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Dein Verlust ist mein Gewinn - Lucien Dravean - 10.08.2021

Dein Verlust ist mein Gewinn
Unmittelbar nach In our Time of Need


Rúnar & Lucien
03. Mai 1822 | in der Nacht zum 04. Mai | Mannschaftsdeck, Lazarett


Lucien war geblieben, bis Shanaya den Blonden für die anschließende Prozedur vorbereitet und Nadel und Faden von ihrem Captain zurückverlangt hatte. Danach verabschiedete er sich unter dem Vorwand, nach Skadi und Liam sehen zu wollen – und nach allen anderen, die diese Nacht vielleicht oder vielleicht auch nicht überlebt hatten. Denn ehrlich gesagt war so ziemlich alles leichter zu ertragen, als mit anzusehen, wie sich eine Nadel durch halbwegs unversehrte Haut bohrte und dabei einen blutigen Faden hinter sich her zog. Ein Anblick, auf den der 21-Jährige getrost verzichten konnte.
Sein Weg führte ihn jedoch nicht weit. Keine paar Meter entfernt hockte eine der trostlosen Gestalten, die sie auf ihrer Flucht eingesammelt hatten, und starrte halb amüsiert und halb abwesend in das Gewusel um ihn herum. Die einen verletzt, die anderen damit beschäftigt, jene zu versorgen. Ein eiliges Hin und Her Rennen, Material zusammensuchen, Verbandszeug und Wasser beschaffen.
Lucien zögerte in seiner Bewegung, warf nur kurz noch einen Blick hinüber zum Lazarett und erkannte mit großer Gewissheit, dass er dort eher hinderlich als hilfreich war. Also lenkte er seine Schritte um und näherte sich der blassen Gestalt, blieb nur ein, zwei Meter von ihm entfernt stehen und musterte das unvertraute Gesicht. „Alles klar bei dir?“ Seine Stimme war vollkommen neutral. Nicht besorgt, aber auch nicht gänzlich gleichgültig. „Hat sich jemand deine Verletzungen angesehen?



Rúnar sprang sofort auf, als er angesprochen wurde. Mehr reflexartig als alles andere, denn seine frisch versorgten Wunden waren ihm dabei nicht besonders dankbar.
Der Mann, der vor ihm stand, wirkte, als verbrachte er schon einige Zeit auf See. Etwas ausgehungert, etwas abgehärtet.
Rúnar schnaubte ein kleines Lachen. "Ja, soweit ist alles klar, vielen Dank. Auch, wenn ich mir meinen Abend gänzlich anders ausgemalt hatte." Ganz zu schweigen, von den Albträumen, die ihn wahrscheinlich heimsuchen würden. Er spürte wie ihm etwas schwindelig wurde und stütze sich mit der Hand an der Wand ab. "Ich hab sie selbst versorgt. Aber jemand darf sie sich gerne nochmal ansehen. Ich bin nicht wirklich... geübt darin."



Lucien musste trotz der angespannten Situation ein Schmunzeln unterdrücken, als der Fremde wie angestochen aufsprang. Zwar schwankte er einen Augenblick später schon – mehr, als durch das bloße Schaukeln des Schiffes üblich – aber zumindest konnte er noch aufrecht stehen. Es war um ihn vermutlich also nicht ganz so schlimm bestellt, wie um den ein oder anderen von ihnen.
Glaub mir, das haben wir alle“, erwiderte der Dunkelhaarige und warf dabei einen Blick über die Schulter, wo Skadi noch damit beschäftigt war, Liam zusammenzuflicken. „Gregory ist unser Schiffsarzt,“ fuhr er nach kurzem Zögern fort und richtete die grünen Augen wieder auf den Blassen. „Geh nachher einfach zu ihm, wenn er mit dem Gröbsten durch ist. Falls du noch so lange warten kannst.“ Eine halbe Frage schwang in seinen Worten mit, auf die er im Grunde jedoch keine Antwort erwartete. Er stellte mit kühlem Gleichmut das Wohl der Crew über das eines Fremden, wenn auch weniger, weil ihn das Schicksal jedes einzelnen berührte, sondern vielmehr, weil das in der Natur der Dinge lag. Und er ging wie selbstverständlich davon aus, dass diese Tatsache seinem Gegenüber bewusst war, weshalb er ohne langes Innehalten fragte: „Wie heißt du?



"Rúnar Dagur, Sohn von Rúnar", antwortete er und verbeugte sich. "Mit Gregory habe ich schon Bekanntschaft gemacht, danke. Er hat mir die medizinischen Utensilien zur Verfügung gestellt. Andere haben seine Hilfe im Moment eher nötig." Er vermied es, an dem anderen Mann vorbei in die Runde zu sehen und war recht froh, dass ihm gerade die Sicht auf das Elend versperrt wurde.


Lucien nickte nur leicht. Er schloss aus diesen Worten, dass sein Gegenüber tatsächlich nicht allzu schwer verwundet worden war. Oder aber das Ausmaß seiner Verletzungen herunter spielte, was jedoch nicht sein Problem sein sollte.
Er hakte also nicht weiter nach, ließ die grünen Augen stattdessen ein weiteres Mal musternd über die schlaksige Gestalt wandern – schlanke Züge, blasse Haut, teure Kleidung. Niemand, der das raue Klima der See gewöhnt zu sein schien. „Und was treibt jemanden wie dich auf ein Piratenschiff, Rúnar Dagur?“, fragte er nach. Wobei das 'jemanden wie dich' ganz eindeutig danach klang, als ordnete Lucien seinen Gegenüber gerade in eine gänzlich andere Schublade, als sich selbst. So einfach war es natürlich nicht. War es nie. Aber es half ungemein, herauszufinden, wen er tatsächlich vor sich hatte.



Rúnar bemerkte den wertenden Ton in der Stimme des anderen Mannes. Natürlich. An dem Abend waren viele Dinge passiert, mit denen er nicht gerechnet hatte, aber damit hatte er gewiss gerechnet. (Obwohl er es sich eben dadurch schwieriger ausgemalt hatte, auf diplomatische Art in einer Piratencrew aufgenommen zu werden. Aber im Gegensatz zu den vorigen Geschehnissen war das hier noch das diplomatischste.)
Rúnars Augen waren rot vom Weinen und von Müdigkeit. Alles schmerzte, nicht nur seine Verletzungen. Er hatte weder die Kraft noch den Nerv aufrecht und würdevoll dazustehen. Aber seine Stimme war bestimmt, als er sagte: "Ich bin auf der Suche nach meinem Vater. Er wurde vor sechs Monaten auf See entführt."



Für einen kurzen Augenblick erschien Überraschung auf den kantigen Zügen des 21-Jährigen. Dann verzog er die Lippen zu einem flüchtigen Schmunzeln und verschränkte die Arme vor der Brust. Das schmerzhafte Ziehen in seiner Seite, als sich die frische Naht spannte, ignorierte er dabei. Das kurze Stocken in der Bewegung war der einzige Hinweis auf eine Verletzung.
Das heißt, die Suche nach deinem Vater führte dich auf diese gottverdammte Insel und als dort plötzlich alles in Flammen aufging, bist du auf das nächstbeste Schiff gesprungen, das noch im Hafen lag, und das war... zufällig unseres?
Er neigte den Kopf leicht auf die Seite und sein Tonfall wurde milder. „Versteh mich nicht falsch, aber nach allem, was heute passiert ist, bin ich etwas misstrauisch. Auch wenn du nicht wie jemand aussiehst, der mir und meiner Crew bei nächster Gelegenheit die Kehle aufschneiden würde.



"Ich verstehe." Rúnar nickte. "Und ich bin nicht zufällig hier." Durch eine Reihe an Ereignissen zwar ungewollt -- aber nicht zufällig. "Ich hatte gewartet, bis jemand von euch nach der Feier wieder zum Hafen geht. Das waren Trevor und--" Er verspürte einen kurzen Stich in der Brust. Die anderen beiden waren tot. "--Aspen und der Junge. Auf einem Handelsschiff wollte mich keiner mitnehmen, ich konnte für keine Fahrt bezahlen und meine Hilfe wurde anscheinend entweder nicht gebraucht oder nicht angenommen. Piraten waren also meine nächste und beste Chance weiterzufahren. Als ich Trevor angesprochen habe, kam ich aber nicht einmal dazu mein Anliegen hervorzubringen, da wir da schon angegriffen wurden." Er zuckte mit den Schultern. "Und jetzt bin ich hier."


Lucien nickte flüchtig – mehr zum Zeichen, dass er die Geschichte des jungen Mannes nicht weiter hinterfragte. Keine Regung in seiner Mimik verriet derweil, ob ihn der Tod der beiden Mannschaftsmitglieder sonderlich berührte, die Rúnar erwähnte. Stattdessen fuhr er mit nüchterner Tonlage fort: „Du hast Glück. Hier auf dem Schiff können wir jede helfende Hand gut gebrauchen. Hast du irgendwelche Erfahrungen in der Seefahrt? Oder in irgendeinem anderen Bereich, der uns nützen könnte?


Rúnar nickte. "Aye. Ich segle seit ich sechs Jahre alt bin. Und meine Familie züchtet Pferde und fängt Wale und Fische, ich bin es gewohnt mit anzupacken -- auch ungemütliche Dinge." Für einen Moment überlegte Rúnar, ob er -- vor allem infolge der Ereignisse dieses Abends -- hinzufügen sollte, dass Gewalt und Mord nicht dazuzählten, aber um dieses Fass nun aufzumachen hatte er nicht die nötige Kraft. "Und ich bin versiert in Buchhaltung und Diplomatie."


Unfreiwillig musste Lucien lachen – auch wenn es nur kurz war. „Naja, Diplomatie wirst du bei uns selten brauchen. Wie man heute eindrucksvoll gesehen hat, kommen wir damit nicht besonders weit. Aber ich behalte es im Gedächtnis.“ Den Rest bestätigte er anschließend schlicht mit einem Nicken. Gut. Jemand, der anpacken konnte – was der Dunkelhaarige ihm im ersten Moment nicht zugestanden hätte, sich aber jederzeit gern eines Besseren belehren ließ. „Und wie lange gedenkst du, mit uns zu segeln? Was ist dein nächstes Ziel?


Kurz fühlte Rúnar sich vor dem Kopf gestoßen als der andere Mann lachte, aber er musste auf seine Aussage hin lächeln. "Nun, die andere Partei müsste einem ja schon etwas entgegenkommen", sagte er. Der Kopfgeldjäger, der mit einem Säbel auf Rúnar und Trevor losgegangen war hätte ihnen denselben wohl zwischen die Rippen gerammt bevor sie das Wort Diplomatie ganz ausgesprochen gehabt hätten.
"Unbegrenzt?"; sagte Rúnar. "Solange ich ein Bett und Essen -- natürlich im Gegenzug zu Arbeit -- bekomme, bin ich mehr als zufrieden." Das war noch nicht mal ganz gelogen. Nur die ganze Wahrheit war es auch nicht. Aber er wusste eben nicht wohin mit sich -- außer Heim nach Andalónia. Aber der Weg war zu weit um jetzt schon dorthin zu denken. Erstmal brauchte er jemanden, der ihn von A nach B brachte, was auch immer B war -- nur konnte er nicht mehr einfach nur willkürlich herumfahren, mit dem Wissen, dass er, sobald er einen Fuß von einem Schiff setzte, sein Leben aus nichts anderem bestand, als Tag aus und Tag ein darum zu betteln einen Fuß auf ein anderes Schiff setzen zu dürfen.



Rúnars Antwort ließ seine Mundwinkel erneut amüsiert zucken. „Wohl wahr.“ Der Anflug von Galgenhumor, der in dieser Aussage steckte – ob nun bewusst oder unbewusst – machte ihm den jungen Mann sympathisch. Er beschloss also kurzerhand, ihm die Chance zu geben, um die er bat. Lucien war ohnehin nie besonders lange ‚vorsichtig‘, sondern reagierte dann, wenn es nötig wurde. Und im Fall der Fälle war er bisher stets in der besseren Position gewesen.
Er nickte also. Dieses Mal auf eine Art, die seinen Entschluss unmissverständlich machte. „Du kannst dir eine der leeren Hängematten nehmen. Wir setzen Kurs nach Norden und hoffen auf ein paar friedliche Tage. Ruh dich aus, bis du bereit bist, mit anzupacken, und dann komm nochmal zu mir. Du solltest die Carta unterschreiben, wenn du Teil dieser Crew werden willst“, informierte er ihn ruhig, aber nicht unfreundlich. Immerhin. Drei Mann verloren und drei Mann gewonnen. Bis jetzt.



Rúnar deutete eine Verbeugung an. "Vielen Dank." Ein Druck, der auf seiner Brust gelastet war, fiel urplötzlich ab. Ein Druck, der ihn schon so lange belastet hatte, dass er gar nicht mehr bemerkt hatte, dass er überhaupt da war.