit seinem großen Maul gerade in die Kacke griff. Er sah es an dem Ausdruck in den grünblauen Augen. Hörte die unmissverständliche Drohung aus der dunklen Stimme heraus. Sein Blick klebte förmlich an der Szenerie, die sich vor ihm abspielte und auch wenn sich nach und nach die eine, alles entscheidende Frage in seinem Kopf manifestierte, hielt er die Klappe. Aus Angst, damit irgendjemandes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er war sich nicht einmal sicher, ob er im Blickfeld des fremden Jungen auftauchen wollte – obwohl ihn dessen Worte im nächsten Moment verwirrt blinzeln ließen. Warum? Warum... nahm er ihn in Schutz?
Coillin freilich hatte ganz andere Probleme. Er gab ein gurgelndes Geräusch von sich, als seine Füße den Kontakt mit dem Boden verloren, griff instinktiv nach den Handgelenken des Größeren. In dem hilflosen Versuch, sich zu befreien oder auch nur, seinen Hals von seinem eigenen Körpergewicht zu entlasten. Zumindest aber verriet der Ausdruck in seinen Augen ein gewisses Maß an Panik. „V..verstndn...“, röchelte er mühselig und schaffte es dabei kaum, den Mund weit genug zu öffnen, um sich verständlich zu machen. „Lss mich runtr...“, flehte er atemlos und zappelte in Ceallaghs Griff.
Ceallagh spürte das Zittern in seinen Muskeln, noch ehe das Gezappel des Schiffsjungen seine Aufmerksamkeit erreichte. Der schwere Körper hing wie ein unhandlicher Mehlsack zwischen seinen Fingern und überanstrengte seine Arme mit jeder weiteren Sekunde, die verstrich. Doch er würde selbst dann nicht locker lassen, wenn er das verräterische Knacken seiner Gelenke spürte. Ihm blieb nur diese eine Chance, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Hatte er sich die ganze Zeit auf dem Schiff im Hintergrund gehalten, würde ihm diese ruhige Zurückgezogenheit nun nicht mehr zu Teil werden. Lieber setzte er eine Schippe zu viel Düsternis und Dramatik in diese Drohung, als die ihm verbleibenden, unzähligen Monate damit zu verschwenden, sich diese Pickelfressen vom Leib zu halten.
Ein letztes Brummen erklang. Dann plumpste der zappelnde Körper lautstark und ohne jegliche Vorwarnung zu Boden. Mit einem verächtlichen Blick wandte sich Ceallagh an das kleine Häufchen Coillins hinab. Schüttelte abwertend den Kopf und wandte sich schließlich mit hinauf schnellender Augenbraue zu den anderen herum.
“Verzieht euch… und nehmt euer hässliches Voodoo Püppchen mit, bevor ich es euch in den Arsch schiebe.“
Und er war tatsächlich gewillt es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Noch mehr als sich Coillin brabbelnd aufraffte und mit einem letzten hasserfüllten Blick zurück sah, ehe er mit seinen Waschlappenfreunden die Treppenstufen hinauf verschwand.
“Hey… alles okay bei dir?“
Minuten waren vergangen in denen Ceallagh den Schritten gelauscht und darauf gewartet hatte, bis sie verklungen waren. Zum ersten Mal an diesem Abend wandte er die grünblauen Augen auf den Jungen hinab, dessen feine Züge mit feinen Kratzspuren übersät waren. Wirkte schlagartig wie ausgewechselt, kaum dass er sich auf die Knie hinab sinken ließ und mit schief gelegtem Schopf ein freundliches Lächeln in die Mundwinkel gleiten ließ.
Der Blick, den Coillin schlussendlich auch Lucien zuwarf, fiel ebenso vernichtend aus, wie der, der zuvor Ceallagh gegolten hatte. Er ließ ihn damit wohl wissen, dass es noch nicht vorbei war. Vielleicht nicht heute, nicht diesen Monat und nicht auf dieser endlos langen Fahrt – aber er würde ihm die Schande der heutigen Nacht heimzahlen. Spätestens auf Kelekuna. Wenn es niemanden mehr gab, der für ihn einstand. Doch für diesen Moment schien Saras älterer Bruder die Lust auf eine Schlägerei gehörig vergangen zu sein und mit einem kaum verständlichen Gemurmel wies er seine Freunde zum Rückzug an.
Sie quetschten sich einer nach dem anderen hastig durch die schmale Lücke zwischen den Kisten und machten sich fluchend aus dem Staub. Der eine, der die Puppe getragen hatte, warf sie auf halber Strecke achtlos in eine Ecke, dann verschwanden sie die Stufen hinauf zum nächsthöheren Deck.
Lucien sah ihnen kurz nach, bevor sein Blick auf das einzige Teil der Puppe fiel, das er von seiner Position aus sehen konnte – einer ihrer Stroharme. Wieder wallte Wut in seinem Herzen auf. So übermächtig, dass ihm ein weiteres Mal die Tränen in die Augen traten.
Doch Ceallaghs Stimme riss ihn zurück ins Hier und Jetzt, ließ ihn ruckartig den Kopf wenden und angesichts der Tatsache, dass der Ältere inzwischen unmittelbar vor ihm hockte, mit einem erschrockenen Luftschnappen hinten über und auf seinen Hintern kippen. Sein Herz machte einen Satz, ehe er realisierte, was der Junge gesagt hatte. Und dass er alles andere als wütend oder grausam klang. Das zu verdauen fiel Lucien erstaunlich schwer. Es passte nicht zu dem, was er gerade mit angesehen hatte – und trotzdem wagte er einen unsicheren Versuch.
„Ich... denke schon.“ Noch einmal wischte er sich mit dem Ärmel über die Augen, wich dem Blick des Älteren aus. „Danke... für deine Hilfe.“
Lucien Dravean ist 21 Jahre alt und wurde unter den Sternen der ersten Welt auf der Insel Kelekuna geboren. Dieser mutige Pirat reist als Captain durch die Meere der Inselwelten und plünderte mit der Crew bereits auf 91 Streifzügen in 60 Tavernen.
Ein Schnauben verließ seine Kehle, kaum dass Coillin die eisigen Augen auf Lucien hinab wandte. Sie zeugten von so viel Verachtung und köchelnder Wut, dass es wohl nicht lange dauern würde, bis sie sich den Jungen erneut vornahmen. Und Ceallagh rechnete bereits in diesem Augenblick damit, dass seine Aktion nicht ohne Konsequenzen bleiben würde. Doch schrieb er den Bengeln so viel Schamgefühl zu, als dass sie nicht sofort zum Kapitän eilen und ihm brühwarm von ihrer Dummheit erzählen würden. Zwar behandelte Dravean seinen Sohn mit einer ziemlichen Härte und Gleichgültigkeit, doch würde er es sicherlich nicht gutheißen, wenn eine Bande von vorpubertären Halbstarken seine Tochter in eine Strohpuppe verwandelte und sie dem eigenen Sohn als Liebesspielzeug darbot. Auf die wohl pietätloseste Art und Weise. Vielleicht hegte er selbst bereits den Gedanken, dass die Bindung seiner Kinder ungesund war und hatte ihn deshalb mit auf dieses Schiff geschleppt. Wer war er schon sich darüber ein Urteil anzumaßen. Doch eines war sich Ceallagh durchaus bewusst: Kalem schätzte es nicht, wenn man sich wie ein winselnder Hund vor seine Füße schmiss und wehleidig jammerte. In diesem Punkt war sich die Generation seines Vaters erstaunlich einig. Er hoffte lediglich, dass Lucien alsbald lernte sich gegen diese Idioten zur Wehr zu setzen. Und das effektiver als gerade eben.
Denn auch wenn sein kindlicher Trotz sich ziemlich bemerkbar machte, war er absolut machtlos gegen die Überzahl seiner Peiniger. Schien es jetzt noch, wo ihn die Überbleibsel der Strohpuppe vollkommen aus dem Konzept brachten und er beim Anblick seines „Retters“ erschrocken zurück stolperte. Fast schon instinktiv schnellte Cealls Arm voraus, bekam den Jungen jedoch nicht zu fassen und konnte ihm nur bei seinem schmerzhaften Fall zusehen. Irritiert schnellten die hellen Augenbrauen hinauf, während er Lucien musterte. Fische mit der Linken ein Stück Stoff aus seiner Hosentasche und hielt es dem Jüngeren vor die Nase, dessen grüne Augen scheinbar bewusst die seinen mieden.
“Das nächste Mal gibst du dem Vollidioten einfach gleich eins auf die Nase.“
Ein wohl ziemlich bescheuerter Rat, doch was sollte er schon groß auf Luciens Worte erwidern. Er hatte getan, was er für richtig hielt. Nicht mehr und nicht weniger.
“Außerdem vergreift sich niemand an der eigenen Schwester. Brüder wie wir müssen da zusammenhalten.“
Und wieder schenkte er dem Dunkelhaarigen ein warmes Lächeln. Zwinkerte ihm zu und erhob sich dann mit knackenden Knien. Reichte Lucien die vorgestreckte Hand, um ihm aufzuhelfen.
Er wich dem Blick des Älteren nicht aus, weil er schüchtern war. Oder gar, weil er sich dafür schämte, sich nicht wehren zu können. Sondern weil er nicht sehen wollte, was Hayes über die Vorwürfe dachte. Weil er nicht sehen wollte, wie sich ein Fremder nur aufgrund des Gehörten ein Urteil über ihn bildete, das so völlig falsch war. Es hätte das junge, hoffnungsvolle Gefühl, nicht völlig allein auf diesem Schiff zu sein, nur zerstört. Die Fremde zog Lucien schon so lange zu sich hin. Weil ihn dort draußen niemand kannte. Und sich niemand ein Urteil über ihn bildete, das er nicht selbst bestimmte. Wie sollte er diese Vorstellung aufrecht erhalten, wenn der einzige Fremde, dem er begegnete, schon entschieden hatte, was er in dem Zwölfjährigen sah, nur weil ein paar Kinder, die ihn hassten, Spötteleien und Gerüchte über ihn verbreiteten?
Doch dessen Worte, die Ceallagh selbst für bescheuert hielt, klangen in seinen Ohren nur freundlich, offenherzig und beruhigend. Weder verachtend, noch spottend.
In seinen Augenwinkeln erschien ein Stofftuch. Die Bewegung ließ den Jungen erneut zusammenzucken, doch er fasste sich schnell wieder und wandte vorsichtig den Kopf herum. Vorsichtig, weil er dem Frieden nicht ganz traute. Sein Blick huschte zu Ceallaghs Gesicht, dann zu dem Tuch und schlussendlich wieder zu seinem Gesicht, bevor er zögerlich den Kopf schüttelte.
„Es geht schon, danke.“, lehnte er das angebotene Tuch mit aller Höflichkeit ab und seufzte dann tief.
Wie sollte er sich auch gegen die anderen zur Wehr setzen? Sie waren ihm in jeder Hinsicht überlegen. In Größe, Stärke und Anzahl. Selbst wenn er einen Schlag würde landen können, würden sie ihm das doppelt und dreifach heimzahlen.
Doch Lucien sparte sich die Antwort. Stattdessen sah er auf, als sein Gegenüber sich erhob und lief bei dessen nächsten Worten erneut scharlachrot an. Falls er noch eine Bestätigung gebraucht hätte, ob der Ältere den Hintergrund für diese bescheuerte Puppe mitbekommen hatte, dann bekam er sie hiermit. Aber statt ihn ebenso zu verhöhnen, streckte er ihm die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen. Also griff Lucien nach kurzem Zögern zu, ließ sich von ihm auf die Füße ziehen und mustere seinen Gegenüber mit neu erwachtem Interesse.
„Hast du mir deshalb geholfen? Werden du und deine Schwester auch von anderen geärgert?“
Immer wenn der Jüngere vor ihm zurück wich, versetzte es dem Hünen ein stechendes Gefühl in der Brust. Hatte er selbst als Kind mit innbrünstiger Wut, Hass und irgendwann Gleichgültigkeit auf Situationen wie diese reagiert, wirkte Lucien mit einem Schlag so seltsam zerbrechlich. Als könne ihn just nur ein falsches Wort brachialer zu Boden ringen, als jeder Schlag, den er hatte einstecken müssen. Fühlte sich der blonde Hayes dem gewachsen? War er wirklich der Meinung einem kleinen Jungen wie Lucien das Maß unerschöpflichen Selbstbewusstseins einimpfen zu können, das er für dieses Schiff brauchte, wo doch klar war, dass er selbst nur wenige Monate bleiben würde? Es war einen Versuch wert. Und ohnehin längst zu spät für derlei Zweifel. Bereits jetzt hockte er zu tief in der Scheiße und war es dem Dunkelhaarigen fast schon schuldig. Denn langfristig gäbe es keinen langen Lulatsch wie ihn, der für ihn in die Bresche sprang und seine Überlegenheit – wenn auch nur gespielt – zur Schau stellte. Der sich nicht davon beeindrucken ließ, ob so ein paar Hanswurst der Meinung waren, sich an einem Schwächeren vergreifen zu müssen.
Also akzeptierte er Luciens Abweisung mit einem Lächeln. Er selbst hätte wohl in dessen Lage nicht anders reagiert. Erhob sich langsam und streckte die langen Finger hinab, abwartend, ob der Jüngere auch diese Hilfe ausschlagen und sich selbst aufrappeln würde. Fast schon zu Ceallaghs Verwunderung umfassten Luciens Finger seine Handfläche. Ließen sich nach kurzem Zögern federleicht hinauf ziehen, bis er sicher auf den schmalen Beinen stand. Instinktiv hielten die grünblauen Augen denen des Jüngeren stand. Funkelten für einen kurzen Moment, in dem die Frage des Dunkelhaarigen durch den Raum hallte und Ceall unter einem tiefen Einatmen seufzte.
“Unter anderem. Aber mittlerweile traut sich niemand mehr den Mund aufzumachen, wenn ich dabei bin. Auch wenn ich es manchmal noch immer in ihren Augen sehen kann.“
War sein Blick gerade drauf und dran, nachdenklich an Lucien vorbei in die Schatten zu driftet, schnellten die grünblauen Augen wie von selbst auf das zerkratzte Gesicht zurück. Musterten es eine Weile schweigend, ehe sich ein ehrliches, fast schon erleichtertes Schmunzeln auf die vollen Lippen legte.
“Wir sollten vielleicht hoch an Deck gehen, bevor sie wiederkommen. Was meinst du?“
Strohhalme rieselten von seiner Kleidung zu Boden. Ein paar hingen in seinem kurzen Haarschopf fest und dachten nicht daran, loszulassen. Doch der Zwölfjährige beachtete sie nicht weiter. Trotz der Hitze in seinen Wangen lag vorsichtige Neugier in den tiefgrünen Augen, die unverwandt auf dem Älteren ruhten. Es war leicht, ihn zu umgarnen und das kindliche Misstrauen zu verscheuchen, denn er war Freundlichkeit nicht gewohnt. Wenn sie ihm begegnete, öffnete er sich ihr nur allzu bereitwillig und sog sie auf wie ein Schwamm.
Ceallagh Hayes, der die Demütigung zwar mitangesehen hatte, ihn aber vor schlimmerem bewahrte und ihm nun – zumindest seiner Ansicht nach – vorbehaltlos gegenüber stand, stahl sich in diesem Augenblick nur allzu schnell in das Herz des dunkelhaarigen Jungen. Weil er mit geradezu verzweifelter Hoffnung daran glauben wollte, dass ihm auch Gutes widerfahren konnte. Abgesehen von Talin, selbstverständlich. Und der Gedanke, jemanden getroffen zu haben, der ähnliches erlebt hatte und dem nun niemand mehr dumm kam, beflügelte seine Neugier umso mehr.
Zunächst lag ihm deshalb die drängende Frage auf der Zunge, wie Ceallagh das geschafft hatte. Doch als dessen Blick an Lucien vorbei in die Dunkelheit des Frachtraums glitt, zögerte der Zwölfjährige, sah ebenfalls in die entsprechende Richtung und fürchtete bereits, seine Peiniger würden zurückkehren, als der Junge neben ihm erneut sprach.
Ohne lange darüber nachzudenken, nickte der Dunkelhaarige, dem die Enge und der Gestank hier unten plötzlich erdrückend erschienen. Er hatte jedoch kaum einen halben Schritt in die entsprechende Richtung gemacht, da blieb er erneut stehen. Starrte zunächst auf die Gliedmaßen der Strohpuppe, die nicht weit von ihm entfernt hervor lugten und wandte sich dann Ceallagh zu.
„Diese blöde Puppe... Wir müssen das Ding über Bord werfen... Aber ich will nicht, dass Vater uns sieht.“ Er nagte auf seiner Unterlippe, sah zögerlich zur Treppe hinüber. „Oder irgendjemand...“
Lucien wandte sich herum. Mit einem Gesichtsausdruck, der nur schwach erahnen ließ, dass die Furcht vor einer erneuten Übermacht der anderen Schiffsjungen abermals drauf und dran war seine Beine hinauf zu klettern. Ceallagh unterdes zerschlug dieses wackelige Konstrukt unbewusst im Keim, als er sich selbst wieder fing und tief einatmend eine Frage in den Raum stellte, die der Jüngere ohne zu zögern mit einem Kopfnicken begrüßte. Doch sein Weg führte ihn nur einen Schritt weit voraus aus der Hölle, zu der dieser stickige Raum mit jeder verstreichenden Minute wurde. Die grünen Augen auf die Überreste dessen gerichtet, das seine geliebte Schwester symbolisierte und dem mittleren Hayes erneut ein angewidertes Kräuseln über die Nasenflügel legte. Er konnte sich kaum vorstellen wie unangenehm es für Lucien sein musste, wenn er, dem dieser ganze Hass und Hohn nicht einmal galt, schon derart aus der Haut fuhr. Mit einem kurzen Seitenblick wandte sich der blonde Haarschopf herum und fixierte den Dunkelhaarigen neben sich mit ernster Miene. Beobachtete einige Herzschläge lang die schwelende Unsicherheit auf den kindlichen Zügen, ehe er sein Messer vom Gürtel löste und voraus trat.
“Mach die Augen zu.“
Der harsche Tonfall seiner Stimme prallte an den geteerten Wänden des Schiffes wieder und wirkte verglichen zu dem sanften Bariton zuvor wie ein schmerzhafter Kugelhagel. Doch er war notwendig. Sollte dem Jungen deutlich vor Augen führen, dass das, was der junge Hayes nun tat, nicht für seine Augen bestimmt war. Nur einen Moment warteten die grünblauen Iriden darauf, dass Lucien die Lider hinab senkte. Setzte dann weitere Schritte in Richtung der Puppe voraus und begann Stück um Stück die Seile und Drahtfragmete zu durchtrennen. Streifte den hellen weißen Stoff vom Strohleib und zerschlug mit kräftigen Schlägen den Rest der Arme und Beine an einem der Pfosten. Strohhalme rieselten durch die Luft und legten sich wie ein Teppich des Schweigens auf den Boden. Verkeilten sich in der blonden Mähne, die sich erst zu Dravean zurück wandte, als das Messer verstaut und das helle weiße Kleid zusammengelegt in seiner Linken lag.
“Meinst du, du kannst das irgendwo verstecken? Oder soll ich es für dich bis zum Ende der Fahrt aufbewahren?“
Die Bewegung neben ihm lenkte Luciens Blick wieder zu Ceallagh, dessen Finger sich bereits um ein schlichtes Messer schlossen. Doch auf den kindlichen Zügen spiegelte sich zunächst unsichere Verwirrung. Warum griff er nach der Klinge? Warum fuhr er ihn nun, nachdem er zunächst geradezu sanfte, tröstende Worte gefunden hatte, plötzlich an? Instinktiv wich der Dunkelhaarige einen halben Schritt zurück, kam der harschen Aufforderung bis dahin nicht nach. Bis die Erkenntnis schließlich durch seine Gedanken sickerte und seine Augen sich weiteten. Im nächsten Moment schloss er die Lider und hob die zu Fäusten geballten Hände, um sie dagegen zu drücken und das schummrige Licht des Frachtraums ganz und gar auszusperren.
Gegen die Geräusche, die daraufhin folgten, kam er jedoch nicht an und seine Phantasie übernahm den Rest für ihn. Er sah den Älteren vor sich, wie er die Puppe aufhob, mit einem hörbaren riiiitsch die Schnüre durchtrennte und versuchte, sich nicht vorzustellen, dass es seine kleine Schwester war. Es ist nur die Puppe. Nur diese olle Puppe. Trotzdem hatte Ceallagh mit seiner Vermutung vollkommen Recht: Der Zwölfjährige wollte gar nicht sehen, was vor sich ging. Er wollte nicht irgendwann einschlafen und davon träumen, wie jemand seiner Schwester die Gliedmaßen abtrennte. Er wollte es nicht sehen!
Schließlich durchschnitt die Stimme des Anderen erneut die einkehrende Stille, ließ Lucien unwillkürlich zusammenzucken und eine Hand vom Gesicht nehmen, um den Blick des andern zu finden. Und kurz danach den Boden zu mustern, auf den nun lediglich eine frische Schicht Stroh lag. Ein letztes Überbleibsel. Das und Talins Kleid in Ceallaghs Händen.
Der Junge überlegte einen Moment, schüttelte schließlich leicht den Kopf und ließ matt die Arme sinken.
"Sie würde nur wissen wollen, wo ich es gefunden habe. Aber ich glaube, es gibt Dinge, die Talin nicht wissen muss...“ Er hob den Blick von dem Stoff, begegnete dem des Blonden und bat stumm um dessen Verständnis. „Sie würde sich bloß in Schwierigkeiten bringen, wenn sie es wüsste.“
Er drückte sich die Fäuste aufs Gesicht. Nachdem er etliche Sekunden damit zugebracht hatte, seiner Anweisung Folge zu leisten. Ceallagh seufzte innerlich und wandte dem Dunkelhaarigen den Rücken zu. Es war ihm gleich, ob er seine Beweggründe verstand oder nicht. Denn er tat es nicht, um dem Jungen zu gefallen und sich sein Vertrauen zu erschleichen. Er tat es, weil er sich jäh wie ein Spiegelbild des Jüngeren fühlte. Jeder Herzschlag presste sich schmerzhaft gegen seine Rippen, während die scharfe Klinge seines Messers die Seile und Drähte durchtrennte. Selbst dann noch, als er sich herum wandte und das helle Kleid in der Linken drapierte.
Für einen Moment wurde sein Mund trocken. Sein Körper ähnlich schwer wie die Arme des Jungen, dessen ganze Erscheinung schlagartig abgekämpft wirkte. Ein tiefer Atemzug durchfuhr Ceallaghs Brust. Dann legte er das Kleid in weiteren Handgriffen zu einem schmalen Stoffstreifen zusammen und stopfte es sich im Rücken in den Hosenbund.
“Sie ist wohl ein Hitzkopf wie?“
Unweigerlich huschte ein mattes Lächeln über seine Lippen und verlieh seinen Worten eben jenen amüsierten Unterton, der sich bis zu seinen blaugrünen Augen erstreckte. Diesen Wesenszug kannte er nur zu gut von sich selbst.
“Aber mach dir keine Sorgen… das hier bleibt unser Geheimnis.“
Er schenkte Lucien ein knappes Zwinkern und wandte sich herum. Richtete das aufmerksame Augenpaar auf den feinen Film aus frischem Stroh, ehe er den Kopf kreisen ließ und sich mit der Linken den Nacken massierte.
“Was für eine Scheiße… diese Bengel machen echt nichts als Ärger.“, murrte der dunkle Barriton leise und schnaubte.
“Wie sieht’s aus? Kommst du mit ans Deck?“
Ruckartig wandten sich die blaugrünen Iriden über die breite Schulter herum und fixierten den dunklen Haarschopf.
Lucien konnte sich ein flüchtiges Schmunzeln nicht verkneifen und nickte.
„Ja. Kann man so sagen. Sie lässt sich von niemandem irgendetwas bieten.“
Er sagte es zwar nicht direkt, doch der Klang seiner Stimme verriet einerseits verborgene Bewunderung, andererseits zynische Ernüchterung. Sie war noch so jung. So viel jünger als er selbst. Und doch so viel stärker als er.
Andererseits hatte er noch nie den Sinn darin gesehen, Widerstand zu leisten. Jedenfalls nicht gegen die Hänseleien der anderen Kinder. Oder gegen den Willen ihrer Eltern. Er tat zwar selten das, was sie wollten – aber in der Regel nur deshalb, weil er und Talin sich von ihrer blühenden Phantasie viel zu schnell ablenken ließen. Nicht aus impulsivem Trotz, wie ihn seine kleine Schwester in hohem Maße in sich trug. Trotz gegen die, die sie einengten und gegen die Welt als solche, die ihr im Weg stand.
Wieder huschte ein Lächeln auf seine Lippen und er erwiderte das verschwörerische Zwinkern des Älteren mit einem Nicken – nur um einen Herzschlag später fast gleichgültig mit den Schultern zu zucken.
„Sie sind alle so.“, gab er gedämpft zurück, ohne genauer auszuführen, wer 'alle' eigentlich waren. Er schloss sich lediglich dem Älteren an, blickte auf dessen Frage zu ihm auf.
„Nur weg hier.“, stimmte er zu, zögerte allerdings kurz, bevor er den Weg zur Treppe aufnahm. „Hast du denn keine Schicht jetzt?“
Es musste hart seine für ein Mädchen unter einem Vater wie Kalem zu leben. Wenn er zu seiner Jüngsten genauso war, wie zu seinem Sohn, verwunderte Ceallagh diese sture Haltung kaum. Entweder hätte es sie zu einem weinerlichen Duckmäuser gemacht oder zu eben jenem Dickkopf, den Lucien mit einem schmalen Schmunzeln präsentierte. Es war fast schon zu schade, dass er nie in den leibhaftigen Genuss ihrer Person käme. Irgendwie hätte er schon gern mit angesehen, wie ein kleines Mädchen diesen Vollidioten die Hölle heiß machte.
“Hatte ich schon.“, entgegnete er dem Dunkelhaarigen, nachdem er sich zum Gehen abwandte und bereits die ersten Treppenstufen erklomm.
“Aber bei deinem Herren weiß man ja nie.“
Nun war er es, der mit einem amüsierten und sarkastischen Lächeln aufwartete. Die letzten Stufen der Treppe hinter sich ließ und in Richtung Küche schlenderte, um einen Krug Wasser mit an Deck zu nehmen. Immerhin war das der fingierte Grunde für seinen Weg in den Bauch des Schiffes gewesen.
Lucien hielt sich dicht an dem Blonden, als dieser die Treppe zum nächsten Deck hinauf steig. Nicht, weil er sich fürchtete, aus den Schatten heraus plötzlich angegriffen zu werden. Sondern hauptsächlich, weil er den Blickkontakt zu ihm nicht verlieren wollte. Den 'Überfall' der anderen Jungs hatte er natürlich nicht einfach so vergessen. Er hielt sich wie ein lebendiger Schatten im Unterbewusstsein des Zwölfjährigen. Aber seine Neugier griff mit gewohnter Kraft nach ihm und zog ihn in dem Bestreben, mehr über den Älteren zu erfahren, beständig hinter ihm her. Die Frage, warum der eigentlich Fremde für ihn eingetreten war, beschäftigte ihn nun stärker noch als zuvor. Denn er hatte längst mehr für Lucien getan, als je jemand sonst.
„Eigentlich sollten wir schlafen, solange wir noch können.“
Ein halb spöttisches Schnauben begleitete seine Worte und sein Blick huschte kurz zur nächsten Treppe weiter, die schließlich ganz hinauf führte. Dorthin, wo sein Vater mit strenger Hand das Schiff und seine Mannschaft lenkte. Zunächst passierten sie den Aufgang jedoch, steuerten die Kombüse an und Lucien beschleunigte seine Schritte, um wieder zu Ceallagh aufzuschließen.
„Darf ich dich etwas fragen?“.
Er fragte zwar um Erlaubnis, wartete allerdings nicht auf die Antwort, sondern redete einfach weiter.
„Warum... also.. warum lassen die Leute dich jetzt in Ruhe? Du hast vorhin gesagt, früher wurdest du auch so geärgert und jetzt nicht mehr. Wie hast du das geschafft?“
Luciens Schnauben hinterließ ein mattes Lächeln auf Ceallaghs Zügen. Der Kleine klang ja fast schon zynisch. Ob sie ihn wohl des Öfteren aus der Hängematte zerrten, wenn ihnen danach war? Es hätte den Blonden kaum verwundert, wenn er ehrlich war. Und je länger ihm der leise Schatten folgte, desto mehr beschlich ihn eine Vorahnung dessen, was der Knirps die letzten Jahre hatte erdulden müssen. Was das wohl aus einem ruhigen Burschen wie ihm machte?
Leise plätscherte das Wasser zurück in das Fass, aus dem sich der Hüne einen Becher schöpfte. Vermischte sich mit der leisen Frage, die Ceallagh den blonden, wilden Haarschopf zurück drehen ließ um Luciens Miene in Augenschein zu nehmen. Offensichtlich hatte er sich doch nicht in dem Jungen getäuscht, dessen Frage ihn gleichsam überraschte wie beruhigte. Er hatte damit gerechnet, um ehrlich zu sein. Zwar wirkte der junge Dravean nicht so störrisch wie er selbst und seine Schwester Talin, doch hatte er wohl kaum das Bedürfnis, sich diese Schikanen auf ewig über sich ergehen zu lassen.
“Weil sie Angst vor mir haben.“, erwiderte der Hayes dumpf. Wandte sich langsam herum, ohne den Blick von seinem Gegenüber zu nehmen. “Oder zumindest genau wissen, dass sie sich damit keinen Gefallen tun, sich mit mir anzulegen.“ Und das konnte sowohl aus Angst, als auch dem nötigen Respekt geschehen. Aber ob Lucien sich gegen eine solche Überzahl behaupten konnte? Nun. Es gäbe Mittel und Wege. “Wieso interessiert dich das?“ Entspannt ließ sich der hochgewachsene Körper gegen die Anrichte gleiten und den Wasserbecher abwartend an die Lippen legen.
„Aber wie?“
Die Frage war heraus, bevor Ceallagh überhaupt zu Ende gesprochen hatte und Lucien biss sich unwillkürlich auf die Lippen, um seinen hilflosen Übermut zu zügeln und ihn wenigstens ausreden zu lassen. Er stieß die Luft mit einem Geräusch aus, dem man den kindlichen Frust über seine Ahnungslosigkeit durchaus anhörte. Frust darüber, dass er nicht wusste, was er tun wollte und genauso darüber, dass er auf die Frage des Älteren im ersten Moment keine richtige Antwort wusste.
Die grünen Augen senkten sich auf das Fass mit Wasser, aus dem der Blonde sich einen Krug geschöpft hatte, während er die Worte gedanklich wiederholte. Warum wollte er das wissen? Was sollte er mit diesem Wissen überhaupt anfangen? Diese Hänseleien, das Herumgeschubse, die Tyrannei ihrer Eltern, die Blicke der Erwachsenen... all das war für ihn so alltäglich, das er es über sich hatte ergehen lassen. Immer wieder. Verletzt davon, ja. Aber ohne es in Frage zu stellen. Deshalb war er auch nie auf den Gedanken gekommen, sich davon zu befreien. Wozu auch? Die Hauptsache war doch, dass sie Talin in Ruhe ließen! Aber...
„Ich... … Wie soll ich denn meine kleine Schwester beschützen können, wenn ich mich nicht einmal selbst dagegen verteidigen kann?“ Er hob den Blick, sah zu Ceallagh auf. Und das war er. Der Grund. „Ich will, dass sie sich nicht mehr trauen, gemein zu ihr zu sein, weil sie wissen, dass ich immer da bin. Sie sollen wissen, dass sie sich damit keinen Gefallen tun. Wie bei dir! Also wie hast du das geschafft?“
Er war ungeduldig. Das war kaum zu übersehen. Ceallagh musste tief Luft holen, um ihm nicht in einem Anflug von Frustration in die Parade zu fahren. Letztlich konnte er den Kleinen nur zu gut verstehen. Doch diese immer gleiche Frage nervte ihn gewaltig. Was sich dann jedoch vor seinen Augen abspielte war ungemein faszinierend. Denn der junge Dravean verstummte jäh und signalisierte ihm etwas, das den Hünen bis ins tiefste Mark befriedigte und in seiner Annahme bestätigte, dass er wohl den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Lucien schien sich wohl nie mit dem tiefschürfenden Grund beschäftigt zu haben, wieso und vor allen Dingen was er an seiner Situation verändern wollte. Ein mattes Schmunzeln zeichnete sich auf den Lippen des Blondschopfes ab, das sich nicht einmal von den darauffolgenden Worten des Jüngeren vertreiben ließ. Und das kleine Funkeln, das für einen Sekundenbruchteil in den grünen Augen des Jungen aufblitzte, ließ das Herz des sonst so gleichgültigen Hayes höher schlagen. Er sah es. Den lodernden Wunsch sich aufzubäumen. Stärker zu werden. Alles hinter sich zu lassen, was einem das Leben als Steine in den Weg legt. Geräuschvoll sauste der Becher auf die hölzerne Oberfläche der Anrichte. Ebenso taten es die riesigen Hände des Hayes, dessen lange Finger sich fest um die schmalen Schultern des Jüngeren fixierten. Nur eine Haaresbreite hielt die drei-Tage-Bart Miene Ceallaghs vor Luciens Gesicht inne. Und schnaubte.
“Wovon hälst du dich lieber fern? Einem Bären, der brüllend direkt auf dich zuläuft, wenn du ihn nur ansiehst oder einem Rehkitz, das scheu in den Wald davon hüpft, sobald es DICH sieht?“
Und es war wohl klar, wer hier welche Rolle spielte. Für einen Moment wurde sein Griff um Luciens Schultern fester. Dann ließ er schlagartig von ihm ab und sank entspannt mit der Hüfte gegen die Anrichte.
“Und so tyrannisch dein alter Herr auch sein kann… hast du ihn jemals kleinlaut davon laufen sehen? Ich jedenfalls nicht. Und wir wissen beide, dass sich nicht mal die Hosenscheißer von vorhin trauen, Widerworte gegen ihn zu richten.“
Aus guten Gründen, die Lucien wohl von allen auf diesem Schiff am besten kannte. Zumindest vermutete Ceallagh das.
Wie immer ahnte der Zwölfjährige nicht im Geringsten, wie nervig er mit seiner ewigen Fragerei sein konnte. Den immer gleichen Fragen, die erst verstummten, wenn er eine akzeptable Antwort gefunden hatte. Er ahnte jedoch auch nicht, was der aufkeimende Trotz gegen seine Situation sonst noch in Ceallagh bewirkte. Zu gebannt war Lucien von seinem eigenen Übermut, zu fixiert auf den klaren Wunsch, der sich langsam aus seinem Herzen schälte und weit mächtiger war, als alles, was er sich je für sich selbst hätte wünschen können. Er musste stärker werden – um Talin zu beschützen. Ganz einfach.
Doch dann krachte der Krug auf die Anrichte, der laute Rumps ließ den Jungen zusammenfahren, den Blick heben und die tiefgrünen Augen weiteten sich vor Entsetzen, als Ceallagh die Hände auf seine Schultern donnern ließ und damit verhinderte, dass er vor ihm zurück weichen konnte. Ihm wich das Blut aus dem Gesicht, sein Herz schlug plötzlich doppelt so schnell und er war so verschreckt, dass er kein Wort heraus brachte – geschweige denn gänzlich aufnehmen konnte, was der Ältere ihm da sagte. Zu sehr fühlte nun er sich wie das Reh vor dem Bären – nur, dass er nicht davon hüpfen konnte.
Bis Ceallagh ihn wieder los ließ und Lucien vor Erleichterung beinahe die Knie einknickten. Er schnappte nach Luft, die ihm, ohne dass er es bemerkt hatte, gänzlich weggeblieben war und hob unsicher den Blick zu den Augen des Hayes. Der stand nun so gelassen an die Anrichte gelehnt, als wäre nie etwas passiert.
„Ich... ich denke nicht.“, stammelte er schließlich und versuchte, sich seinen Vater in irgendeiner Situation kleinlaut vorzustellen. Nein. Unmöglich. Genauso wie die Vorstellung, jemand könne ihm auf der Nase herum tanzen.
„Aber...“ Lucien sah wieder auf, halb fragend, halb trotzig. „Ich will auch nicht so werden, wie er.“
Dieser kleine Knilch musste noch so einiges über sich ergehen lassen, wie Ceallagh schien. Ganz zu schweigen davon, dass er mehr Selbstbewusstsein brauchte, um sich von nichts und niemandem mehr derart einschüchtern zu lassen. Da formte einen das Leben weitaus effektiver als er es je könnte.
“Und wer hat behauptet, dass du das musst?“
In gewisser Weise er selbst. Doch das war wohl kaum, worauf er hinaus wollte. Nur weil man hart durchgriff, musste man nicht zu einem Tyrannen mutieren. Es gab andere Mittel und Wege, um die Crew auf Spur zu halten und trotzdem konsequent durchzugreifen, wenn es Not tat.
Mit einem Seufzen verschränkte Ceallagh die Arme vor der Brust und ließ den Blick aus blaugrünen Augen durch den Raum gleiten. Vielleicht funktionierte diese Unterhaltung ja besser, wenn er den Knirps nicht die ganze Zeit so finster nieder starrte.
“Was hast du vorhin gefühlt als sie… mit dieser Puppe auf dich los sind?“
Lucien verkniff sich ein vorlautes „na du.“ So gänzlich war sich der Dunkelhaarige nämlich nicht sicher, wie er Ceallagh einschätzen sollte. Er schüchterte ihn ein – wenn auch auf ganz andere Art und Weise, als sein Vater, den er dafür alles andere als bewunderte. Kalem war grobschlächtig, gewalttätig und rau. Ceallagh dagegen einfach... respekteinflößend. Aber er wusste auch nicht, wie er auf einen vorlauten 12-Jährigen reagierte und irgendwo in seinem Unterbewusstsein, weit von wirklicher Greifbarkeit entfernt, schien Lucien auch zu verstehen, worauf er hinaus wollte. Und wenn er es jetzt noch nicht verstand, dann vielleicht in ein, zwei Monden, wenn er Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken.
In diesem Moment jedenfalls senkte er grüblerisch den Blick auf die Planken zu seinen Füßen, runzelte die Stirn und sah erst wieder auf, als Ceallagh sich mit einer weiteren Frage an ihn wandte. Nicht einmal einen halben Herzschlag später, stolpernd und prompt verkrampfend, schoss ihm tiefste Röte ins Gesicht und er sah rasch zur Seite.
„Ich wollte einfach abwarten, bis sie mich wieder in Ruhe lassen. Irgendwann hören sie immer einfach auf, wenn sie keine Lust mehr haben. Aber als sie diese Puppe raus geholt haben…“
Er blinzelte gegen das Brennen in seinen Augen und versuchte, nicht auf sein schneller schlagendes Herz zu achten, das vielleicht vor Wut, vielleicht vor Panik gegen seinen Brustkorb trommelte.
„Ich habe mich geschämt... Dass sie so etwas über mich sagen.“, brachte er schließlich mühsam hervor.
Er dachte nach. So angestrengt, dass Ceallagh fast ein mitfühlendes Schmunzeln entglitten wäre. Wie alt er wohl war? Zwölf oder Dreizehn? So genau konnte es der Blonde im spärlichen Licht kaum sagen, ganz geschweige davon, dass es wirklich etwas zur Sache tat. Ganz gleich wie viel oder wenig Zeit ihm noch blieb, bis er die ersten Ufer des Erwachsenwerdens erreichte, musste ihm klar werden, dass dieser Weg ihn nur noch tiefer in die Rolle eines Opferlammes treiben würde. Darauf warten, dass sie die Lust daran verloren, ihn zu demütigen. Ceallagh schnaubte und schüttelte nur den Kopf. Das klang so unfassbar armselig, dass es wohl kaum seiner hinauf schnippenden Brauen und eines tiefen Atemzuges bedurfte, um Lucien das deutlich zu machen. Ehrlich gesagt war er sich gerade nicht sicher, ob der Kleine wirklich das Zeug dazu hatte, sich zu behaupten. Wenn selbst die eigene Schwester mutiger war… das konnte ja noch was werden.
“Du solltest dich nicht schämen. Du solltest wütend darüber sein." Seine Stimme durchbrach die kurze Stille im Raum wie ein Hammerschlag, wenngleich er leise und bedacht gedämpft zu dem Jüngeren sprach. “Sie haben weder ein Recht so über deine Schwester, noch über dich zu sprechen. Und wenn du einfach davonläufst, gibst du ihnen nur noch mehr Gründe zu glauben, dass sie Recht haben.“
Wenn Kalem von dieser Geschichte hörte – nicht von der körperlichen Auseinandersetzung, die wäre ihm wohl scheiß egal – würde er wohl kaum so weinerlich den Rückzug antreten. Ceallagh selbst hatte sich schon mehr als einmal in dieser Situation befunden, weil Menschen nicht verstanden, dass es Bindungen zwischen Bruder und Schwester gab, die innig, aber platonisch waren. Weil es Mädchen gab, die zu schwach und zu weich waren, um sich selbst zu schützen. Die einen großen Bruder brauchten und sich nicht dagegen sträubten, wenn er sich schützend vor sie stellte.
“Was hätte wohl deine Schwester an deiner Stelle getan?“
Nur langsam kehrten die grünblauen Augen wieder zurück auf den braunen Haarschopf neben sich.
Lucien zuckte unter Ceallaghs Worten zusammen, obwohl der Ältere weder besonders laut, noch besonders verärgert geworden war. Vielleicht, weil der Junge schon den Bruchteil einer Sekunde vorher geahnt hatte, dass seine Antwort die falsche war. Dass Ceallagh sie nicht gutheißen, sie gar für schwächlich halten würde.
Er befürchtete eine Strafe, eine Kopfnuss mindestens, eine im Zorn erhobene Stimme wie er sie von seinem Vater kannte. Doch die eindringlich gedämpfte Tonlage erschreckte ihn fast noch ein bisschen mehr.
Er schwieg, starrte auf die verplankte Wand des Schiffes und runzelte die Stirn. Plötzlich regte sich dieser Ärger in ihm, den der Blonde die ganze Zeit sehen wollte. Aber nicht gegen die Jungen und ihre Hänseleien, nicht gegen seinen Vater oder gegen Ceallaghs treffsichere Wahrheiten. Er ärgerte sich über sich selbst, weil er in den Augen eines anderen nun so derart schwach wirkte. In den Augen aller. Hatte er sich nicht gerade noch geschworen, für Talin stärker werden zu müssen? Und nur zwei Sätze später zeigte sich erneut, dass er das genaue Gegenteil war?
„Sie hätte jedem in die Hand gebissen, der versuchen würde, sie zu packen und hätte Collin angesprungen, um ihm die Augen auszukratzen.“, erwiderte Lucien schließlich mit gepresster Stimme.
Trotzdem schwang eher ein enttäuschtes Seufzen als ein kämpferischer Unterton in seinen Worten mit. Enttäuscht von sich selbst.
Einen Augenblick später seufzte er tatsächlich, senkte kurz den Blick und sah dann doch wieder auf und Ceallagh unmittelbar ins Gesicht. Ein etwas ironisches Lächeln wagte sich in seine Mundwinkel.
„Aber so was machen nur Mädchen.“ Noch während er das sagte, nahm ein völlig verrückter Plan in seinem Kopf Gestalt an. „Ich... ich würde Collin gern die Nase brechen für das, was er heute... also für... Ich will, dass er dafür büßt. Und nicht erst darauf warten, dass sie mich wieder irgendwo allein erwischen. Hilfst du mir?“
Dieses Bild vor seinen Augen glich dem eines wildgewordenen Minitigers, der fauchend die Krallen ausfuhr und zum nächsten Sprung inmitten eines Pulks aufgeregt schnatternder Enten ansetzte. Unweigerlich schob sich ein amüsiertes Schmunzeln auf Ceallaghs Züge, das auch dann nicht verflog, als Lucien zu ihm aufsah und etwas sagte, für das er ihn liebend gern geohrfeigt hätte. Zumindest tat dieses spezielle Mädchen etwas, im Gegensatz zu ihm. Das gab ihm weder einen Grund noch die Erlaubnis derart zu lächeln, als wäre es keine respektable Art der Gegenwehr. Jeder kämpfte mit den eigenen Mitteln. Was für den einen wilde Fäuste oder Krallen waren, waren für einen anderen Streiche, ausgefuchste Pläne und ausgeklügelte Hinterhalte. Doch auch das was eine Lektion, die ihm das Leben noch früher oder später erteilen würde. Auf jene Weise, die ihm stärker im Gedächtnis blieb als alles, was er ihm sagen oder vorleben konnte.
Was Lucien dann jedoch aussprach, hinterließ ein kurzes Zucken in den feinen Zügen des jungen Hayes. Kehrte etwa zum Leben erwachte Rachsucht in den schmalen Körper, dessen Silhouette er unter einem prüfenden Blick in Augenschein nahm? Unfassbar wie schnell diese Situation kippte und aus dem weinerlichen, beschämten Kind der Quell eines Mannes zu tropfen begann. Die Arme in einer nachdenklichen Haltung vor der Brust verschränkt, runzelte Ceallagh die Stirn. Behielt es sich vor den Knirps für eine gefühlte Ewigkeit in seinem Eifer zappeln zu lassen, ehe er sich schmunzelnd von der Anrichte abstieß und amüsiert gluckste.
“Schieß los Kleiner. Was ist dein Plan?“
Das konnte noch lustig werden. Angesichts der Tatsache, dass er womöglich seinen Platz auf diesem Schiff und obendrein seinen Kopf riskierte. Wie gut, dass ihm ohnehin zumeist alles scheißegal schien. Und wenn ihn sein Onkel noch so oft verprügelte. Allein der Umstand seiner miesen Laune, die stetig kreisenden Gedanken um seine Person: all das brachte sein Herz zum Hüpfen. Senkte seinen Schopf in einer fließenden Bewegung hinab zu dem kleinen Kerl, der ihm so geschützt und im Geheimen seine Plan entgegen flüstern konnte.