11.04.2020, 17:18
Fenster in die Vergangenheit
Morgen des 04. Mai 1822
Greo & Shanaya Árashi
Er wisperte. Leise, leise wichen ihm tonlose Worte von den Lippen, kaum mehr als sein Atem. Ein verkniffener Ausdruck grub sich in sein Gesicht und verzerrte den dunklen Fleck unter seinem rechten Auge, der wie ein versehentlich gefallener Tropfen Wasserfarbe aussah. Seine Finger zitterten. Obwohl man ihn so weich als möglich gebettet hatte, fühlte sich der Untergrund an, als läge er auf Stein. War das Einbildung? Sein Schädel war so gebettet, dass die wunde Stelle an seinem Hinterkopf entlastet wurde. Aber der Schmerz war dennoch überwältigend. Nahm er ihn überhaupt richtig wahr? Greo seufzte. „Flimra. Nich. Namam.“, gab er von sich und verschluckte sich. Er musste Husten. Aber er konnte nicht. Panisch, ohne die Augen richtig aufzukriegen, röchelte und krächzte er nach Luft.
Das rege Treiben an Deck hatte begonnen. Das übliche Gewusel passierte dieses Mal jedoch ohne dass Shanaya sich mitten darin befand. Genausowenig stand sie am Steuer. Eine tiefe Sorge hatte sie von ihrem Platz vertrieben, sodass sie sich für einige Minuten hatte ablösen lassen. Jemand fehlte in diesem Gewusel. Jemand, dessen Hut immer irgendwo aufblitzte. Heute nicht. Er war verletzt, das wusste sie. Trotzdem verstärkte dies noch einmal die Sorge. Mit gezielten Schritten bewegte die junge Frau sich also die Treppe hinab, direkt auf die Hängematte zu, in der Greo lag. Er hustete, sodass sie automatisch schneller lief. Kurz vor ihm, die Hand zu einer beruhigenden Geste erhoben, blieb sie dann dennoch stehen, berührte ihn nicht. Unsicherheit lag in ihrem Blick, hatte sie doch noch genau vor Augen, wie er auf Gregory und Elian reagiert hatte. „Greo...?“
Schweiß klatschte ihm einige Haarsträhnen an die Stirn und sein Gesicht wäre fahl gewesen, hätte der Bluterguss nicht so einen netten Tupfer hinterlassen. Er versuchte sich irgendwie etwas aufzurichten, um besser atmen zu können. Mit kalten Fingern krallte er sich in den Rand der Hängematte. Er machte die Augen auf, wieder zu, wieder auf, aber schien nicht richtig zu sehen. Dann sog er mit einem Male heftig Luft ein, hustete erneut und beruhigte sich. Sein Brustkorb bewegte sich hektisch hoch und runter. Seine Lungen schienen zu pfeifen. Er leckte sich die salzige Oberlippe ab und schaute aus einem schmalen Blick heraus. Da bewegten sich Umrisse im spärlichen Licht. Sie sahen aus wie ein dünnes Wesen mit grotesk dünnen, aber langgezogenen Gliedmaßen. Er sah etwas erschrocken aus. Denn da war sein Name. Er riss die Augen auf, obwohl irgendwie alles verschwommen war und stierte nahe der Hysterie in dieses fremde Gesicht. „N-i-nein. Nein.“ Er wog langsam, in kleinen Bewegungen den Kopf hin und her, was tierisch wehtat. Denn die Person vor sich kannte er nicht.
Shanaya wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wollte ihrem Freund helfen, nur wie? Ihr Blick glitt einen Moment suchend durch den Raum, suchte nach seinem Hut, den er nicht bei sich hatte. Sie war ungewohnt nervös, hätte dem Dunkelhaarigen am liebsten etwas von den Schmerzen abgenommen und es sich selbst aufgeladen. Aber so... konnte sie nicht wirklich viel tun. Sie stand nur da, lauschte den Worten ihres Freundes und spürte, wie sich ihr Herz dabei verkrampfte. Er stammelte nur leise vor sich hin. „Ich bin es... du bist in Sicherheit, Greo...“ Ihre Stimme war möglichst leise, gerade so, dass er sie noch verstehen konnte. Sie näherte sich ihm jedoch nicht.
Er presste seinen Leib in die Hängematte, als ob sie sich plötzlich zu einem Kokon entwickeln und ihn sicher einschließen würde. Wer war das? Woher wusste sie, wie er hieß? „Ne-en. Ne-en.“, flüsterte er und sein Blick huschte zu allen Ecken, die er irgendwie erfassen konnte. „Hause. Ni hier. Ni hier.“, versuchte er der Person dort zu erklären und fühlte, wie sein Herz an Fahrt aufnahm. Das Hämmern schlug so feste von innen gegen seinen Brustkorb, dass es gefühlt die Knochen zu sprengen drohte. „Kein Rerut.“, wimmerte er los und seine Stimme brach. Tränen stiegen ihm in die Augen, er konnte es einfach nicht verhindern. „Nach Hause. Kein Rerut!“
Ganz automatisch wich Shanaya noch einen halben Schritt zurück, als wolle sie dem Mann mehr Platz einräumen, damit er sich nicht bedrängt fühlte. Ihre Hand war längst wieder neben ihren Körper gesunken, nur die blauen Augen betrachteten noch den großen Mann, der in seiner Hängematte kauerte. Er stammelte weiter und Shanaya versuchte aus diesen kleinen Fetzen irgendetwas sinnvoller zu bilden. Kein Rerut. Kein... Rekrut? Von was sprach er? Shanayas ballte beide Hände zu Fäusten. „Niemand wird dir etwas tun, ich passe auf dich auf.“ Sie sah die Reaktionen des Mannes und es zerriss ihr förmlich das Herz, so hilflos zu sein.
Er schluchzte nicht, aber die Tränen liefen ihm über die von kleinen Kratzen gezeichneten Wangen und vermischten sich mit dem fiebrigen Schweiß. „Will nahh Hause.“, stieß er diesmal recht deutlich hervor und krümmte sich zusammen. Er drückte das Gesicht in den rauen Stoff. „Kein Rer- kein Rekrut.“, wiederholte er sein Mantra. „Ari“, nuschelte er dann mit bebenden Schultern in die Hängematte rein und konnte Rotz und Wasser nicht unterdrückten, dass ihm das Gesicht vollends verklebte, wie bei einem kleinen Kind. Erbärmlich, wäre sein erster Gedanke gewesen, hätte er sich beobachten können. Aber der fiebrige Zustand ersparte ihm diese Realität. Er verschränkte die Arme vor der Brust, weil es sich anfühlte, als würde er sonst auseinanderfallen. Nun konnte er nicht verhindern, dass er weinte. Er kniff die Augen zusammen. Dann öffnete er sie wieder und rieb den Kopf am Rand der Hängematte entlang, bis er die Frau durch seinen verschmierten Blick ansehen konnte. „Farm! Keine Marine.“, heulte er sie an, während die Haut um Mund und Nase immer weißer wurde.
Mehr und mehr brüchige Worte kamen Greo über die Lippen und allmählich füllten sich auch Shanayas Augen mit Tränen. Sie wusste einfach Nichts, wie sie dem Mann all das leichter machen konnte. Sie musste seinen Hut finden, wenn er nicht bei dem Dunkelhaarigen war, dann... aber auch der hätte ihm nun vielleicht nicht geholfen. „Du bist bald zu Hause.“ Die Dunkelhaarige sprach leise weiter, wog nun den Kopf etwas zur Seite und ließ den Blick ruhig auf Greo liegen. Ein sachtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen, auch wenn ihre Augen sich weiter mit Tränen füllten. Ari? Ob das wohl ein Name war? Etwas, was er mit zu Hause verband? „Deine Farm ist nicht mehr weit weg.“ Viel zu weit vermutlich, aber... was sollte sie ihm sagen, wenn nicht das? Was half ihm außer einer kleinen Notlüge, die ihr in diesem Moment schon Leid tat?
Gehörte sie zu dieser fremden Mannschaft? Seit wann ließen die Frauen zu? Das war alles so verwirrend. Greo stöhnte gequält. Er schien blind und taub für ihre Reaktion geworden zu sein. In seinem Zustand drehte sich alles in seinem Hirn um sich selbst. Immer und immer wieder sah er jemanden vor sich stehen, der ihn anschrie. Immer und immer wieder sah er sich am Boden kauern und nach einem Ausweg suchen. Wieso hörte das nicht einfach auf? Schwächelnd ließ seine Muskelspannung nach und er lag für einen Moment still, atmete kaum mehr hörbar durch den Mund und bekam einen leeren Blick. „Zu Hause.“, formten seine Lippen, aber es kam beinahe kein Ton. „Nich weg. Nich weit.“ Stumme Tränen kullerten aus seinen Augenwinkeln. „Su weit. Ich komm nie surück. Gefangen. Ihr habb gefangen. Monser. Ihr Monser.“, stammelte er und verschluckte dabei den einen oder anderen Buchstaben. Er sah sie an, mit einer Mischung aus Trauer und Wut und endloser Verwirrung. „Lüge. Nur Lügen.“
Allmählich sickerte es in Shanayas Bewusstsein, dass sie Nichts für ihren Freund tun konnte, außer zu warten, dass es ihm besser ging. Er hatte Schläge auf der Hinterkopf bekommen, hatte schwerwiegende Verletzungen... und sie konnten vermutlich froh sein, wenn er überhaupt wieder auf die Beine kam. Mit einem kräftigen Schütteln ihres Kopfes verjagte Shanaya diesen Gedanken, atmete einige Male tief durch, um sich zu beruhigen. Sie konnte Greo nicht helfen – schön. Sie konnte es nicht ändern, aber sie konnte stark für ihn bleiben. Ihr Lächeln blieb also, sie rieb mit dem Arm über ihre Augen. Seine Worte versuchte sie möglichst sachlich aufzunehmen, was ihr jedoch nur halb gelang. „Ich verspreche dir, dass dir Nichts passieren wird. Niemand hier wird dir etwas tun. Wir bringen dich nach Hause, egal, wie weit es noch ist.“ Sie wiederholte sich, aber ihr gingen auch einfach die Ideen aus.