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Shall I compare thee to a summer's day?
Jón, Rúnar & Skadi ✓✓
Szenen-Informationen
Charaktere Gast
Datum 17 Dezember 1810
Ort Neistavík, Andalónia
Tageszeit Vormittags
Crewmitglied der Sphinx
für Gold gesucht
dabei seit Jun 2019
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#1
Rúnar wusste, dass Jón nicht nervös war und er beneidete ihn dafür. Jón war nie nervös. Trotzdem fragte er ihn. Einfach aus Prinzip.

"Bist du nervös?"

Er war nervös gewesen als er Ásta das erste Mal sehen durfte. Seine Hände waren schwitzig gewesen und er hatte sie andauernd an seinen Hosenbeinen reiben müssen. Und sein Vater hatte ihm ständig die Hand auf das Knie legen müssen um ihm zu signalisieren, dass er doch bitte aufhören sollte mit dem Bein zu wippen. Jón tat nichts von beidem, obwohl die beiden auf dem Sofa direkt neben dem knisternden Kamin saßen. Es war sogar so warm im Zimmer, dass sie keine Mäntel tragen mussten, trotz dass es draußen schneite.

"Nö", sagte Jón, zuckte die Schultern und grinste. Rúnar schüttelte den Kopf.

Auf dem Sofa gegenüber saß Þjóðbjörg, ihre Gouvernante, und las. Ihre rotbraunen Haare waren zu einer simplen, aber modernen Frisur ordentlich nach hinten frisiert. Rúnars Schwester Hekla saß auf dem Boden und spielte für sich selbst mit einer Puppe und einer Pferdefigur.

"Aber ich bin schon echt gespannt", fügte Jón hinzu.

Rúnars Augen weiteten sich. "Ja, ich auch. Glaubst du wir heiraten dann mal am selben Tag? Das fände ich voll toll."

Jóns Augen weiteten sich auch und er lehnte sich nach vorne und griff nach Rúnars Bein, das er auf die Sitzfläche gelegt hatte -- angewinkelt, auf dem Fuß sitzend. "Oh ja, und dann werden unsere Kinder bestimmt auch am selben Tag geboren!"

"Ich glaub nicht, dass das so funktioniert."

"Warum nicht?" Jón war ernsthaft verwirrt. 

"Wenn wir den Hengst im Frühjahr eine Woche lang zu den Stuten lassen, dann fohlen manche auch erst vier Wochen später ab als andere. Oder länger. Glaub ich."

Jón legte den Kopf schief und sah Rúnar verurteilend an. "Das sind aber auch Pferde."

"Fragen wir doch einfach Frau Tóta, die weiß sowas bestimmt."

Die Gouvernante sah die beiden schon an als sie sich zu ihr wandten; ihr Kinn gesenkt, ein Finger zwischen den Buchseiten um die Stelle nicht zu verlieren. Die Jungen sahen sich beide nochmal an, unschlüssig darüber, wer jetzt die etwas kühne Frage stellen sollte. Jón atmete ein (und Rúnar atmete auf): "Frau Tóta?"

Sie blinzelte, aber ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht: "Ja, mein Junge?"

"Wenn zwei Leute -- also, nein, vier -- also, ich meine zwei Männer und zwei Frauen -- Rúnar, das ist nicht lustig!"

Rúnar versuchte erfolglos sein Kichern hinter vorgehaltener Hand zu verstecken und rutschte ein wenig tiefer in das Sofa hinein, sodass er jetzt ganz ungraziös in einer Ecke lümmelte.

"Ich weiß, was du meinst, mein Lieber", sagte Tóta. "Zwei Paare."

"Genau. Also, wenn zwei Paare am selben Tag ihre Hochzeitsnacht haben, bringen die Frauen dann nicht auch das Kind am selben Tag zur Welt?"

Tótas Blick ging kurz zur Decke -- eine ganz kurze Überlegung -- dann wieder zu den Jungen. "Es ist möglich--"

"Ha!" Jón stach seinen Finger in Rúnars Richtung.

"Aaaber -- aber -- das kann man nie wissen und die Chance ist höher, dass die Geburtstage der Kinder ein paar Wochen auseinander liegen. Wenn es in der Hochzeitsnacht überhaupt bei beiden Paaren, na ja, klappt." 

Jón sah geschlagen in Rúnars Richtung, aber Rúnar gab ihm einen Blick der sagte: Tut mir leid, dass ich Recht hatte und nicht du.

"Was heißt das, 'wenn es klappt'. Was wenn nicht?" 

"Dann versucht man es nochmal," sagte sie -- und lenkte ein, bevor die Diskussion in die Falsche Richtung ausartete. "Aber wie genau das geht, das besprechen wir zu einem späteren Zeitpunkt. Schließlich habt ihr noch genug Zeit bis zu euren Hochzeitsnächten."

"In Ordnung," sagte Rúnar, aber er wusste, dass Jón sich damit nicht zufrieden geben würde und konnte förmlich sehen, wie in seinem Kopf die Gedanken schwirrten.

"Also, ich und Hrafn wurden am selben Tag geboren," sagte Hekla, ließ sich dabei aber nicht von ihrem Spiel ablenken.

"Meine Kleine, Hrafn und du habt auch dieselbe Mutter."

Nun sah Hekla auf, ganz langsam, starrte erst geradeaus auf den Kamin, dann nach rechts zu Tóta, dann nach links zu Rúnar. Ihr Mund stand offen und ihr Augenbrauen waren zusammengezogen. "Aber Rúnar hat doch auch dieselbe Mama wie ich und Hrafn." Rúnar sah weg. Ihre Mutter war erst vor zwei Monaten gegangen -- er hatte das Gefühl, alle konnten damit besser umgehen als er. Aber seine kleinen Geschwister waren vielleicht einfach noch zu klein um zu verstehen, dass sie nie mehr bei ihnen wohnen würde. Außer sie und ihr Vater würden sich doch wieder vertragen. Mit ihm konnte er darüber sowieso nicht sprechen.

"'Hrafn und ich', meine Kleine", korrigierte, Tóta sie. "Man nennt sich selbst immer zuletzt."

"Hrafn und du wart auch zurselben Zeit im Bauch von eurer Mama", ging Jón dazwischen.

"Hä?", machte Hekla und sah wieder zu Tóta. Diese hob kurz die Augenbrauen und begann ihr Lesezeichen zu suchen. "Ich finde, wir sollten langsam in die Stube gehen, damit wir unsere Gäste auch ordentlich empfangen können." Sie hatte ihr Lesezeichen versteckt in einer Rockfalte gefunden und sah nun Jón mit verengten Augen an, während sie ihr Buch zuklappte und beiseite legte, ohne Jón aus den Augen zu lassen. "Nonni, wo ist deine Brille?"

Jón holte Luft um zu sprechen, aber bevor er etwas sagen konnte, hob Hekla vom Boden aus die Brille Tóta entgegen -- sie hatte damit gespielt.

"Ich will sie nicht anziehen, dann sehe ich so doof aus, dass das Mädchen gleich wieder wegrennt. Ich sehe auch so gut."

"Mein Lieber, ich weiß, dass du das nicht tust -- und du möchtest 'das Mädchen' doch sicher auch gut sehen. Sonst setzt du dir später noch irgendwann die Brille auf und rennst womöglich selbst davon. Und dann ist es zu spät."

Jóns Mund klappte auf und er stützte die Hände auf die Kante des Sofas. "Was? Was meinst du? Hast du sie schon mal gesehen?"

Tóta grinste und Rúnar konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. "Ich necke dich nur ein bisschen, Nonni", sagte sie. "Kommt, lasst uns gehen."

Sie stand vom Sofa auf, Hekla stand vom Boden auf und händigte Jón seine Brille, die er mit einem Seufzer aufsetzte. Rúnar fand wirklich nicht, dass er schlecht damit aussah. Er fand sogar, dass sie ihm wirklich gut stand. "Du siehst schlau aus, mit Brille. Und sie passt zu deiner Haarfarbe." Jón erwiderte das Kompliment mit einem verlegenen (aber dankbaren) Lächeln.

Es klopfte an der Tür und Kjartan, der Butler, trat ein.

"Oh je, sind die Gäste schon da?", fragte Tóta.

Kjartan gab eine beschwichtigende Handgeste und seine Mundwinkel hoben sich leicht. "Ihre Kutsche ist gerade auf den Hof gefahren," sagte er und wandte sich dann an die Kinder. "Eure Familien haben sich bereits in der Stube eingefunden." Er gab kurz ein Lächeln -- seine Mundwinkel gingen kurz etwas weiter nach oben -- und verließ das Zimmer. 

Tóta stellte nochmal sicher, dass bei jedem die Kleidung saß und strich den Jungen die Haarsträhnen aus der Stirn, dann gingen sie ins Erdgeschoss und gesellten sich zu den anderen: Rúnars kleiner Bruder, sein Vater, seine Tante und seine Cousine, sowie der Kammerdiener, der sich persönlich um die Gäste kümmern würde und sie deshalb direkt kennenlernen sollte.

OFF: Es tut mir voll leid -- das Gespräch mit den Bienen und Blumen hat sich irgendwie automatisch so ergeben, das hatte ich nicht geplant. Jón hat damit angefangen, ich kann nichts dafür. XD
Crewmitglied der Sphinx
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#2

Weiß, so viel unendliches Weiß. Skadi fühlte sich, als starrte sie geradewegs in gleißendes Sonnenlicht und musste immer wieder die Augenlider schließen, kaum dass der Anblick auf ihrer Netzhaut brannte. Folgte den tanzenden Punkten in der Dunkelheit, bis das unangenehme Drücken nachließ und sie das dunkle Augenpaar erneut auf die immer gleiche Landschaft heftete. Seit einer gefühlten Ewigkeit saß sie nun schon schweigend neben ihrem Vater und starrte aus dem Fenster dieser… Kutsche? So hatte sie es den Mann nennen hören. In einem komischen Dialekt, den sie erst beim genaueren Hinhören wirklich verstehen konnte.  Doch trotz all ihrer Versuche, hatte sie in den letzten Tagen ihrer Reise nicht darüber in Erfahrung bringen können, wieso sie wirklich hier waren. So weit im Norden bei vermeintlichen Freunden und Handelspartnern.

“Wie lange müssen wir noch?“

Ein kurzer Seitenblick genügte um sich, gepaart mit dem tiefen Brummen, das sie zur Antwort erhielt, ein Bild davon zu machen. Sie hatte sich zu gedulden und müsse so lange warten, wie es eben dauerte. Dieser Mann konnte manchmal wirklich ungemein anstrengend sein. Mit einem tiefen Seufzen lehnte sich der dunkle Haarschopf an die Seitenwand ihres kleinen, fahrenden Raumes. Beobachtete noch eine Weile die vorbeiziehenden Hügel, Berge und vereinzelten Bäume, ehe sie vom stetigen Ruckeln in den Schlaf gewogen wurde.

_______Zeitsprung_______

Nun standen sie hier. Nach stundenlanger Fahrt und einer langwierigen Schiffsreise über die westlichen Meere, nur um wie angewurzelt im Flur dieses pompösen Anwesens auf Einlass zu warten. Immer wieder huschten die wachsamen Augen der Nordskov über die bemusterten Wände des Flurs. Begutachteten hier und da einige der aufgehängten Gemälde, nur um dann abermals umher zu schwirren und es tunlichst zu vermeiden, zu Oddr hinauf zu spähen, dessen Worte wie ein Erdbeben durch ihren Körper fuhr.

“Oppfør deg selv.“

Wie oft wollte er ihr das eigentlich noch sagen? Sie hatte es bereits beim ersten Mal verstanden und war ja wohl nicht schwerhörig. Sichtlich genervt ließ Skadi ein missbilligendes Seufzen erklingen und war im selben Moment froh, dass sie nicht allein in diesem riesigen Flur standen und ihr Vater ebenfalls gezwungen war, sie nicht just für diese unausgesprochenen Widerworte zu rügen. Allein der eindringliche Blick aus den Augenwinkeln reichte, um ihr kurzweilig eine Gänsehaut des Respekts über den Körper zu jagen.
Und dann öffnete sich die Tür zum Nebenraum, dem dunklen Schlund in eine Welt, von der sich die junge Nordskov noch nicht sicher war, was sie bereit hielt. Oder was das hier alles überhaupt werden sollte. Denn wie ein Kennenlernen von „Handelspartnern“ wirkte der Anblick der vielen starrenden Augen und Kinder nicht, der sich ihr beim Durchschreiten der Türschwelle bot.  Sichtlich überrascht und verunsichert verlangsamte sich der Schritt des jungen Mädchens. Suchte aus warmen, braunen Augen irgendein freundliches Gesicht, das ihr unterschwellig suggerierte, dass das hier vollkommen normal war. Doch abgesehen von den Bediensteten – verdammt mussten diese Menschen reich sein! – und den zahlreichen Erwachsenen machten nur drei den Anschein einer freundlich gesinnten Grundhaltung. Zwei Jungen und ein Mädchen. Hübsch gekleidet und mit einem Lächeln auf den Lippen, das ihr kurz ein Zucken in die Mundwinkel zauberte. Wie einstudiert verneigte sie sich vor der Gruppe, fühlte sich wie all die Male davor absolut dämlich dabei. Was für ein unnötiger Firlefanz. Beobachtete ihren Vater dabei wie er sich den Familienoberhäuptern zuwandte und sie herzlich begrüßte. Zumindest hatte er in diesem Punkt wohl nicht gelogen, als er ihr versichert hatte die Familie schon eine Weile zu kennen. Doch bei allem anderen blieb die Dunkelhaarige skeptisch. Strich sich die dicken Locken zu Recht und zupfte an dem Wollkleid, das ihr ihre Mutter aufgezwängt hatte. Es ist kalt, hatte sie gesagt. Du musst gut aussehen, hatte sie gesagt. Skadi fragte sich, abgesehen von dieser Schweinekälte, die mittlerweile ihre Füße und Beine hinauf kroch, wofür das alles gut sein sollte. Wen interessierte es schon, wenn sie rumlief wie immer und sich nicht in mühevoller Sisyphusarbeit die Haare flocht und ein Kleid überstreifte, in dem sie sich nicht wie üblich bewegen konnte. In dem sie gezwungen war langsam und elegant dahin zu gleiten und gerade zu gehen. Immer wieder huschten die braunen Augen an den Umstehenden entlang, fixierten vor allem einen der Jungen, der wie ein Funken aus der Dunkelheit heraus strahlte und sie just ihre Schwester vermissen ließ. Helles, blondes Haar, eine Haut, die aus Salz gemacht sein musste und stechend blaue Augen. Ein faszinierender Anblick, wie Skadi mit leicht schief gelegtem Kopf feststellen musste und erst dann auf den Dunkelhaarigen neben ihn blickte, als ihr Vater dazu übergegangen war, sie vor der Versammlung vorzustellen.

“Freut mich sehr sie kennen zu lernen.“

Wieder eine dieser Floskeln, die sie so sehr hasste und doch fließend und leicht über ihre Lippen gleiten ließ. Hier freute sich niemand weniger als sie, wenn ihr Vater glaubte sie an der Nase herum führen zu können.

Ich hoffe du kannst was damit anfangen. Muss mich noch so ein bisschen in die Situation einfinden.  :big-laugh:
Crewmitglied der Sphinx
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#3
Als Kjartan den Besuchern die Tür aufhielt standen alle von ihren Plätzen auf.

Rúnar wusste nicht mehr, wie er sich das Mädchen vorgestellt hatte. Im Nachhineine hatte er sie sich wohl gar nicht auf irgendeine besondere Art vorgestellt. Vielleicht am ehesten noch so wie Ásta. (Natürlich, denn er hatte die beiden Situationen miteinander assoziiert, da Jón jetzt in derselben Situation war, wie er selbst vor Kurzem.) So unähnlich waren sich die beiden auch gar nicht. Nur an Ásta war alles etwas ein klein wenig heller: die Haare, die Augen, die Haut. Er konnte aber nicht sagen, wie dunkel ihre Haut wirklich war -- sie sah sonnendunkel aus, nicht immerdunkel. So wie die der Herbster in Südandalónia. Ihr Vater sah ihr ähnlich, nur sein Blick war etwas grimmiger, aber Rúnar stellte fest -- als Nói und er sich freundlich begrüßten -- dass das wohl sein normaler Gesichtsausdruck war. 

Das Mädchen hingegen, sah sogar etwas neugierig aus. Rúnar bemerkte, wie ihr Blick immer wieder an ihm hängen blieb und konnte es nicht recht deuten, aber er spürte, wie Jón ihn von der Seite ansah. Er hatte es auch bemerkt. Nein, nein, ich bin es nicht, schoss es Rúnar durch den Kopf und hoffte gleichzeitig, dass dies nicht der Gedanke hinter ihrer Neugier war.

Ihr Vater stellte sich und seine Tochter dem Rest der Familie vor und Rúnar verstand zum ersten Mal was hinter diesem Begriff "Handelspartner" stand. Vielleicht. Er wusste, dass diese Leute von weiter weg herkamen -- nicht aus Andalónia. Aber ihre Namen ... der Mann hieß Oddur. Und das Mädchen hieß Skaði. (Zumindest hatte es sich so ähnlich angehört, er hatte nur das Ð härter ausgesprochen. Mehr wie ein D.) Das waren beides Namen, die man in Andalónia auch schon mal hörte. Er wusste, dass seine Familie von denen abstammten, die im Norden Andalónias zum ersten mal gesiedelt hatten und dass sie von weiter aus dem Süden gekommen waren. Irgendwas mit zwei Brüdern und der eine musste gehen oder so ähnlich. Er hatte sich das alles nicht gemerkt -- die Geschichtsstunden langweilten ihn jedes Mal zu Tode. Zum Glück waren es nicht viele.

Skaði verbeugte sich vor ihnen. Rúnar hörte, wie Frau Tóta hinter ihm kurz scharf einatmete und erinnerte sich daran, wie sie ihm, seinen Geschwistern, und Jón und seiner Schwester akribisch das korrekte Knicksen und Verbeugen beigebracht hatte. Frauen knicksten, Männer verbeugten. Jón musste denselben Gedanken gehabt haben, denn als Rúnar zu ihm rüberschielte, sah dieser ihn auch an und warf ihm den Anflug eines verstohlenen Grinsens zu.

Nói stellte den beiden die Familie vor. "Es freut uns auch dich kennen zu lernen, Skadi," sagt er und begann mit der offenen Hand auf das jeweilige Familienmitglied zu zeigen. "Das ist mein Schwager Rúnar Erlendur, der Herr des Hauses; seine Kinder--" Rúnar verbeugte sich und gab Skaði ein Lächeln. Oder Skadi. Er war sich noch immer nicht sicher, ob er sich nicht vielleicht verhört hatte. "--meine Frau Stjarna Jarla, meine Tochter Írunn Teitný, und mein Sohn Jón Haukur." 

Jón vereugte sich, schob mit einem Finger seine Brille zurecht. Rúnar legte ihm zur moralischen Bestärkung ganz kurz und unauffällig die Hand auf den Rücken bevor Jón ein paar Schritte nach vorn lief.

Er blieb mit genug Höflichkeitsabstand vor Skaði stehen und verbeugte sich nochmal. Er stand mit dem Rücken zu Rúnar, aber Rúnar konnte das Lächeln und die Ehrfurcht in seiner Stimme hören. "Ich freue mich wirklich sehr, dich kennen zu lernen." Das glaubte ihm Rúnar sofort. Sie war hübsch und hatte dazu noch diesen Ausdruck in den Augen, den Rúnar auch immer in Jóns Gesicht sah, wenn kurz davor war, ihm einen durchdachten Plan zu unterbreiten, wie sie Kjartan, Frau Tóta, oder ihre Geschwister diesmal übers Ohr hauen würden. (Nicht, dass all diese Pläne immer durchgeführt würden. Manchmal machte es auch Spaß genug einfach zu fantasieren.)

Nói stellte den Rest der Anwesenden vor. "Unseren Butler, Kjartan Rúrik, habt ihr ja bereits kennengelernt. Das hier ist Loftur Sigurþór."

Loftur verbeugte sich und sagte: "Ich werde während eures Aufenthalts euer Kammerdiener sein."

"Und das ist die Gouvernante unserer Kinder, Þjóðbjörg Geirrún," endete er und Frau Tóta gab einen Knicks. Dann wandte sich Nói an das Mädchen. "Skadi, was hältst du davon, wenn Jón dich ein bisschen herumführt? Dann kann Loftur deinem Vater solange eure Zimmer zeigen und dein Vater und ich können uns über langweiligen Kram unterhalten." Er zwinkerte ihr zu und sah dann zu Oddur, um sich zu vergewissern, dass er die Idee absegnete. 
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#4
So viele unbekannte Namen und Gesichter. Wann immer ein neuer Blick den ihren streifte und mit einem knappen, höflichen Lächeln aufwartete, wusste Skadi bereits, dass sie einige Anläufe brauchte, um sich die feinen Züge und den Klang des Namens einzuprägen. Je nachdem wie lange sie wohl in diesen Gegenden blieben – für ein paar wenige Tage würde sie sich wohl weniger die Mühe machen. Geschweige denn, dass ihr Kopf dazu bereit war.
Mit einem stetigen Lächeln wanderten die braunen Augen von einer Nasenspitze zur nächsten. Verweilten sogar einen Moment länger auf dem Stammhalter des Familienhauses, dessen lange Finger etwas nervös seine Brille auf dem Nasenrücken zurück schoben. Skadi blinzelte. War selbst für einen kurzen Augenblick verunsichert, ob dieses Anblicks. Noch mehr als das blasse Gesicht neben ihm die Hand auf seinen Rücken legte und ihm offensichtlich Mut zusprach. Wofür? Jeder Nerv ihres Körpers kribbelte, kaum dass sich Jón in Bewegung setzte. Fast von allein kippte der dunkle Haarschopf zur Seite und musterte den fremden Jungen mit interessiertem Blick. Dunkles, braunes Haar erhob sich neben winterlich blasser Haut. Wippte bei jedem seiner Schritt auf und ab und lenkte ihre Augen unweigerlich auf helle, bernsteinfarbene Augen, in denen sich ein seltsam vertrauer Ausdruck breit machte.  Ein verräterisches Zucken durchfuhr ihre Mundwinkel, während der Dunkelhaarigen stehen blieb, sich vor ihr verbeugte und mit deutlichem Nachdruck die Freude über ihr Zusammentreffen verkündete. Mit hörbarem Lächeln in der Stimme, wir ihr schien.  Wieso er das tat, stellte sie nicht einmal in Frage. Es gab so vieles, dass ihr an diesem Zusammentreffen seltsam vorkam und dessen Ursprung sie auf den Grund gehen würde. Doch nicht jetzt. Nicht in einem Moment, indem sämtliche Augen des Raumes auf sie gerichtet waren und der Nordskov nichts Besseres einfiel, als langsam die langen Finger  zu erheben und das kühle Metall des Brillengestells auf Jóns Nasenrücken hinauf zu schieben.

“Deine Brille rutscht wohl öfter, oder?“

Immer noch lag dieses unbekümmerte Lächeln auf ihren Lippen. Verschwand selbst dann nicht, als sich Nói erneut mit seinen Worten an sie richtete und ihre Aufmerksamkeit erst auf den Butler, dann den Kammerdiener und die Gouvernante lenkte. Letztere wirkte wie das typische Bild einer unnachgiebigen Mormor. Skadi war sich sicher, dass sie genauso garstig werden konnte, wie sie streng war. Ob sie sie wohl während ihres Aufenthalts zur Weißglut bringen konnte? Sicherlich, daran hatte die Nordskov absolut keinen Zweifel, dessen dunkler Haarschopf sich erneut  dem älteren Mann zuwandte und in einer knappen Zustimmung nickte. Ihr war es tausend Mal lieber mit den Kindern allein unterwegs zu sein, als sich mit den ernsten Erwachsenen zu umgeben, die mit jeder verstreichenden Minute noch unheimlicher und unangenehmer wurden.

“Das erscheint mir sinnvoll.“, brummte Oddrs Stimme durch den Raum, während er seiner Tochter die riesige Hand auf den Kopf legte. Was für die Umstehenden wie eine liebevolle Geste wirkte, war für Skadi ein unmissverständlicher Befehl. Sie sollte sich benehmen, wenn er kein Auge auf sie haben konnte. Und er würde davon erfahren, wenn sie Unfug anrichtete. Wann dann geschah, verlangte dem Lockenkopf nicht einmal sonderlich viel Vorstellungskraft und ließ den Haarschopf nur zaghaft zu ihm hinauf gleiten. Schenkte ihm den Anblick zusammengepresster Lippen und ein tiefes Ein- und Ausatmen.
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#5
Jón stand zwar mit dem Rücken zu Rúnar, aber er konnte sich sehr gut vorstellen, wie Jón rot anlief, als Skaði ihm nonchalant—als wäre sie seine Schwester oder Cousine—die Brille auf die Nase schob.

Rúnar verkniff sich ein Lächeln, als Jón kurz zurückzuckte und er ihn antworten hörte: „Äh, kann schon sein.“ Er klang nicht nervös, aber Rúnar konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er es nicht war. Wie machte er das nur immer?

Als Skaðis Vater ihr und Jón die Zustimmung gab, sich entfernen zu dürfen, verbeugte sich Jón noch einmal an Skaðis Vater gewandt, dann an uns, und bevor er sich Richtung Ausgang bewegte, gab er Rúnar ein Nicken, das, Komm mit! bedeutete. Rúnar setzte sich in Bewegung, aber jemand hielt ihn an der Schulter zurück. Er drehte sich um. Frau Tóta. „Möchtest du die beiden nicht fragen, ob es in Ordnung ist, dass du sie begleitest?“

Sie gab Rúnar einen Blick, den Außenstehende wahrscheinlich nur bedingt deuten konnten —die Augenbrauen hochgezogen, die Lippen zusammengekniffen aber trotzdem mit dem Ansatz eines Lächelns—doch Rúnar kannte Frau Tóta zu gut. Du weißt, dass die beiden sich kennenlernen sollen, ja? Das, und, Du weißt auch, dass man sich nicht selbst einlädt, sondern wartet, bis man eingeladen wird—von allen Beteiligten—aber da es jetzt eh schon zu spät dafür ist ...

Rúnar sah fragend zwischen Skaði und Jón hin und her. Er stellte sich gerade hin. „Wäre es in Ordnung für euch, wenn ich euch für eine Weile begleite?“
Jón verneigte sich. Erneut. Dieses Mal an ihren Vater gerichtet, der den Jüngeren nur kurz musterte und mit einem knappen Nicken die Hand von ihrem Kopf löste. Fast fühlte sich Skadi, als nähme er sämtliche Last von ihrem Körper, als er sich entfernte und der Junge vor ihr sich zum Gehen herum wandte. Nur um dann seinem Blick auf den blonden Haarschopf zu folgen, dessen Antlitz so seltsam ungewohnt für sie war. Doch das war nicht das Einzige, das ihren Blick auf die andere Seite des Raumes fixierte. Wie von selbst schnellte das braune Augenpaar auf die Gouvernante, dessen Hand mehr als nachdrücklich auf der schmalen Schulter ruhte, die gerade im Begriff war ihr und Jón zu folgen. Wollte sie etwa, dass sie und der Fremde allein durch das Anwesen liefen? Skeptisch schoben sich die dichten Brauen zusammen. Was läuft hier eigentlich? Beinahe war Skadi versucht zu ihrem Vater hinauf zu sehen, sah stattdessen zu dem hübschen Gesicht neben sich und ließ nachdenklich die Lippen kreisen.
“Ich wüsste nicht was daran falsch wäre?“ Wieso fühlte sie sich, als wäre es unangebracht einen Dritten in ihre Gruppe zu holen? Das war ihr unbegreiflich. Somit schenkte sie also erst dem Dunkelhaarigen, dann Rúnar ein sanftes Lächeln, ehe sie, fast schon grinsend zu der Gouvernante hinauf sah. So. Das hatte dieses hochnäsige Fräulein jetzt davon.
Das Mädchen schien sich mit dem Aufhebens der Situation etwas unwohl zu fühlen und das übertrug sich auf Rúnar. Für einen Moment bereute er, dass er Anstalten gemacht hatte. Er hätte sie einfach in Ruhe lassen sollen. Jón hatte ihn und Ásta auch in Ruhe gelassen. Er wollte ja nicht ihre Situation zerstören, er verbrachte nur gerne Zeit mit Jón—egal wer dabei war.

Aber Jón hatte ihn gefragt. Ha. Er war doch nervös. Wahrscheinlich. Vielleicht.

Rúnar faltete die Hände, presste sie kurz zusammen und lächelte. Dann ging er mit den beiden mit. Jón hielt Skaði die Tür zum Gang auf und er und Rúnar warteten, bis sie zuerst durchgegangen war.
Geräuschvoll war die Tür ins Schloss gefallen und hatte alle neugierigen Augen und Ohren aus ihrem Gespräch ausgeschlossen. Skadi spürte jäh, wie sich jegliche Anspannung von ihrem Körper löste. Niemand richtete mehr einen prüfenden Blick auf sie. Maßregelte sie, wenn sie einer dieser bescheuerten Anstandsregeln zuwider handelte. Sie konnte ihre Aufmerksamkeit auf alles richten, wonach ihr war. Und auch wenn sie immer wieder auf ihrem Weg den Flur hinab die verschiedenen Gemälde in Augenschein nahm, wandte sich der schmale Körper der Nordskov nach etlichen Minuten des Schweigens in einer eleganten Drehung auf den Zehenspitzen herum. Die Hände in den Rücken gelegt und mit einem spitzbübischen Lächeln auf den Zügen. “Gibt es etwas, das ihr schon immer einmal machen wolltet?“
Rúnar fühlte sich besser, als die Situation sich spürbar entspannte. Skaðis Haltung wurde weniger steif und Jón nahm seine Brille ab und steckte sie sich in die Hosentasche.

Jón blickte sie immer wieder verstohlen mit bewundernden Blicken an als die drei, ohne zu sprechen, den Gang entlang liefen. Dann, als sie sich umdrehte und ihre Frage stellte, fingen Jóns Augen regelrecht an zu leuchten. Er zeigte mit dem Finger auf sie und sagte, „Oh, ich wusste es! Ich dachte es mir schon, als ich dich gesehen hab!“ Sein Mund stand offen in einem stummen Lachen. Und was für eins. Rúnar konnte fast sehen, wie Jón das Herz aus der Brust zu springen drohte.

Rúnar lachte leise und löste seine Hände voneinander. Etliche Dinge gingen ihm durch den Kopf. So viele Dinge, die Jón und er sich schon ausgemalt hatten. Das Lächeln blieb auf seinen Lippen als er sagte, „Zu viel um jetzt nur eins zu sagen.“

„Oh ja,“ sagte Jón. „Und du? Dachtest du an was Bestimmtes?“ Er legte den selben Gesichtsausdruck auf wie sie.
Skadi blinzelte für einen Moment irritiert. Starrte auf die erhobene Fingerspitze, ehe sich die dunklen Augen den Arm entlang zu Jóns Gesicht voran tasteten. Was bei allen Göttern sollte das denn jetzt bedeuten? Der Typ klang ja schon fast, als hatte er sie sich als… ja was denn? Kleines Mäuschen vorgestellt, das sich nun als Draufgänger entpuppte? Ich dachte es mir schon, als ich dich gesehen hab. Ohne es zu wollen, pressten sich die vollen Lippen aufeinander und trugen jene Gefühle nach außen, die Skadi mit klopfendem Herzen gegen die Brust trommelten. Nicht einmal Rúnars und Jón lächelnde Gesichter konnten daran etwas ändern.
Mit einem tiefen Atemzug lösten sich die langen Arme aus der Umklammerung und schoben sich in einer auslandenden Geste zur Seite.
“Eigentlich nicht. Aber hier gibt es bestimmt aufregendere Dinge zu erleben, als eine Führung durch euer Anwesen. Also… nicht dass es nicht schön wäre…“, wandte sich die junge Nordskov in letzter Instanz fast schon entschuldigend an den Blondschopf, dessen blaue Augen die ihren immer wieder magisch anzogen. “Aber… ich habe die letzten Tage viel in engen Räumen verbracht.“
Rúnar zuckte mit den Schultern. Es machte ihm nichts. Er konnte es sogar sehr gut verstehen. Er verbrachte jeden Tag in engen Räumen. Aber es gab eine Sache, die das alles immer ausgleichen konnte.

„Ich weiß, was hilft,“ sagte er. Jón blickte zu ihm. Er wusste, was Rúnar meinte. „Kannst du reiten?“
Reiten? Worauf? Wie von selbst kippte der dunkle Schopf fragend zur Seite. Musterte die beiden Jungen, als müsse sie sicher gehen, dass sie sich keinen Scherz mit ihr erlaubten. “Auf Pferden? Nein… im Dschungel wären die ganz schön unpraktisch.“
Jón und Rúnar warfen sich einen leicht entsetzten Blick zu, als Skaði sie so ansah. Dann sagte Jón, „Hast du—ich meine, heißt das bei euch gibt es keine Pferde?“ Diese angenommene Tatsache überspielte die, dass sie gerade gesagt hatte, dass sie aus dem Dschungel kam.
„Nun… das vielleicht nicht unbedingt. Aber wenige.“ Und wenn überhaupt nutzte man sie mehr zum Lastentransport als für einen Ausritt. Auf dicht bewachsenem und unebenem Waldboden bewegte sich Skadi auf eigenen Beinen ohnehin viel schneller und besser voran. “Bei euch ist das wohl… anders.“
Die beiden nickten und sahen sich wieder an, dann wieder zu Skaði. Rúnar ob die Hand, deutete ein Schulterzucken an. „Willst du—es ausprobieren?“ Rúnar sah wieder zu Jón, um die Idee absegnen zu lassen. Falls sie ja sagte, würde er mit ihnen in den Stall gehen und sie danach zu zweit alleine lassen.
Immer wieder wanderten die dunklen Augen zwischen den beiden Gesichtern hin und her. Warteten auf irgendeine Entscheidung, die die Zwei wohl wortlos ausfochten, ehe sie mit einem matten Lächeln nickte und den Blick auf das Gemälde neben sich schweifen ließ. “Klar. Wieso nicht.“ Ob sie Angst hatte hinab zu fallen? Sicherlich nicht. Wer aus Bäumen purzeln und sich nichts Lebensbedrohliches zuziehen konnte, der vertrug auch den Sturz von einem halbhohen Pferderücken. “Aber… siehst du überhaupt etwas ohne deine Brille… Jón?“ Wie von selbst huschten das dunkle Augenpaar in die Winkel zurück und musterte das Gesicht des Älteren.
Jón bedeutete, loszugehen. Sie waren ohnehin schon auf dem Weg zum Hinterausgang. „Ja, das meiste. Frau Tóta besteht nur immer darauf, dass ich sie trage. Aber ich hab Angst, dass meine Augen dann noch schlechter werden.“ Er machte eine kurze Pause. „Und du kannst Nonni zu mir sagen. So nennen mich eigentlich alle.“

„Entschuldige, aber, ich hab vorhin deinen Namen nicht ganz verstanden,“ sagte Rúnar. „Skaði?“
“Nonni… bedeutet das etwas?“ Allmählich folgte die Nordskov den beiden. Verschränkte abermals entspannt die Hände hinter dem Rücken und wippte bei jedem ihrer Schritte sorglos auf und ab. Auf Rúnars Frage nickte sie mit verzogenen Lippen. Ignorierte die etwas eigensinnige Aussprache und wandte sich erneut Jón zu. “Und ich glaube nicht, dass deine Augen schlechter werden. Wäre doch schade, wenn du die ganzen schönen Dinge dieser Welt nicht sehen kannst, weil du sie aus lauter Angst nicht trägst, oder?“ Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen.
Jón lächelte. „Da hab ich noch nie drüber nachgedacht. Aber ich glaube nicht. Alle, die Jón heißen, werden meistens Nonni genannt.“

Zu ihrer nächsten Aussage sagte Jón nichts. Er lächelte sie nur an, hielt ihren Blick, und nahm die Brille aus der Tasche, zog sie an. Seine Mundwinkel hoben sich etwas mehr, als er Skaði durch die Gläser ansah.

Jetzt war es Rúnar der rot wurde. Er sah weg. Zum Glück war Ásta etwas pragmatischer vor anderen Leuten. Oder allgemein.
Das war eine seltsame Art des Spitznamens, musste sich Skadi eingestehen. Vor allem wenn er standardmäßig von jedem genutzt wurde, der so hieß. Also wäre der Name an sich nicht schon kurz und griffig genug. Sollte er dann nicht einen persönlichen und eigensinnigen Kosenamen bekommen? Vielleicht fiel ihr im Laufe des Tages eine brauchbare Alternative ein.
“Na siehst du. Schon viel besser.“ Neckte sie ihn schmunzelnd, kaum dass das schimmernde Gestell raschelnd von seiner Hosentasche auf seinen schmalen Nasenrücken gewandert war. Fast vergaß die Nordskov weshalb sie eigentlich hier war. Und wie seltsam dieses erste Zusammentreffen anmutete. Wahrscheinlich weil sie das leise Schnauben hinter der Holztür vernahm, vor der sie nun innehielt und zu Rúnar hinüber blickte. War der vorhin auch schon so rot gewesen?
“Geht’s dir gut?“
"Ja, alles bestens," sagte er, aber ihre Frage trieb ihm noch mehr die Hitze ins Gesicht. Zum Glück spürte er es nicht zu stark als er die Tür öffnete und ihm die Winterluft von draußen entgegen kam.

Eines der Pferde wieherte, als es bemerkte, dass jemand kam.

Rúnar bedeutete Skaði mit einer Handbewegung, zuerst hinauszugehen.
Dieser Typ war irgendwie komisch. Je länger sie ihn musterte, desto intensiver wurde die rötliche Färbung seines Gesichts und biss sich regelrecht mit dem hellen Blond seiner Haare. Mit einem Achselzucken wandte sich die Nordskov von ihm ab und folgte seiner stillen Anweisung voraus ins Freie zu gehen. Fast wollte ihr Körper angesichts der Kälte zusammenzucken, doch von der plötzlichen Gänsehaut auf ihren Armen abgesehen, trat von diesem Schock nichts nach außen.
Viel mehr waren die braunen Augen auf die Tiere gerichtet, die nur wenige Meter entfernt standen und ihre Köpfe herum wandten.

„Wow... die sind ja ganz hell.“

Fast war sie versucht auf eines der Tiere zuzulaufen, hielt sich jedoch mit einem Seitenblick auf Jón zurück.
Ganz hell. Waren sie das? Welche Farben hatten die Pferde denn, wo sie herkam?

Jón bedeutete Skaði mit einer Handbewegung, dass sie an die Weide treten durfte. „Welche Farben haben denn eure Pferde?“ fragte er. Selber Gedanke.

Die Zucht von Rúnars Onkel war recht klein und hatte wenig Farbvariation im Gegensatz zu manchen anderen. Zehn Stuten, vier Wallache, zwei Hengste, jeweils zwei Drei- und Zweijährige und sieben Jährlinge, von denen aber der Großteil wahrscheinlich verkauft werden würde. Nur drei davon waren Schecken, der Rest war sehr falblastig. Aber insgesamt waren sie tatsächlich recht hell, wenn man es objektiv betrachtete.

Ein klein wenig Sehnsucht erfüllte Rúnar, wie jedes Mal, wenn er darüber nachdachte. Er würde das hier nie machen. Reiten, sich um die Pferde kümmern, ja. Das schon. Aber es würde nie seine Lebensaufgabe werden.
Erst zögerlich, dann mit schnellen Schritte huschte der Körper der Nordskov an Jón vorbei. Direkt auf die Weide zu, die hier und da mit weißem Schnee bedeckt war.

"Die meisten sind schwarz oder braun."

Zumindest waren es die, die Skadi vor allem auf der Hauptinsel zu Gesicht bekam. Doch das mochte genauso viel bedeuten, wie alles andere, dass sie in ihrem Leben bereits gesehen hatte. Was nicht sonderlich viel war.

"Und die gehören alle euch?"

Nur kurz wandte sich der dunkle Schopf zu Rúnar zurück, kaum dass die Jüngere bereits auf einen der Zaunpfähle geklettert war und mit ausgebreiteten Armen das Gleichgewicht hielt.
Jón und Rúnar gingen ebenfalls auf den Zaun zu. Jón tat es Skaði nach, aber Rúnar blieb unten stehen und sah zwischen den Zaunlatten hindurch.

Eine braune Stute kam schon auf sie zugelaufen. Jarpblesa. "Alle meinem Vater," sagte Jón. "Also--er hat sie gezüchtet, gehören tun sich ihm nicht alle. Die da ist zum Beispiel meine." Er zeigte auf Jarpblesa, die sich jetzt in den Trab setzte um schneller zu ihm zu gelangen. "Und Rúnar hat sogar zwei." Er lehnte sich nach vorn, an Skaði vorbei und sah zu seinem Cousin.

"Meine Mutter hat sie mir geschenkt," sagte Rúnar, wandte sich dann zur Weide. Er pfiff zwei Mal. Ein paar Köpfe hoben sich. Nótt, seine Rappstute, kam sofort auf sie zu und wieherte ihnen entgegen, was Rúnar zum Lächeln brachte. Der Kopf seines Wallachs senkte sich wieder und kümmerte sich um das spärliche Gras. Rúnar schüttelte den Kopf und trat ebenfalls auf den Zaun, hielt sich mit beiden Händen an der obersten Zaunlatte fest. "Rökkur!" rief er. Der Kopf hob sich wieder. "Áfram!" Dann setzte sich der Falbe auch in Bewegung. Gemächlich. "Ich glaub er ist dicker geworden, seit er gelegt wurde." Mit bedauernden Gesicht drehte Rúnar sich zu Jón. Dann zu Skaði. "Ehm. Das bedeutet kastriert." Er hob den Zeige- und Mittelfinger um eine Schere anzudeuten. Dann sah er irritiert auf seine eigene Hand und zog sie hinter seinen Rücken. Unschöne Geste in diesem Zusammenhang.
Das Traben der Pferde vibrierte durch den eisigen Boden. Skadi glaubte es bis durch den Zaun zu ihren Fußsohlen zu spüren, während sie sich mit aufgestützten Händen voraus lehnte und den Blick zu den Stuten gleiten ließ. Diese Weite des Landes hatte schlagartig nichts monotones oder lebloses mehr an sich. Fast hätte die Jüngste im Bunde den Herrschaften kaum mehr zugehört. Streckte auf den letzten Metern ihre Hand dem schnaubenden Pferdekopf entgegen, der sich in tippelnden Schritten auf Jón zubewegte.

Erst als Rúnar fort fuhr, lenkte es Skadis Aufmerksamkeit auf das Gespräch zwischen ihnen. Mit immer noch ausgestreckter Hand sah sie zwischen den Jungen hin und her. Runzelte kurz nachdenklich die Stirn. Gelegt, kastriert. Wovon bei allen Göttern sprachen sie?
“Das heißt ihr habt ihm...“ Just nahm sie auch die zweite Hand vom Zaun und spiegelte Rúnars Scherengeste. “die Haare geschnitten?“
Jarpblesas Nüstern blähten sich, als sie an Skaðis Hand roch. Dann drehte sie ihren Kopf zu Jón, der anfing ihr die Stirn zu kraulen.

Jón lachte laut auf und taumelte ein wenig—musste sich mit beiden Händen am Geländer festhalten. Jarpblesas Nase zuckte weg.

„Ehm. Nein.“ Rúnar kratzte sich am Kopf. „Das heißt wir haben ihm die Hoden abgeschnitten.“ Der Satz kam sehr sachlich raus, aber er spürte, wie ihm wieder die Hitze ins Gesicht stieg. Nótt streckte in dem Moment den Hals über den Zaun, zwischen ihm und Skaði. Ihr Kiefer lag auf der Zaunlatte auf—Rúnar nahm den dicken Schopf und zog ihn sanft durch seine geschlossene Hand. Das Sternabzeichen auf ihrer Stirn kam zum Vorschein.
Der warme Atem des Tieres fühlte sich angenehm auf ihren Knöcheln an. Vertrieb die zunehmende Kälte, die ihre Glieder hinauf kletterte und sie als Kind der Tropen nicht gewohnt war. Doch Jóns herzhaftes Lachen und Rúnars mehr als bedröppelter Blick lenkten sie davon ab. Auf seine Erklärung hin presste sie nur die Lippen zusammen. Senkte die braunen Augen auf den Kopf der Stute neben sich und hielt sich nun mit beiden Händen am Zaun fest.

“Also wenn ihr das mit mir machen würdet, hätte ich auch keine Lust auf euch.“, entgegnete sie mit einem leichten Spott in der Stimme.

“Wieso... macht ihr sowas überhaupt?“

Mit dieser Frage wandte sie sich an Jón, der mit dem unfreiwillig gewählten Thema wohl wesentlich weniger Probleme zu haben schien als Rúnar, der sich lieber seiner Stute widmete.
Rúnar musste auf ihre Reaktion kurz die Lippen zusammenpressen, um nichts Unhöfliches zu sagen. Er wollte Jón nicht die Situation verderben, nachdem er ihn mitgenommen hatte, obwohl er sie hätte allein lassen sollen. Aber es fühlte sich an, als hätte sie ihm sowas gesagt wie: Dein Bruder liebt dich nicht.

Wie um ihn zu bestätigen war Rökkur in dem Moment am Zaun angekommen, streckte den Hals nach oben, und stieß ihm sanft die weiche Nase ins Gesicht. Als würde er ihm einen Kuss geben. Rúnar umgriff seine Nase und küsste ihn zurück, zwischen die Nüstern. Dann stieß Rökkur seine Nase in Nótts Hals und sie zog ihren Kopf wieder zurück.

„Na ja,“ begann Jón. „Wir wollen halt von manchen Hengsten keine Fohlen. Ist ja eine kontrollierte Zucht. Und die sind dann aber frustriert, wenn sie keine Stuten decken dürfen. Deswegen kastriert man sie.“
Skadi blinzelte einige Male, nur um erneut festzustellen, dass sich Rúnars Gesichtsausdruck seltsam verfärbt hatte. Wirkte er etwa verärgert? Schweigend beobachtete sie das Spiel zwischen dem Wallach und seinem Besitzer, wandte dann ihren Kopf fragend an Jón, der wesentlich unbekümmerter antwortete.
“Mh. Und dann sind sie weniger frustriert...“
Fast war das Murmeln zu leise, als dass es bis zu den Jungen durchdrang. Doch Skadi wandte sich ohnehin von beiden ab und ließ den Blick nachdenklich über die Weide gleiten. Zuckte schlagartig zusammen, als ein nur all zu bekannter Laut in ihrem Rücken erklang. Dieses Mal war es nicht die Kälte, die ihr Gänsehaut über die Arme trieb. Wie in Zeitlupe wandte sich der dunkle Schopf herum. Die Hände eisern um die Zaunlatte geschlungen. Und dort stand er. Mitten im Türrahmen und hob mit tadelndem Blick einen dicken Klumpen Stoff in die Höhe.
Rúnar verstand nicht, was sie gesagt hatte -- aber das erübrigte sich ohnehin, als die Tür zum Haus hinter ihnen aufschlug. Rúnar und Jón drehten sich ruckartig um. Skaðis Vater stand im Türrahmen, berührte mit dem Scheitel fast die obere Kante. Als Rúnar realisierte, dass er einen Mantel hochhielt, realisierte er auch, dass sie ja die ganze Zeit keinen getragen hatte. Jón und er sollten sich auch wärmere Sachen anziehen, wenn sie mit dem Pferden raus wollten.
Skadi folgte seiner Anweisung nur widerwillig und schenkte Jón im Vorbeigehen ein mildes Lächeln. Dann beschleunigte sich ihr Schritt, wandelte sich in einen schnellen Trab, der kleine Klumpen Schnee in ihrem Rücken aufwirbelte.

Oddr sah indes zu den Jungen hinüber. Musterte ihre Gestalt von Kopf bis Fuß und bat auch diese mit einem Kopfnicken ins Innere des Hauses zurück.

“Du bist hier nicht zu Hause.“

Brummte der Lockenkopf zu seiner Tochter hinab und klang dabei ebenso wenig begeistert, wie die Miene seiner Ältesten anmutete.

“Sollte ich mich vorhin nicht noch fühlen als wäre ich es?“

Ein lachendes Schnauben durchfuhr seine Kehle und trieb ein amüsiertes Zucken in seinen Mundwinkel. Erst als Jón und Rúnar auf einen Meter heran getreten waren schwand der sanfte Ausdruck.

“Ihr solltet euch wärmer anziehen, wenn ihr hier draußen bleiben wollt.“

Sein Blick sagte allerdings mehr als das. Wirkte beinahe als ermahnte er die Jungen, ab jetzt besser auf seine Tochter aufzupassen, die sich mit blauen Lippen den dicken Mantel über die Schultern zog.
Rúnar und Jón tauschten einen Blick aus, der sagte, dass sie lieber nicht zögern sollten, wenn Skaðis Vater etwas befahl. Oder empfahl, in dem Fall, aber machte das einen großen Unterschied? „Jawohl,“ sagte Rúnar und gab sogar eine leichte Verbeugung.

Sie rannten auf die Tür zu. Jón hielt kurz bei Skaði an und sagte: „Warte hier auf uns, ja? Wir gehen nur schnell unsere Mäntel holen.“

Sie rannten den Gang entlang zurück, rannten fast Kjartan um, der mit einem Tablett auf dem ein Teeservice stand aus dem Treppenhaus kam. „Entschuldige!“ rief Rúnar und Jón lachte ausgelassen. Sie verschwanden in ihren Zimmern, warfen sich die Mäntel um und rannten wieder hinaus. Skaðis Vater war wohl wieder bei den Erwachsenen.

Außer Atem und mit roten Wangen standen die beiden im Türrahmen. „Wollen wir dann ausreiten gehen, oder hast du es dir anders überlegt?“ fragte Jón Skaði.
Die Jungen rannten, als hinge ihr Leben davon ab. Als könnten sie es kaum erwarten, durch den hellen Schnee zu rennen, den Skadi mit der Spitze ihres Stiefels aufwirbelte. Komische Kerle. Aus diesem Rúnar wurde sie noch weniger schlau, als aus Jón, der auf den ersten Blick ganz in Ordnung und ähnlich energiegeladen wirkte, wie sie. Warum sie sich so sehr um sie bemühten, war ihr schleierhaft. Hatte wohl mit Gastfreundschaft zu tun. Zumindest war es das, womit sie ihre eigenen Gedanken zufrieden stellte.
Als sich die Tür in ihrem Rücken öffnete, wirbelte die Nordskov herum und musste sich die dichten Locken aus dem Gesicht wischen.

“War das nicht der Plan?“

Sie lächelte. Legte die Hände abwartend in den Rücken und musterte Jón. Rúnar stand dicht hinter ihm, lugte erst mit den hellen Spitzen über dessen Schulter und zeigte kurz darauf sein blasses Gesicht, das neben Jón noch gespenstischer wirkte.
Jón grinste Skaði mit leuchtenden Augen an. Er klatschte kurz in die Hände. "Schön," sagte er und drehte sich zu Rúnar um. "Blær für Skaði, oder?"

Rúnar nickte. "Hätte ich auch gesagt."

Rúnar drehte sich schon Richtung Gang um während Jón Skaði mitwinkte. "Wir gehen erst Sattel und Zaumzeug holen."
Schweigend folgte sie den beiden Jungen in Richtung der Ställe. Dieser Jón und seine gute Laune waren fast schon ansteckend. Immer wieder erwischte sie sich dabei, wie sich dieses sanfte Lächeln zurück auf ihre Lippen stahl, wann immer sich sein Blick auf sie richtete. “Aber ihr könnt auch ohne all das auf ihnen... sitzen...oder?“
Jón tippte seinen Finger an das Kinn, als sein Blick auf der Suche nach Blærs Sattel an der Wand entlang schweifte. (Auf der einen Seite des Raums waren alle Sättel auf in der Wand eingelassenen Sattelböcken angereiht. Auf der anderen--an Haken--die Trensen.)

"Ah", machte Jón und zog sich die hölzerne Trittleiter heran. Blærs Sattel befand sich auf einem Bock ganz oben. Rúnar sammelte derweil die Trensen zusammen.

"Klar können wir das", ächzte Jón--er war gerade dabei den Sattel vom Bock zu hieven. "Aber wir fordern sehr viel von den Pferden und da ist es besser für den Rücken des Pferdes, wenn man das Equipment verwendet." Er blieb abrupt mit dem Sattel im Arm auf der Trittleiter stehen und starrte Skaði an. "Ehm ... willst du--willst du ohne Sattel reiten? Wenn du dich dabei wohler fühlst ..."

Rúnar presste die Lippen aufeinander um nichts zu sagen. Blær war von sanftem Gemüt und vertraute jedem, der ihr auch nur kurz die Nase kraulte oder den Hals tätschelte--aber es gehörte nicht nur Vertrauen zwischen Pferd und Reiter dazu, sondern die beiden mussten sich auch kennen; wissen wie der jeweils andere tickte. Aber er verstand schon. Jón wollte, dass sich Skaði so willkommen wie möglich fühlte.
Für einen Moment spürte die junge Nordskov den Impuls voraus zu treten und die Arme nach dem Sattel auszustrecken, den Jón vom Bock zog. Sonderlich leicht schien das Ding nicht zu sein, seine Frage hielt sie allerdings davon ab.
“Ich kann gar nicht reiten.“, gestand sie amüsiert, zog dabei die Arme hinter ihrem Rücken hervor und zuckte beiläufig mit den Schultern. War ja nichts wofür man sich schämen musste. “Und die paar Mal, wo ich Menschen auf... Pferden in meiner Heimat gesehen habe und nicht auf der anderen Insel... das war glaube ich ganz ohne... das da.“ Sie nickte auf den Sattel in Jóns Hand und fühlte letztlich dem Impuls nach, den sie eben noch gehabt hatte, um ihm helfend die Hände entgegen zu strecken. “Ich war nur neugierig.“
Jón zuckte ebenfalls die Schultern auf ihre Antwort hin. "Ach so." Er reichte ihr wie selbstverständlich den Sattel runter. "Dann ist es wahrscheinlich besser, wenn du das Equipment verwendest." Er lächelte und stieg von der Trittleiter runter.
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#6
Ein wenig hatte sie das Gewicht des Sattels unterschätzt, der wie ein lederner Stein auf ihre Arme hinab sank. Für einen Moment musste Skadi ihren Schritt stabilisieren, ehe sie Zur Seite trat und Jón Platz machte.
Schweigend folgte sie ihm dann. Zu den Trensen, wenig später zurück zu den Pferden. Beobachtete alles ohne ein Wort zu verlieren. Dieser Rúnar war seltsam verschlossen, wie sie feststellte. Der hatte wahrscheinlich genauso wenig Bock auf all das hier wie sie. Aber ihrem Vater „zu Liebe“ und weil sich der Dunkelhaarige redlich Mühe mit ihr gab, spielte sie einfach mit. Was besseres hatte sie ohnehin nicht zu tun.
Kurz zog Skadi den Mantel fester um ihre Schultern. Den Blick auf eines der Pferde gehoben und dicht bei Rúnar stehend. “Reitet ihr oft zusammen? Du und... Jón?“
Rúnar tätschelte Nótt geistesabwesend den Hals, während Jón Blærs Sattelgurt enger zog.

Rúnar nickte und lächelte. "Fast jeden Tag." Er dachte wieder daran, dass dies niemals seine Zukunft sein würde. Die von Jón, ja. Und auch die von Skaði. Aber er? Er würde seine Tage auf einem Walfänger verbringen und Jón und Skaði und ihre Kinder würden sich um Nótt und Rökkur kümmern, damit sie nicht außer Form gerieten und verwilderten und Rúnar seine Stunde, die er am Tag noch zum Reiten übrig hatte, auch gut dafür nutzen konnte.

Er blinzelte kurz--um die Gedanken loszuwerden. Er musste sich jetzt keine Gedanken darüber machen. Er sollte sich so oder so keine Gedanken darüber machen. Er hatte so oder so keine Wahl.

"So, fertig", sage Jón. "Ich zeige dir, wie man aufsteigt, in Ordnung?"
Seine Antwort fiel wie erwartet kurz aber präzise aus. Das war wohl eine seiner besonderen Eigenarten, sofern er mit Menschen zu tun hatte, die weder zur Familie gehörten, noch enge Freunde waren. Das sanfte Lächeln, das sie deutlich in seiner Stimme vernahm, war jedoch im ersten Moment unerwartet. Denn der kurzweilige Ausdruck in seinen Augen glich so gar nicht dem heiteren Gemüt seiner Lippen - zumindest bildete es sich die junge Nordskov ein, als sie den Blick aus braunen Augen von dem Hals des Pferde auf Rúnar gleichen ließ. Vom Gedanken eingenommen, dass es schön war mit jemandem einen Großteil seines Tages zu verbringen, den man (zumindest die meiste Zeit über) gut leiden konnte, bemerkte sie Jón kaum in ihrem Rücken. Zuckte für einen Sekundenbruchteil zusammen, als sein warmer Atem ihre Wange streifte und sie im selben Moment den dunklen Lockenkopf zu ihm wandte.
“ähm... okay.“ Was er jetzt so wirklich wollte, wusste Skadi nicht, als sie auf dem Absatz kehrt machte und nach wenigen Schritten neben Jón zum Stehen kam. Irgendwie fühlte sie sich wie bestellt und nicht abgeholt. Würde sogar auf die beiden Jungs eben jenen Eindruck machen, während ihr Blick immer wieder vom Dunkelhaarigen auf den Sattel glitt. “Und jetzt?“
Während Rúnar von sich aus aufstieg, blieb Jón vor Blærs Hals stehen. "Also. Du stellst deinen linken Fuß in den Bügel. Dann trittst du mit Schwung rein und schwingst dein rechtes Bein über die Kruppe--also, den Hintern. Heb dich dabei aber am Sattel fest." Er machte eine kurze Pause. "Oder--" Stockte. "Oder du nimmst dabei meine Hand." Er erhob seine Hand, sodass sie auf Augenhöhe war. Bereit für Skaði, um sie als Hilfestellung anzunehmen. Falls sie wollte.
Das Metall des Steigbügels klapperte in ihrem Rücken. Rúnar musste also schon auf dem Pferd sitzen, das kurz schnaubte und Skadi für einen Moment von Jóns Erklärung ablenkte. Doch sie nickte verstehend auf dessen Worte. Setzte bereits ihren Fuß in den Bügel und hob sich in einer fließenden Bewegung selbst in den Sattel. Es fühlte sich unfassbar komisch an so breitbeinig da zu sitzen. Wie von selbst streckten sich ihre Beine für einen Moment, ehe sie auf den dunklen Haarschopf neben sich hinab sah. “Okay... sitzt du bei mir mit drauf?“
Jón ließ seine Hand sinken. Rúnar sah sein Gesicht dabei nicht, aber er konnte es sich vorstellen. Aber auf Skaðis Frage hin klang er wieder etwas fröhlicher. "Natürlich", sagte er und lächelte zu Skaði hinauf. Sie war sicher aufgestiegen und ihr Sitz wirkte ebenfalls sicher. Rúnar konnte sich vorstellen, wie sie nach kurzer Zeit schon allein im Jagdgalopp über die Wiesen fegte. Irgendeinen der Hengste unter ihr, der genau so ein Wildfang war, wie sie selbst.

Als Jón zu Rúnar rübersah, war dieser schon dabei Nótt näher an Blær heranzubringen, sodass Jón gerade noch Platz hatte, sich zwischen den beiden Pferden umzudrehen. Brav wie Blær war, blieb sie problemlos stehen. Nótt war Rúnars und Jóns seltsame Experimente ohnehin gewohnt.

"Achtung, ich komme hoch", sagte Jón zu Skaði. Rúnar nahm den Fuß aus dem Bügel und legte ihn an Nótts Hals an und hielt seine Hand bereit. Jón stieg in den Bügel, nahm Rúnars Hand und schwang sein Bein vorne herum über Blærs Hals. Er ließ sich etwas unsanft auf Blærs Widerrist fallen, aber das störte die Stute kein bisschen.

"Na, das üben wir aber nochmal", sagte Rúnar scherzhaft. Jón streckte ihm die Zunge raus und nahm die Zügel auf. Rúnar lachte leise in sich hinein.

Jón dreht sich halb um, aber er konnte Skaði nicht sehen. "Am besten hältst du dich an mir fest."
Gerade im rechten Moment rückte Skadi ein paar Zentimeter zurück, ehe Jón sie über den Hals des Tieres schwang und vor ihr Platz nahm. Dem darauffolgenden Wortwechsel wohnte sie mit einem kurzen Blick auf Rúnar bei und grinste breit hinter den Schultern seines Freundes zu ihm hinüber. Fast hätte sie sich zu einem amüsierten Grunzen hinreißen lassen. Nickte stattdessen auf Jóns Anweisung und schlang unverwandt und fest ihre Arme um seine Hüfte.

"Okay... und jetzt?"

Ihr Herz klopfte ihr schlagartig bis zum Hals, als das Pferd seinen Schweif zur Seite schnellen ließ und ihr Bein streifte.
Rúnar musste lächeln, als er sah, wie Jóns dreister Ausdruck zu einem überraschenden wurde, als Skaði bedenkenlos ihre Arme um ihn schlang. (Wären sie ein paar Jahre älter gewesen, hätte man sie sicherlich für unsittlich gehalten -- alle beide.)

Jón blinzelte ein paar mal und sagte: "Jetzt reiten wir los." Er schnalzte mit der Zunge, Blær ging gemütlich los und Rúnar trieb Nótt an, um den beiden zu folgen. "Du suchst aus wohin", fügte er hinzu. Er nahm die Zügel in eine Hand und zeigte in die Landschaft. "Wir können runter an den Strand. Hier oben geht es zu einer Eben. Und hier in den Wald. Sind alles gute Reitwege."
Im ersten Moment musste Skadi einen kleinen Aufschrei unterdrücken, als sich das Tier in Bewegung setzte und sie ruckartig gegen Jón gepresst wurde. Spitze dann jedoch die Ohren und zog den Kopf so weit über seine Schulter, dass sie ihr Kinn problemlos darauf betten konnte.

"Wald."

Es kam wie aus der Pistole geschossen und zauberte der jungen Nordskov ein paar rote Flecken auf die Wangen.

"Wenn ihr nichts dagegen habt."

Fragend schielte sie zu Rúnar und schmunzelte.
Jón wurde selten rot. Und er war auch nicht so blass wie Rúnar, deswegen sah man es ihm nicht sofort an, aber jetzt -- jetzt sah man es deutlich.

Rúnar war froh, dass Ásta etwas zurückhaltender gewesen war, als Skaði. Aber dann wiederum -- er selbst war auch zurückhaltender als Jón. Sie waren wie eine Kompassnadel, immer in die entgegengesetzte Richtung zeigend, aber trotzdem untrennbar. Und Jón war meistens der Norden, der Rúnar an die Hand nahm und ihn mitzog und ihm sagte, wo es lang ging.

"Nein, Wald ist gut. Deswegen auch der Vorschlag", sagte Jón. Rúnar nickte zustimmend, als Skaði zu ihm sah.

Als sie an der Hengstweide vorbeiritten, erklang ein beinahe klägliches Wiehern und Sólfari kam vom anderen Ende der Weide angetrabt. Sólfari war der ganze Stolz von Rúnars Onkel. Ein dreijähriger Hengst. Flachsfarben und minimal gescheckt mit weißem Kopf und weißen Beinen. Silberne Augen. Wie der Reiter. Sólfari war störrisch und ließ kaum etwas mit sich machen, aber er war dennoch ein liebes Pferd und alle warteten drauf, dass jeden Tag etwas geschehen könnte, was ihnen bestätigen würde, dass er tatsächlich gesegnet war -- und somit die ganze Familie, jetzt und für alle folgenden Generationen. Und Sólfari liebte Blær abgöttisch. Er protestierte lautstark, jedes Mal, wenn sie von der Weide geholt wurde. (Wenn man ihn von der Weide holte war das kein Problem, denn dann schenkte man ihm ja Aufmerksamkeit, die er sich abgesehen davon, nur von Blær wünschte.)

Jón rollte mit den Augen. "Sólfari!", rief er, lang gezogen, mit einem genervten aber mitleidigem Unterton. "Das ist doch kein Weltuntergang."

Sólfari schrie weiter.
Bildete sie es sich ein oder zitterte seine Stimme, als er antwortete? Für einen Sekundenbruchteil zogen sich die dunklen Brauen zusammen, während das aufmerksame Augenpaar zur Seite huschte und versuchte durch die dunklen Haare einen Blick auf Jóns Gesicht zu erhaschen. Fehlanzeige. Nicht als tanzende Locken und dunkle Spitzen kurzer Haare.
Das Trappeln von Hufen lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Weide und das Geschehen außerhalb des Pferdes, auf dem sie saß. Fasziniert starrte sie dem Hengst entgegen, dessen Augen… irgendwie denen Rúnars ähnelten. Weniger blau. So viel war gewiss. Doch genauso stechend und unnatürlich hell.

“Hey… Wer bist du denn?“

Langsam zog Skadi einen Arm von Jón und streckte ihn zur Seite in Sólfaris Richtung. Lächelte verschmitzt.

“Du hast wohl auch keine Lust hier allein rumzuhängen, was?“
Jón stoppte Blær, als er bemerkte, dass Skaði ihren Arm nach Sólfari ausstreckte. Der Hengst hob den Kopf über den Zaun und machte den Hals lang, um ihre Hand zu erreichen. Seine Nüstern blähten sich kurz, dann zuckte er zurück und streckte sich weiter nach vorn, zu Blær.

Jón warf Rúnar einen vielsagenden Blick zu: Was für eine Nervensäge. Nehmen wir ihn einfach mit, bevor er noch den ganzen Hof zusammenschreit.

Rúnar nickte und bewegte Nótt zum ein paar Schritte zurückliegenden Gatter. Sólfari wusste, was passierte und kam sofort, zwängte sich durch die Öffnung, als Rúnar das Gatter auch nur ein kleines Stück geöffnet hatte und drängte Nótt damit unsanft zur Seite. "Hey! Du Blödmann", beschwerte Rúnar sich, aber Sólfari war schon bei Blær und begrüßte sie; dann begrüßte er Skaði ordentlich, indem er ausgiebig ihren Arm beschnupperte.
Schweigend beobachtete die Nordskov die Szenerie. Grinste bis über beide Ohren, als der Hengst auf sie zu gerannt kam, um erst die Stute, dann sie zu begrüßen. Immer berührten ihre Fingerkuppen die feinen, glatten Nüstern. Das Kribbeln fühlte sich seltsam angenehm an. Fast vergaß sie Jón vor sich, den sie mit ihrem anderen Arm fest umklammert hielt und ihren Kopf gegen seine Schulter lehnte, während ihr Blick auf Sólfari gerichtet blieb.

"So einen Bruder wie dich habe ich auch. Aber macht bloß keine Dummheiten, hörst du?"

Und dann war es unaufhaltsam. Sie kicherte. Für einen kurzen Moment, indem der Hengst wie zur Antwort gegen ihre Hand schnaubte.
Als Skaði loskicherte, musste Rúnar auch mitkichern. Er konnte sehen, wie Jón sich zuerst zurückhielt, aber dann konnte er auch nicht mehr an sich halten.

"Ne, ne, mache ich ja gar nicht", sagte Jón in sein Lachen hinein. ""Wir machen das immer so." Kurze Pause, in der er einen tiefen Atemzug nahm. "Achtung, es geht weiter." Und er trieb Blær an. Sólfari passte sich der gemütlichen Schrittgeschwindigkeit an und lief entspannt neben ihnen her.
Sólfari verschwand. So auch Skadis Arm, der sich an Jóns Hüfte einquartierte. Den weiteren Weg verbrachte sie für ein paar Minuten schweigend auf dem Rücken der Stute. Den Kopf wie zuvor auf die Schulter des Jungen gebettet, dessen Anwesenheit von Herzschlag zu Herzschlag immer selbstverständlicher wurde.

"Meine Mo sagt immer, dass man Wildfänge nicht einsperren sollte, weil sie sonst unglücklich sind."

Was sich sowohl auf Tiere, als auch auf Menschen ummünzen ließ.
Rúnar warf einen Blick auf Sólfari. Seine lange Mähne wippte auf und ab mit seinem Gang und er ließ entspannt den Kopf hängen. Sah nur ab und zu zu Nótt und Blær, als ob er sicher gehen wollte, dass es allen gut ging.

Und Rúnar sah zu Jón und zu Skaði, die sich immer noch an ihm festhielt. Wildfänge.

"Ich denke, sie hat recht", sagte Rúnar. "Hast du mehrere Geschwister? Oder nur einen Bruder?"
Aus den Augenwinkeln sah Skadi zu Rúnar hinüber, der, wenn sie sich nicht irrte, zum ersten Mal an diesem Tag eine direkte Frage an sie gestellt hatte. Nicht, dass sie darüber jetzt übermäßig erfreut wäre. Doch es hob ihre Mundwinkel dennoch zu einem anerkennenden Lächeln. Er schien wohl langsam warm zu werden.

"Ich habe insgesamt 4. 3 Brüder und eine Schwester."
"Wirst du sie--" Er stoppte sich. Er hatte fragen wollen, ob sie ihre Geschwister nicht vermissen würde, wenn sie hier her kommen würde. Und hier bleiben würde. Aber er wollte keinen falschen Nerv treffen.

Dann kam Jón ihm ohnehin zuvor. Er gab ein aufgesetztes Jammern von sich, das reif fürs Theater gewesen wäre. "Immer bin ich der einzige, der nur eine Schwester hat."

Rúnar lächelte. "Er macht nur Witze", sagte er zu Skaði.

Jón hob einen Finger in Rúnars Richtung. "Na ja. Es hat schon seine Gründe, warum ich lieber mit dir Zeit verbringe, als mit ihr."

Die Pferdehufe klapperten auf dem kleinen, festgetretenen Pfad der sich den Hügel hochschlängelte. Baumkronen erschienen am oberen Rand des Hügels.
"Hey."

Mit einem sanften Schlag presste Skadi ihre flache Hand gegen Jóns Schulter, kaum dass sie sich von ihm löste und protestierend gegen seinen Hinterkopf sah.

"Du solltest dankbar für deine Schwester sein. Es hätte gut sein können, dass du auf ewig allein geblieben wärst. Alle Augen auf dich gerichtet."

Man merkte sichtlich, dass die Nordskov als loyaler Familienmensch erzogen worden war. Zwar ärgerte sie sich nicht weniger über ihre Geschwister, doch hätte sie niemals einen von ihnen zum Teufel gewünscht. Zumindest nicht für immer.
Jón führte seine Hand an seinen Hinterkopf. Gab ein nervöses aber auch gleichzeitig belustigtes Lachen von sich.

Jón drehte seinen Kopf ein wenig zur Seite, damit Skaði ihn besser hörte.

"Ich bin ja nicht undankbar für sie. Wir verstehen uns nur nicht immer so gut." Eine kurze Pause. "Und es sind sowieso alle Augen auf mich gerichtet. Wenn sie nicht auf Rúnar gerichtet sind."

Das trieb Rúnar schon wieder die Röte ins Gesicht. Es war tatsächlich so. Auch, wenn er und Jón nicht wirklich wussten warum. Rúnars Vater sagte ihm immer wieder, wie wichtig es sei, dass sie die Familie "weiterführten" und irgendwas von Baumstämmen und dass er das später noch besser verstehen würde und ihm bis dahin einfach vertrauen musste. Und Onkel Nói tat dasselbe mit Jón. Nur nicht ganz so eindringlich.
Langsam lehnte sie sich leicht zur Seite. Folge Jóns Blick zu Rúnar hinüber und umriss seine Gestalt mit wachsamen dunklen Augen. Auf ihren Zügen zeichnete sie kein Lächeln ab. Eher wirkte die Nordskov, als durchfuhr sie tiefstes Bedauern. Sogar ein Tropfen von Trotz, den sie ihrem Vater gegenüber nur all zu gern an den Tag legte.

"Das stell ich mir unfassbar anstrengend vor. Du bist der Älteste?"

Während sie auf eine Antwort wartete schob sich der rechte Arm wieder ungefragt um Jóns Hüfte. Der Gang seiner Stute wurde schließlich mit zunehmendem Anstieg holpriger.
Rúnar sah zu Skaði rüber, als sie ihn ansprach und er bemerkte, dass sie ihn eingehend ansah. Er warf ihr ein kurzes Lächeln zu (damit es nicht so unangenehm war). Dann zuckte er mit den Schultern. "Ist es manchmal, aber nur, weil ich manchmal nicht verstehe, was die Erwachsenen von uns wollen." Er legte etwas Spott in seine Stimme und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. "'Das verstehst du noch nicht, aber bald.'" Dann seufzte er und nickte. "Und ich bin der Älteste, ja. Hrafn und Hekla sind ein Jahr jünger als ich. Und Írunn ist--" Er rechnete kurz nach und kniff in seiner Konzentration kurz ein Auge zusammen. "--zwei Jahre jünger als Jón."
"Ganz ehrlich... manchmal glaube ich, dass sie selbst nicht wissen, was sie wollen."

Skadi sagte es, als wäre sie gefühlte 80 und voller Lebensweisheiten, die sie unter die Menschen bringen musste. Doch das verschmitzte Lächeln machte deutlich, dass in ihr nichts mehr steckte, als der Kopf einer trotzigen 10 Jährigen. Einem dieser "Wildfänge", die kaum zu bändigen waren und die mit harter Hand geführt werden mussten, wollte man sie ihrem angeborenen Trieb enteignen. Und der riet Skadi augenblicklich tiefer ins Unterholz zu starren und sich mit beiden Händen auf dem Hinterlauf der Stute abzustützen.

"Woah... hätte gar nicht gedacht, dass ihr doch noch nen richtigen Wald habt."
Rúnar weitete die Augen und nickte zustimmend. Jón sagte: "Da könntest du allerdings recht haben."

Er drehte sich kurz irritiert um, als sich Skaðis Arme von ihm lösten, aber dann musste er lächeln. "Ja, wir haben wirklich nicht viele Wälder hier." Lachte kurz auf. "Unsere Großmutter sagt immer: Meistens sieht man morgens schon, wer abends zum Essen kommt."

Rúnar hatte genau die Stimme im Kopf, mit der ihre Großmutter das immer sagte und lachte in sich hinein.
"Bei uns gibt es nicht anderes als dichte Wälder."

Und wenn man nicht aufpasste, konnte man sich schneller in ihnen verirren, als einem lieb war. Unter ihren Geschwistern war es fast schon zu einer Mutprobe geworden, mit einem kleinen Beutel Proviant in den Urwald zu verschwinden und Tage später mit reichlich Erfahrungen zurück zu kehren.

"Seid ihr oft hier?`"
"Woah, dann sieht man da ja nie was außer die Bäume um einen rum", sagte Jón, aber mit Ehrfurcht.

Rúnar stellte es sich auch faszinierend vor und er liebte es, sich solche Sachen auszumalen, wenn er Geschichten hörte oder las. Er liebte es, sich solche Bilder -- echte Bilder -- in Schulbüchern und Reiseberichten anzusehen. Aber er konnte sich nicht vorstellen, jemals aus dem Fenster zu schauen und dort was anderes zu sehen, als weites, hügeliges Grasland, Berge in der Ferne, Pferdeweiden, die ein oder andere Dampfsäule die von einer heißen Quelle ausging, das Meer und die Boote.

"Manchmal", sagte Jón. "Meistens reiten wir zu den Quellen. Wie lange bleibt ihr denn hier? Dann können wir dort vielleicht morgen hinreiten."

Rúnar kannte den Ton, der in Jóns Stimme mitschwang: Pläne schmieden, Abenteuer erleben. Und es hatte ihm auf der Zunge gelegen. Dass sie nicht so oft in den Wald ritten, weil es gefährlicher war. Sein Vater und Onkel Nói hatten nichts dagegen, wenn sie es taten, aber sie mussten sich regelmäßig anhören, wie aufmerksam sie bleiben mussten, im Gegensatz zu den anderen Reitwegen.

Sólfari hob den Kopf und spitzte die Ohren, sah Richtung Unterholz, was Nótt dazu veranlasste dasselbe zu tun. Er machte Anstalten kurz stehen zu bleiben, aber als Blær entspannt weiterlief, tat Sólfari es ihr nach.
"Zu den Quellen? Ist das sowas wie... ein Badesee?"

Unweit ihres Dorfes, ein paar Fußminuten in den Wald hinein gab es mehrere Becken dieser Art. Mit einem Wasserfall, der besser war, als jede Eimerdusche ihres Dorfes.

"Gibt's da auch Schlangen?"

Nicht, dass die Nordskov sonderlich erpicht darauf war, einer über den Weg zu laufen. Doch wenn sie mit ihren Geschwistern im Wald unterwegs war, grenzte es schon fast an die Macht der Unmöglichkeit, wenn sie keinem dieser Reptilien begegnete.
Dass Sólfari aufhorchte bemerkte sie nur am Rande. Kannte sich allgemein mit Pferden zu wenig aus, um seiner deutlichen Körpersprache mehr Beachtung zu schenken.
Jón nickte. "Ja, kann man so sagen. Aber eher wie so einzelne kleinere. Und die sind von Natur aus heiß. Aber es gibt keine Schlangen. Das einzige gefährliche hier--" Jón brach ab als etwas im Unterholz raschelte und Sólfari nochmal die Ohren spitzte und dann zur Seite tänzelte. "Schhh, ruhig, Sólfari", sagte er.

Rúnars Herz schlug ein bisschen schneller als zuvor.
Jón brach ab. Und der letzte Gedanke, der durch Skadis Kopf schwirrte, war, was es in einem so kalten Land wohl für gefährliche Raubtiere gab, die weitaus gefährlicher waren als jede Schlange und jeder Giftfrosch. Ruckartig schnellte ihr Blick zur Seite. Direkt ins Unterholz aus dem das Rascheln gekommen war und den Hengst augenblicklich nervös gemacht hatte. Wie von selbst zog sich ihr Bein hinter Jón über den Rücken der Stute, die kurz zur Seite trippelte. Landete mit einem einzigen Sprung im hohen Schnee und ging wie in einem Reflex in die Hocke.

"Ihr bleibt hier. Ich schau nach."
Skaði stieg von Blær ab, bevor Jón die Stute anhalten konnte, aber sie war dabei graziöser als man erwarten würde. Rúnar und Jón sahen sie beide stumm an, als sie sich in den Schnee hockte, wie ein Tier auf der Lauer. Die Jungen sahen sich gegenseitig an, dann wieder Skaði, dann wieder sich. Jóns Mund stand offen und Rúnar zuckte die Schultern.

"Was machst du da?", flüsterte Jón.
Ruckartig hob sich die flache Hand der Jüngeren in die Höhe, damit Jón die Klappe hielt und nicht noch die Geräusche übertönte, die aus dem dichten Buschwerke an ihre Ohren drangen. Sie war schließlich unbewaffnete und hatte keine großen Möglichkeiten, um sich gegen ein wildes Tier zu verteidigen, dass ihr an die Kehle springen wollte, während er sie zutextete. Mit einem Seitenblick suchte sie im hellen Weiß der Schneedecke nach einem massiven Umriss. Einem Stein, der gut in ihrer Hand lag und mit ausreichend Kraft für einen Gegenschlag ausreichen würde.
Erst als sie die ersten Baumwurzeln erreichte vergruben sich die behandschuhten Finger in der weißen Kälte. Genau in jenem Moment als tiefes Knurren das Pfeifen in den Baumwipfeln durchschnitt. Nur langsam schälte sich eine feine Nase aus dem Unterholz. Und feuerrotes Fell.
Nótt bemerkte das Tier vor Rúnar. Sie zuckte kurz zusammen und Rúnar griff die Zügel fester, aber das war schon alles. Trotzdem hatte Nótt dem Fuchs einen Schrecken eingejagt und das Chaos begann. Er flitzte an Skaði vorbei, eine Schneewolke hinter sich herziehend, über den Pfad, zwischen Sólfaris Beinen hindurch. Sólfari quiekte, machte einen Satz bei dem alle vier Beine vom Boden abhoben -- das brachte Nótt so sehr aus der Ruhe, dass Rúnar Schwierigkeiten hatte, sie daran zu hindern ihm unterm Hintern wegzurennen.

"Sólfari!" hörte Rúnar seinen Cousin schreien und nach ein paar hektischen Schritten, ließ Nótt sich wieder auf Rúnar ein. Er drehte sie um und sah noch Sólfaris flatternden Schweif hinter der Kurve verschwinden.

"Scheiße!" Jón klatschte beide Hände gegen die Stirn.
Wollte sich Skadi gerade noch nach dem Schwanz des Tieres Strecken, um es in seinem Lauf ruckartig zurück zu ziehen, stob der Schnee schmerzhaft eisig ins Gesicht. Fluchend presste die junge Nordskov die Zähne zusammen. Dem Vieh hinterher zu hetzen war angesichts der aufgebrachten Pferde kaum mehr möglich. Und sie wollte definitiv nicht unter ihren Hufen zertreten werden, wenn sie sich unter dem Bauch der Stute auf die andere Seite des Weges wagte. Ohnehin erschien ihr der Gedanke nebensächlich als Sólfari total panisch voraus pretschte und nur einen Herzschlag nichts weiter als sein heller Schweif über dem Hügel aufragte.
Skadis Körper reagierte noch ehe ihr Kopf zu einem klaren Gedanken fähig war. So schnell sie konnte rannte sie dem Pferd hinterher. Hörte Jóns Rufe in ihrem Nacken. Das Schnauben und Wiehern der anderen beiden Tiere und stopfte noch im Laufe den Stein in ihre Jackentasche.
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#7
Innerhalb von wenigen Momenten legte sich in Rúnars Kopf ein Plan zurecht. "Nonni!", rief er. Sein Cousin drehte sich zu ihm um. Er war blass vor Angst. "Du gehst ihnen hinterher, ich komme vom oberen Weg."

Jón nickte und trieb Blær an und Rúnar drehte Nótt um. Tat genau das, was sie eigentlich nicht machen sollten: nicht allein in den Wald reiten. Aber es ging jetzt nun mal nicht anders.

JÓNS PERSPEKTIVE

Innerhalb weniger Schritte hatte er zu Skaði aufgeholt und verlangsamte Blær, sodass sie in der selben Geschwindigkeit nebeneinander herliefen. Von Sólfari war, bis auf die Hufabdrücke im Schnee, keine Spur.

Jón streckte seinen Arm zu Skaði runter. "Traust du dich? Wir wären schneller." Aber falls Rúnar es schaffte, Sólfari von der anderen Seite zurückzutreiben, dann spielte es eh keine Rolle, wie schnell sie waren. Im Notfall würden sie Sólfari einfach rennen lassen und ihn später wieder aufsammeln. Oder einer der Bauern aus den umliegenden Höfen würde ihn zurückbringen. Alle wussten, wie Sólfari aussah und dass er seinem Vater gehörte. Götter ... sein Vater wäre sowas von wütend, wenn er je davon erfahren würde. Er verbat sich daran zu denken, dass sie es nicht schafften Sólfari selbst einzufangen.
Das Trappeln von Hufen wurde in ihrem Rücken laut. Doch Skadi wandte sich nicht herum. Beschleunigte ihre Schritte so gut sie konnte, um den Hengst nicht aus den Augen zu verlieren. War jedoch zu langsam, um mehr als nur dem Weg im Schnee zu folgen. Mit schwerem Atem sah sie zu Jón hinauf, kaum dass er in ihrem Augenwinkel auftauchte und die Hand zu ihr hinab streckte. Nickte nur auf seine Worte hin und drückte sich mit voller Kraft vom Boden ab, kaum dass sie seinen Arm fest mit ihren Fingern umschloss. Fast rutschte sie an Blærs Flanken ab. Konnte sich nur mit einem festen Griff an Jóns Jacke aufrecht halten und stieß einen tiefen Atemzug aus.

"Tut mir leid... das war alles meine Schuld."
Jón musste sich mit der einen Hand in Blærs Mähne festhalten, um nicht aus dem Sattel gezogen zu werden.
Er spürte, wie der Sattel etwas zur Seite rutschte, aber bevor er sich zu weit zur Seite ziehen lassen und der Sattel ganz runterrutschen konnte, war Skaði hinter ihm. Er konnte nicht umhin zu denken, dass sie beiden wirklich ein gutes Team waren. Blær klopfte er den Hals -- diese Pferde ließen wirklich alles mit sich machen und dafür war er unendlich dankbar.

"Das muss dir nicht leid tun, weil es nicht stimmt." Es war seine und Rúnars Idee gewesen, reiten zu gehen und Sólfari mitzunehmen.

Jón trieb Blær wieder in den Galopp und sie preschten den Pfad entlang, Baumstämme flogen an ihnen vorbei, alles andere war nur weiß -- die Kronen, der Weg, das Unterholz. Dann kam ihnen ein goldener Fleck entgegen und dann ein schwarzer. Jón seufzte erleichtert. Aber das schwierigste kam erst noch. Sie mussten Sólfari irgendwie abfangen, oder er würde einfach wieder an ihnen vorbeirennen. Rechts von ihnen ging es steil den Hang hoch, da würde er nicht langrennen können, links ging es den Hang hinunter -- zwar nicht ganz so steil, aber das Unterholz war dicht. Der Pfad war breit genug für mehrere Pferde.

"Achtung, wir machen eine Vollbremsung!, rief er und hoffte das Skaði ihn durch den Fahrtwind hörte. Blærs Hufe schlitterten durch den Schnee, aber sie kam sicher zum stehen und Jón drehte sie seitwärts, bereit, sie in Sólfaris Weg zu treiben, falls es sein musste.
Es war vollkommen gleich was Jón sagte. Wenn ihr Vater von dieser Sache Wind bekam, konnte sie nur noch ein Gott vor seinem Zorn bewahren. Schwer schluckend starrten die dunklen Augen für einen Moment in den Schnee, ehe die Stute davon galoppierte und den leichten Körper der Jüngeren durch die Gegend schleuderte. Immer fester klammerte sie sich an den Jungen vor sich, um nicht abzurutschen. Vergrub ihr Gesicht in dem weichen Fell seiner Jacke und sah erst auf, als er eine Vollbremsung ankündigte und sie jeden Muskel des Tieres unter sich arbeiten spürte. Schwer atmend, als hätte sie und nicht Blær einen Halbmarathon hingelegt, erhob sich der dunkle Schopf. Hielt nach dem verschwundenen Hengst Ausschau, der nur unweit von ihnen kaum mehr im Schnee auszumachen war. Mucksmäuschenstill hockte Skadi auf ihrem sicheren Platz. Presste die Lippen fest aufeinander, um auch ja keinen Laut von sich zu geben.
Noch einmal würde sie sich nicht waghalsig vom Pferd schmeißen und durch den tiefen Schnee auf das nervöse Tier zu bewegen. Ganz gleich wie stark es in ihren Füßen und Fingerspitzen kribbelte.
Sólfaris Ohren tanzten. Vor, zurück, zur Seite. Er schnaubte. Stieß hellen Atem in die kalte Luft.
Sólfari tänzelte vor ihnen herum. Wenn er vor Angst nicht die Augen verdrehen würde, dann könnte Jón schwören, dass er sie nur ärgern wollen würde.

"Komm, Sólfari, stell dich nicht so an."

Der Hengst zuckte zusammen, als Jón abstieg und -- natürlich -- als Jón sich langsam auf ihn zubewegte, war das schon zu viel. Sólfari rannte los, wieder in die andere Richtung.

RÚNARS PERSPEKTIVE

Er konnte sich keinen Reim drauf bilden, was mit Sólfari los wahr. Er war oft nervös, aber meistens half es, wenn man selbst gelassen war -- das übertrug sich auf ihn. Und bis er weggelaufen war, waren sie auch alle noch gelassen gewesen. Oder?

Rúnar trieb Nótt an. Sie legte die Ohren an, hatte dieses Theater wohl auch langsam satt, aber tat, was Rúnar verlangte.

Sólfari stieg, seine Vorderbeine hoben nur leicht vom Boden ab, aber er machte eine Kehrtwendung.

"Sólfari!" Jón hatte beides: keinen Nerv mehr und keine Geduld mehr.

Dann sah Sólfari keinen anderen Ausweg mehr als den Hang. Mit einem Satz sprang er ins Unterholz, bemerkte wohl, dass er sich verschätzt hatte, als er kurz anhielt, aber sein Fluchtinstinkt war zu groß, um umzukehren. Er machte ein paar Sprünge über das dichte Unterholz hinweg. Vögel flogen auf und beschwerten sich, Äste knackten -- Rúnar und Jón standen da und sahen dem Hengst hinterher. Sie würden so viel Ärger bekommen. Oder Jón. Jón würde Ärger bekommen. Weil Onkel Nói war strenger und Sólfari war Onkel Nóis gesegnetes Pferd.

Als Sólfari stolperte, schlug Rúnar sich die Hand vor den Mund. Er war sich nicht mehr sicher, ob das Knacken vom Unterholz kam. Sólfari rutschte den Hang hinab und kam unten auf dem Pfad zum liegen -- versuchte aufzustehen, aber sein Vorderbein wollte nicht. Er wieherte, versuchte nochmal aufzustehen--
Wie ein Geist hockte Skadi regungslos und schweigend auf dem Rücken der Stute, die immer nervöser mit den Ohren spielte. Doch der Blick der jungen Nordskov war wie gebannt auf Jón gerichtet. Folgte dann seinen Händen in Richtung des weißen Hengstes, der erneut panisch die Flucht ergriff und die Böschung hinab sprang. Durch das dichte Unterholz, das lautstark unter dem Gewicht des hellen Körpers nachgab. Und ihn dann schlagartig unter sich begrub. Stille kehrte für einen Moment ein, in dem beide Jungen starr vor Schock auf ihrem Platz verharrten. Jón oberhalb des Abhangs. Rúnar irgendwo weiter oben auf seinem Pferd. Skadi selbst hielt es keine Sekunde mehr auf der Stute. Binnen weniger Atemzüge kam sie dumpf auf dem Pfad zum Stehen, dem sie an Jón vorbei in das Unterholz folgte und nach einem kurzen Blick den Hang hinab, selbigen hinab schlitterte. Das hier war vielleicht nicht ihre Heimat, nicht der Ort, an dem jede Sekunde eine wilde Raubkatze aufkreuzen und sich das verletzte Tier zum Fraß vornehmen konnte. Doch wenn sich Sólfari noch mehr versuchte panisch aufzuraffen und davon zu galoppieren, desto schmerzvoller wurde es für ihn.

„Shhh… alles gut. Beruhig dich. Du tust dir nur weh.“

In gebückter Haltung verharrte Skadi einige Hand weit von dem Hengst entfernt und wagte es nicht, sich noch einen Millimeter zu bewegte. Hielt die Handfläche gen Himmel und weit von sich nach vorn gestreckt und die Augen unverwandt auf den Kopf des Tieres gerichtet.
Jon blieb regungslos und starrte auf den wiehernden und sich windenden Sólfari, als Skaði vom Pferd stieg und den Hang hinunter rannte. (Scheinbar die einzige Person, die gerade fähig war etwas zu tun.) Aber Rúnar berappelte sich. Er nahm die Hände vom Gesicht und sagte: "Wir müssen jemanden holen gehen. Onkel Nói. Oder Papa. Und einen Tierarzt." Es fühlte sich so an als zitterte seine Stimme, aber er vielleicht kam ihm das nur so vor, weil seine Hände und sein Herz es auch taten.

"Ich hab Angst", sagte Jón, kaum hörbar. Er sah Rúnar kurz an, dann schweifte sein Blick zu Sólfari, dann irgendwo auf den Boden.

Rúnar bewegte Nótt zu Jón, sodass er nah genug war, um seine Hand auf d dessen Schulter zu legen. Jón sah auf, Tränen standen in seinen Augen -- er hatte wirklich Angst. Jón wollte immer, dass man dachte, es ginge ihm gut, auch wenn es nicht so war. "Wir müssen jemanden holen. Du musst entweder bei Sólfari bleiben, oder jemanden holen gehen."

Jón atmete tief ein. "Ich gehe. Aber Blær muss bei Sólfari bleiben."

Rúnar nickte, dann sagte er: Such meinen Papa zu erst.

Sie tauschten die Pferde, galoppierten los -- Jón nahm die Gabelung zum Hof, Rúnar die zum unteren Weg.
Noch immer verharrte Skadi in ihrer Position. Beobachtete das Pferd, dessen Nüstern sich stetig aufblähten wie ein Blasebalg. Er schien sich nicht beruhigen zu wollen. Unternehm stetig einen Versuch sich aufrichten und krachte doch wieder mit einem Schmerzenslaut zu Boden. Was war nur in ihn gefahren, dass er sich dermaßen erschrak? Hatte SIE dem Tier solche Furcht eingejagt? Denn der Fuchs war doch eindeutig zu klein, um einem Wesen dieser Größe die pure Panik in die Adern zu pumpen. Ein Knacken im fernen Unterholz erregte ihre Aufmerksamkeit und ließ den dunklen Schopf pfeilschnell herum fahren. Hufgetrappel erhob sich, doch nicht aus jener Richtung, aus der sie dieses Schnauben und Brummen wahrnahm. Dieser Tag war doch eindeutig verflucht.

"Nicht bewegen."

Raunte sie Sólfari zu, auch wenn sie nicht davon ausging, dass er sie überhaupt verstand, geschweige denn auf sie hörte.
Als Rúnar um die Kurve kam hockte Skaði neben Sólfari und versuchte ihn zu beruhigen. Sólfari hob den Kopf und wieherte Blær zu.

Rúnar machte sich bereit die Stute abrupt abzubremsen, aber unerwarteterweise tat sie es selbst. Im nächsten Moment hing er auf ihrem Hals, ließ die Zügel los, versuchte sich wieder aufzurichten, aber Blær tänzelte und ging rückwärts. "Blær! Blær! Was ist denn los?!"

Das tat sie nie. Nie. Und sie wollte einfach nicht aufhören. Bevor er unsanft auf dem Boden laden würde, klammerte Rúnar sich um Blærs Hals und ließ sich seitlich hinabsinken--taumelte--er bekam den Zügel gerade noch zu fassen, bevor Blær außerhalb seiner Reichweite war. "Schhhhhh. Beruhige dich." Aber es half nichts.

Vor was hatte sie denn so panische Angst? Rúnar drehte sich um, um vielleicht eine Quelle ausmachen zu können -- und erstarrte. Es fühlte sich an als hätte sein Herz ausgesetzt, dabei schlug es ihm bis zum Hals.
Er fasste sich wieder hielt mit aller Gewalt Blærs Zügel fest.

"Skaði", sagte er, so leise, dass er hoffte, sie hatte es trotzdem gehört. "Bär." Schräg hinter ihr. Und er hatte sie entdeckt.
Ihre Sinne kitzelten aufgeregt und brachten jeden Nerv in ihrem Körper zum Vibrieren. Totenstille machte sich um sie herum breit. Blendete das unablässige Schnaubend und Wiehern Sólfaris neben sich aus. Grell und schmerzvoll schlug der helle Schnee gegen ihre Netzhaut, ließ sie für einen Moment blinzeln, um die aufsteigenden Tränen zu unterbinden, die ihre Sicht unnötig verschleiert hätten. Und dann brach Rúnars Stimme in ihr Unterbewusstsein. Jagte eine spürbare Gänsehaut auf ihren Körper und brachte ihr ruhig schlagendes Jägerherz vollkommen aus dem Takt. Ein Bär. Scheiße. Aus den Augenwinkeln versuchte Skadi das Tier auszumachen, das sie wohl im Unterholz gehört haben musste. Schluckte und stieß kleine helle Atemwolken in die kalte Luft. Sie wusste, dass sie sich nur langsam bewegten durfte, um das Tier nicht unnötig zu einer Jagd anzustiften. Ihre Beine regten sich jedoch keinen Millimeter. Nicht einmal als das Brechen von Ästen an sie heran getragen wurde und sich kaum merklich eine schimmernde Silhouette aus dem Wald erhob. Erst als Sólfari panisch den Kopf zurück warf und sich auf die Füße rappelte, bekam die junge Nordskov die Kontrolle über ihren Körper zurück. Wollte nach der Mähne des Pferdes greifen, das eine erneute Flucht anstrebte, doch es war zu spät. Noch ehe sich Skadi gewahr wurde was sie tat, bäumte sie sich zur vollen Größe auf. Schrie und fletschte die Zähne wie ein wild gewordenes Tier, das seinen Fressfeind vom Platz verscheuchen wollte.
Rúnar schlug sich wieder die Hand vor den Mund. Diesmal, um nicht loszuschreien.

Blær reagierte auf Sólfaris Bemühungen und hörte auf, Rúnar wegzuziehen. Als ob sie auf Sólfari wartete. Er schaffte es, aufzustehen, ein paar Schritte zu humpeln, aber knickte ein.

"Sólfari", sagte Rúnar. Nur das. Er wusste nicht, was er damit meinte. Sólfari, komm her. Sólfari, es wird alles gut. Sólfari, es tut mir leid.

Rúnar wusste, wie das enden würde. In jedem möglichen Szenario war es unmöglich Sólfari zu helfen. Rúnar stiegen die Tränen in die Augen, liefen über. Er atmete tief ein. Nicht die Nerven verlieren, jetzt.

Die besten Chancen hatten sie alle, wenn er und Skaði so schnell wie möglich zum Anwesen zurückkehrten und ein Gewehr und einen Erwachsenen holten. In der Hoffnung, dass der Bär ihnen nicht nachrannte oder Sólfari nichts antat -- nicht zu viel antat.

Er hatte überhaupt keine Ahnung, wie Bären sich verhielten. Wie man sich ihnen gegenüber verhalten musste. Einmal im Jahr vielleicht strandete einer auf Andalónia, oder noch seltener.

Rúnar streckte ganz langsam seine freie Hand in Skaðis Richtung. Sie mussten beide schnell genug aufsteigen, ohne dass der Bär sie dabei erwischen konnte.
Der Bär schreckte zurück. Verharrte in seiner Position und starrte mit zitternder dunkler Nase zu ihnen hinüber. Skadi nutzte den Moment und machte einen Satz voraus, schrie aus voller Kehle und fuchtelte mit beiden Armen. Sie bemerkte Rúnar nicht einmal hinter sich, dessen Hand nur knapp ihren Unterarm verfehlte. Viel zu sehr war sie von dem Anblick eingenommen, der sich ihr bot. Das Tier machte kehrt und verschmolz mit den hellen Flecken Schnees im Wald. Ihr Herz sackte zwischen ihre Beine. Die dick verpackten Arme hingen wie gekochte Spaghetti an ihren Seiten hinab.
Anstatt auf ihn zu reagieren, schrie Skaði plötzlich los wie verrückt. Blær und Rúnar zuckten gleichermaßen zusammen, aber es schien zu helfen -- der Bär kehrte um.

Rúnar zog vorsichtig an Skaðis Ärmel.
Sie zuckte zusammen. So stark, dass sie Rúnar beinahe mit der flachen Hand durchs Gesicht gefahren wäre. Immer wieder hob und senkte sich ihre Brust. Der Schock stand ihr mehr als deutlich in die Miene geschrieben.

“Wo ist Jón?“
Rúnar zuckte nochmal zurück, ließ sie sofort los.

"Jemanden holen gehen." Seine Stimme war ruhiger als sein Herz ihm vorgab. "Glaubst du der Bär könnte zurückkommen?"

Rúnar sah zu Sólfari. Er hatte aufgehört zu zappeln, aber atmete schwer.
Erleichterung machte sich in ihren Muskeln breit und löste den Krampf in ihren Schultern. Wenigstens einen hatte es sicher von hier fortgezogen. Was sie jetzt allerdings tun sollten, wusste Skadi nicht, dessen Augen über den hellen Schnee auf Sólfari glitten. Der Hengst wirkte erschöpft. Sein Bein sah noch deformierter aus, als vorhin. Zumindest bildete sie es sich ein.

"Ich weiß es nicht. Ein hungriger Wolf würde es."

Oder ein Jaguar. Geduldig würde er um sie herum kreisen und auf den richtigen Moment warten, um das wehrlose Opfer zu reißen. Doch dieses Bild ersparte sie Rúnar lieber. Bewusst.

"Wir brauchen Feuer und Stöcke."

Ruckartig wandte sich die Jüngere wieder herum und fixierte die blasse Miene des Jungen mit energischem Blick. Ihnen blieb keine Zeit, um das Für und Wieder abzuwägen.
"Feuer? Wofür?" Sie kam ihm so entschlossen vor, dass er sich dumm dabei fühlte nicht zu wissen, was sie damit vorhatte.

Er konnte nichtmal ohne Streichhölzer ein Feuer machen.
Leichte Furchten zeichneten sich zwischen ihren Brauen ab. Unsicher, ob diese Frage von ihm Ernst gemeint war oder er wirklich nicht wusste, sich gegen wilde Tiere zur Wehr zu setzen.

"Um ihn zu verschrecken. Tiere haben Angst vorm Feuer."

Zumindest traf das auf die zu, die sie kannte. Ob sich das auf alle anwenden ließ, blieb fraglich. Ein Seufzen verließ ihre Kehle, ehe sie sich in der Hocke etwas erhob und auf den Wald zusteuerte.

"Warte hier... ich versuche was da drüben zu finden."
"M-hm." Rúnar nickte mit zerknirschter Mine.

Skaði verschwand im Unterholz und Rúnars Herz klopfte noch stärker bei dem Gedanken, dass der Bär zurückkommen und Skaði -- und sie beide überraschen könnte.

Ein Zittern durchlief ihn. Die Luft war kalt, sein Körper schweißdurchnässt.

Er ließ Blærs Zügel lang und hockte sich vor Sólfari. Der Hengst schloss kurz die Augen -- schnaufte aber weiterhin -- als Rúnar dessen Gesicht in die Hände nahm und ihm über den Nasenrücken strich.
Schritt um Schritt näherte sie sich den ersten Büschen. Lauschte mit angespannter Miene und klopfendem Herzen den Geräuschen ihrer Umgebung und verschwand letztlich im angrenzenden Waldgebiet. Weit kam sie jedoch nicht. Bückte sich gerade nach einem toten Ast, der unter dem hellen Schnee mit einem Zweig hervor lugte, als sich ein kehliges Brummen in der Stille erhob. Erschrocken schnellte der dunkle Haarschopf hinauf und erkannte gerade im letzten Moment die dunklen Flecken in der Ferne. Für einen Moment setzte ihr Atem aus. Ihr Körper versteinerte. Dann machte sie auf der Stelle kehrt und rannte zu Rúnar zurück, mit nichts mehr als zwei Zweigen in den Armen.

"Wir müssen weg. Schnell."

Immer wieder drohte sie im tiefen Schnee zu straucheln und suchte angestrengt nach Gleichgewicht. Panik meißelte sich tief in ihre Züge und kaum hatte sie den Jungen erreicht, krallte sie ihre Hände fest um sein Handgelenk, um ihn mit sich zu ziehen.
Rúnar schrie erschrocken auf als Skaði ihn packte. Sie riss ihn mit und er stolperte und fiel fast hin, aber rannte instinktiv mit.

Erst nach ein paar Schritten realisierte er, dass sie flüchteten. "Wir sind viel schneller auf dem Pferd."

Er wollte sich nach Blær umdrehen, aber hörte sie ohnehin schon hinter sich -- ihr Schnauben und ihre Hufe auf dem Weg. Ebenfalls auf der Flucht.
Skadi rannte, beschleunigte ihre Schritte, sobald sie flachere Stellen im Schnee erreichte und sah kein einziges Mal zurück. Es hätte nichts gebracht, sie nur unnötig verlangsamt und jene Angst geschürt, die sie womöglich auch hätte lähmen, statt beschleunigen können.
"Lauf einfach Rúnar. Lauf!"
Sie hörte das Trappeln von Hufen in ihrem Rücken. Spürte wie ihr Herz mittlerweile schon gegen ihren Kehlklopf schlug und ihre Lungen vor Kälte schmerzten. Doch sie dachte keine Sekunde daran sich zu den Bären umzudrehen, die mittlerweile aus dem Wald gekommen sein mussten, um sich über den verletzten Hengst her zu machen. Und solange sie kein Feuer oder ein Gewehr in den Händen hielten, war alles was sie tun konnten, ums nackte Überleben zu rennen.

Nach weiteren Minuten hielt die junge Nordskov zum ersten Mal inne und wandte sich herum. Sah an Rúnar und der Stute vorbei in den hellen Schnee, der nichts außer unendlichem Weiß präsentierte. Keine Bären, kein kehliges Brüllen. Sie hatten es geschafft, oder?
Er tat, was sie sagte. Darin war er immer gut. Einfach das zu tun, was man ihm sagte.

Als sie rannten und er daran denken musste, wie sie Sólfari zurückließen, konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten.

Als sie anhielten wischte er sie sich schnell aus dem Gesicht. Sie brannten kalt auf seiner Haut.

"Rúnar!" Sein Vater. Er drehte sich ruckartig in die Richtung aus der die Stimme gekommen war.
Wie ein Kanonenschuss durchschnitt die Stimme des Älteren die weiße Stille, die nur von ihren schweren Atemzügen unterbrochen worden war. Skadi wandte sich vollkommen schreckhaft herum, suchte aus dunklen Augen die Landschaft nach bekannten Gestalten ab und versteinerte augenblicklich, als sie hinter der Silhouette des Gutsherren, die ihres Vaters auf einem der Pferde erkannte.

Er brauchte nichts zu sagen. Sah aus emotionslosen dunklen Augen zu ihr hinab, die ihren Körper stärker zum Frösteln brachten, als es der Schnee um sie herum je hätte tun können. Ohne es zu bemerken, war sie einen Schritt zurück getreten. Stand nun schräg hinter Rúnar, den sie kaum mehr wahrnahm.

"Wir wurden von Bären überrascht, als wir bei dem Pferd warten wollten."
Rúnar bemerkte nur halb, was für einen vielsagenden Blick Skaðis Vater ihr zuwarf, denn seiner blieb an dem seines Onkels hängen. Bitter und hektisch. "Bären?! Er sah zum Wald rüber, dann wieder auf Rúnar runter -- Rúnar fühlte sich unglaublich klein dabei. "Und Sólfari ist noch im Wald?"

Rúnar nickte, obwohl er wusste, dass Nói die Frage wahrscheinlich für sich selbst beantwortet hatte.

"Ihr geht zurück zum Hof, wir kümmern uns darum", sagte Rúnars Vater und richtete den Gurt des Gewehrs, das er auf der Schulter trug. Er war gerade im Begriff seinen Wallach zu drehen, hielt aber nochmal inne. "Rúnar", sagte er ernst. Rúnar zog den Kopf ein. Sie hatten nichts Verbotenes getan. Es war ein Unfall gewesen. Aber sein Vater sagte, "Ich bin froh, dass es dir gut geht." Er gab ihm ein unscheinbares Lächeln, das Rúnar nur sah, weil er seien Vater kannte. Dann winkte er den beiden anderen Männern, ihm zu folgen.
Sie wollte nicht zurück zum Haus. Wollte in Richtung des Pferdes zurück rennen, um ihr Unheil mit eigenen Augen zu betrachten. Doch selbst ihr war klar, dass es nicht nur unhöflich, sondern angesichts der Worte, die Rúnars Vater an seinen Sohn gerichtet hatte, auch noch unangebracht gewesen wäre. Dennoch hielt sie den Atem an, schluckte, als ihr Vater die Zügel fester in die Hand nahm und seinen finsteren Blick von ihr abzog.
"Lass uns gehen." Flüsterte sie Rúnar zu und zupfte fast schon beiläufig am Zipfel seines Ärmels. Doch ihre Stimme zitterte merklich. Noch mehr, als der Hengst, auf dem ihr Vater saß mit einem Satz voraus sprang und Nói über die kalte Schneedecke in Richtung des Waldes folgte.
"Es tut mir so leid." Es war kaum mehr als ein atemloser Hauch an Worten, den die junge Nordskov in hellen Schleiern ausstieß.
Rúnar starrte den Pferden hinterher. Halb verdeckt vom Schnee, den sie hinter sich aufwirbelten. Er schloss seine Faust fest um Blærs Zügel.
"Mir auch."

Rúnar drehte sich um, als er hinter sich Schneematsch in einem gleichmäßigen Dreitakt hörte. Rúnar drehte sich um -- Jón und Nótt.

Er hielt neben ihnen an. "Was ist los, warum seid ihr nicht im Wald?"

Nein. Warum bist du nicht daheim? "Vater hat gesagt, wir sollen nach Hause gehen." Und er war sich sicher, dass Jón diesen Befehl auch bekommen hat. Das war aber nicht Jóns Frage gewesen. "Da ... war ein Bär." Rúnar biss sich auf die Lippe, aber das hatte seine Tränenn noch nie aufgehalten. "Wir haben Sólfari einfach allein gelassen."
Sie waren keinen Meter weit gekommen, als ein weiteres dumpfes Beben durch die dichte Schneedecke drang. Im selben Moment wie Rúnar erhob sich der dunkle Schopf der Nordskov. Kämpfte das plötzliche Wummern hinter ihren Rippen hinab und seufzte unter den Worten ihres Begleiters.

"Es waren zwei Bären... und wenn wir nicht weggerannt wären..."

Skadi stoppte jäh, als etwas Glitzerndes in dem blassen Gesicht des Jungen ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Und fast aus einem Reflex heraus, berührte sie seine Fingerspitzen. Dann seinen Handrücken, um ihn sanft zu umschließen.
Rúnar gab Skaði ein Lächeln durch zusammengekniffene Lippen und wischte sich mit der freien Hand die Tränen aus dem Gesicht.

Bären? Er dachte, es war nur einer gewesen -- dass derselbe nochmal zurückgekommen war. Wie oft passierte es schon mal, dass sich ein einziger Bär sich nach Andalónia verirrte.

Jón fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, atmete tief ein -- und aus. Er sah kurz in die Ferne, gedankenversunken, dann sagte er: "Hoffentlich erwischen unsere Väter sie, bevor sie noch mehr Schaden anrichten." Er machte eine kurze Pause und sprach dann das aus, was Rúnar schon die ganze Zeit dachte. "Hoffentlich geht es Sólfari gut." Diesmal fuhr er sich mit beiden Händen übers Gesicht. "Oh, Götter, was wenn nicht ...?"
Er weinte. Still und schweigend. Dieser Anblick kam ihr so vertraut vor, dass sie schlucken musste. Hätte sie einfach die Geräusche im Untergrund ein Teil des Waldes sein lassen und auf die Jungs gehört. All das hier war ihre Schuld.
“Wir … wir sollten… wir sollten gehen.“
Den Blick von Rúnar abzuwenden und voller Zuversicht auf Jón zu starren, fiel der jungen Nordskov schwerer, als sie es sich eingestand. Doch es half nichts hier in Tränen auszubrechen und womöglich noch einmal zu riskieren, dass sie hier draußen ein leichtes Ziel für allerlei Gefahren boten.
Noch einmal würde sie den Befehl der Erwachsenen nicht ignorieren. Ganz gleich wie schwer die Auswirkungen in ihren Gliedern festsaß.
“Und zu Hause dafür beten, dass es ihm gut geht.“
Sanft zog sie an Rúnars Hand, ehe sie die dunklen Augen auf dieses blasse Gesicht gleiten ließ und ihm in einem angestrengten Versuch aufmunternd zulächelte.
Als sie auf den Gang zu den Wohnräumen bogen kam Kjartan mit einer Flasche Wein gerade die Kellertreppe hoch.

"Na, ihr? Eure Väter sind eben so schnell--" Seine Augen blieben an Rúnar hängen. Der wischte sich schnell die Tränen aus dem Gesicht. "Was ist denn passiert?"

Kjartan sah zwischen den dreien hin und her. Rúnar schmiss sich in seine Arme, der einen überraschten Laut von sich gab, aber ihn dann -- so gut es ging mit der Weinflasche in der einen Hand -- in die Arme schloss.

Jón blinzelte etwas betreten zu Skaði hinüber.
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#8
Skadi wagte es nicht den Blick zu heben. Ließ von Rúnar ab, kaum dass dieser sich in die Arme des Bediensteten warf und erneut schluchzend in Tränen ausbrach. All das war doch nur ein Traum, oder nicht? All das konnte ihr doch nicht passiert sein. Nicht hier, bei Menschen, die sie nicht kannte. Bei Menschen, die für ihren Vater so verdammt wichtig waren - wofür auch immer.

“Es war alles meine Schuld.“, troff es leise aus dem winzigen Körper, der mehrere Mal schwer schluckte, ehe er unbeirrt fortfuhr. Noch immer den Kopf vor Scham und Selbsthass gesenkt.

“Wir sind ausgeritten. Und als ich einem Fuchs hinterher jagen wollte, hat sich Sólfari erschreckt und ist weggelaufen. Und irgendwie ist er dann eine Böschung runtergefallen und hat sich verletzt. Und als wir ihn holen wollten, sind wir in ein Bärenpaar hineingerannt.“

Skadis Atem wurde schwer, zitterte zum Ende hin. Ihr ganzer Körper wirkte angespannt und aufgewühlt. Mit geballten Fäusten stand sie neben Jón. Hilflos und wütend.

“Es tut mir so leid.“, fügte sie wispernd hinzu und schluckte schwer. “Es ist alles meine Schuld.“
Kjartan täschelte Rúnar die Schulter. So liebevoll es ging, aber doch etwas unbeholfen. Als Skaði anfing zu sprechen, sah er auf und verzog das Gesicht zu einem bemitleidenden Ausdruck.

Jón hob langsam die Hand und berührte leicht Skaðis Schulter, um zu testen, ob sie ihn ließ.
"Ihr dürft mich bestrafen. Egal wie. Ich werde mich auch nicht wehren... oder davon laufen."

Noch ehe Jón ihre Schulter mit seinen Fingern erreichte, huschten die braunen Augen der Nordskov hinauf. Direkt in das alte Gesicht vor sich, das so viel Mitleid in sich trug, dass ihr ganz flau im Magen wurde. Dieser Blick sollte nicht ihr gelten. Nicht derjenigen, die für all das Verantwortung trug. Eher sollte er wutentbrannt zu ihr hinab sehen. Sie anschreien und mit der Rute nach ihr ausholen.
Doch alles was diese Menschen taten, waren weinend und mitgenommen beisammen zu stehen und sich einander... Halt zu geben?

Verwirrt sah Skadi zur Seite, fixierte Jóns Finger und kletterte sichtlich irritiert seinen Arm bis zu seinem Gesicht hinauf. Sie verstand nicht, wieso er das tat. Er müsste sie doch jetzt hassen, oder nicht?

"Es ist okay, wenn du mich jetzt dafür hasst.", flüsterte sie leise. Unter einem Lächeln, das keines war und so schief auf ihren Lippen hing, dass kein Zweifel daran blieb, dass sie vollkommen überfordert war.
"Keiner hasst dich," sagte Jón. "Du hast nichts Schlimmes oder Falsches getan, das war einfach ganz großes Unglück."

Das war es zumindest, was Jón darüber dachte. Was sein Vater dachte war vermutlich etwas anderes. Er würde niemals ein Kind bestrafen, das nicht von seinem eigenen Blut war, aber es war schließlich-- "Außerdem war es meine Idee gewesen reiten zu gehen. Wenn ich das nicht vorgeschlagen hätte, wäre das nie passiert."

Jón biss sich auf die Lippe -- die Tränen stachen ihm in den Augen. Er strich Skaði sanft den Arm hinab. Er hatte das Bedürfnis sie in den Arm zu nehmen. Nicht zuletzt, weil er selbst etwas wollte, woran er sich festhalten konnte. Aber Skaði hörte sich nicht so an, als seien tröstende Umarmungen das, was die Leute, dort wo sie herkam, in solchen Situationen ... verteilten.
Unglück. Damit würde sich ihr Vater wohl nicht milde stimmen lassen. Ganz im Gegenteil. Allein der eisige Blick, den er ihr zugeworfen hatte, ließ sie für einen Sekundenbruchteil hoffen, dass er so schnell nicht zurückkehrte. Nicht vor morgen früh. Am besten erst dann, wenn der Rest der Hauses ausgeflogen war und sie sich kein Kissen aufs Gesicht drücken musste, um ihre Schreie zu dämpfen.

"Dann hat wohl am Ende mein Vater auch Schuld, weil er hier her kommen wollte..."

Diese Kette an Anschuldigungen war doch Blödsinn. Ein Ausritt war eine tolle Idee gewesen. Nicht zuletzt, weil sie noch nie auf dem Rücken eines... Pferdes gesessen hatte. Und bis zu diesem komischen Geräusch im Busch und ihrem Abstieg war immerhin alles gut gewesen. Oder nicht?

"... und du wolltest mir doch nur eine Freude machen, oder? Daran ist nichts falsch."

Etwas unbeholfen schob Skadi ihre Hand in den Ärmel ihres Pullovers zurück, um damit die Tränen aus Jóns Gesicht zu wischen.
Jón musste auflachen als sie ihm die Tränen aus dem Gesicht wischte. Er wollte doch nicht weinen. So oder so nicht und schon gar nicht vor ihr. Und sie hatte ja so recht. Er nickte. Und traute sich, ihre Hand zu umgreifen.

Ein Funken Freude sprang in seiner Brust auf, als er daran dachte -- daran was sein würde, wenn dieser Albtraum vorbei war. Es war niemandes Schuld. Sie waren schon tausend Mal in den Wald geritten, tausend Mal mit Sólfari, tausend Mal ohne einen Erwachsenen, waren tausend Mal Füchsen über den Weg gelaufen. Und sie würden das noch viele tausend Male machen. Er und Skaði.
Er lächelte. Na Gott sei Dank. Das hätte noch mehr Theater gegeben, wenn sie auch noch für Tränen in diesem Haushalt verantwortlich war. Es reichte ihr, dass sie bereits ein Pferd auf dem Gewissen hatte - egal was die anderen sagten und wie sehr sie beteuerten, dass es ein Unfall und nicht ihr Verschulden war.

"Was machen wir..." Diese kleine, wenn auch unbedeutende Berührung seiner Hand, ließ Skadi für einen Moment innehalten. Unsicher, was das bedeutete. Wieso er das tat. Wieso sein Lächeln auf einmal so unfassbar warm aussah. Wie das ihrer Mutter, wenn sie ihr Nachts eine Fabel erzählte, weil sie wieder einmal nicht einschlafen konnte.
"...jetzt?"

Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, in der sie einfach vor ihm stand und blinzelnd zu ihm hinauf sah. Ihn musterte und zu verstehen versuchte, was sich ihr bei seinem Anblick nicht wirklich offenbarte.
Kurz wollte Jón seine Hand wieder wegnehmen, aber er tat es nicht. "Jetzt... warten wir." Er seufzte, aber lächelte und drückte ihre Hand fester.

"Kommt, setzt euch ins Wohnzimmer und ich bringe euch eine heiße Schokolade", sagte Kjartan. Rúnar hatte sich von ihm gelöst und schniefte, die Hände zu Fäusten geballt. Kjartan fuhr ihm über die Haare, in der anderen Hand die Weinflasche.
Warten. Das war nicht das, was sie unbedingt hatte hören wollen. Warten verschlimmerte nur dieses unangenehme Drücken und Kneifen in ihrer Magengegend. Ganz sicher würde sie vor Anspannung irgendwann halbe Krater in den Boden gelaufen haben. Dennoch nickte Skadi, in dem Wissen, dass ihr nichts anderes übrig blieb. Davonlaufen war keine Option. Ohne ihren Vater kam sie nicht mehr nach Hause zurück. Und darauf hoffen, dass hier irgendjemand ihn besänftigen konnte, tat sie nicht. Allein ihrer Mutter war diese besondere Gabe vorbehalten. Sowie ihrer kleinen Schwester, die etliche Seemeilen entfernt irgendwo im Garten herum turnte oder sich von einem ihrer Brüder Matsch ins Gesicht werfen ließ.
Nur langsam senkte die Nordskov ihre Hand, nahm die Jóns unweigerlich mit sich, ehe sie kurz an ihrem Pullover zog und dann die eigenen Finger um seinen Handrücken schloss. Ein komischer Brauch war das.

“Danke.“, waren die einzigen Worte, die sie noch an Kjartan richtete, ehe sie zu Rúnar hinüber sah und die Lippen fest aufeinander presste. Sein Anblick zerfraß sie fast von Innen.
Rúnar hatte sich im Wohnzimmer in den Sessel vor dem Cafétisch gesetzt und Jón bot Skaði gerade an, sich auf das Sofa zu setzen, also Frau Tóta zur Tür herein platzte. "Oh, meine Lieben!" Sie blieb kurz stehen, musterte die Kinder, stürmte dann auf die Sitzgruppe zu und setzte sich auf den Ottomane. "Kjartan ist mir auf dem Weg in die Küche begegnet..." Sie presste die Lippen zusammen und atmete einmal tief ein. Sie schien so außer sich, als wäre sie selbst dabei gewesen. Ihre Finger waren im Stoff ihres Rockes vergraben. "Kann ich etwas für euch tun?" Sie sah zu Skaði. "Etwas für dich, Skadi?"

Rúnar zog die Augenbrauen zusammen. Skadi? Oder hatte sie doch wieder Skaði gesagt?
Mit jedem weiteren Schritt, den sie schweigend durch den Korridor nahmen, klammerte sich Skadi mehr und mehr an dem Jungen fest, der kaum von ihrer Seite wich. Rúnar indes verschwand wie ein Geist hinter der Tür zum Wohnzimmer. Als wären sie nicht da, direkt auf seinen Fersen. Immer wieder sah sie zu ihm hinüber. Unschlüssig darüber, was sich auf seinen Zügen abzeichnete, die ihr augenblicklich so wenig zu sagen hatten.

Mit einem tiefen Atemzug sank der schmale Körper hinab auf das weiche Polster, schüttelte auf die Frage der Älteren Frau hin nur den Kopf und versuchte sich in einem schiefen, wenn auch ungelenken Lächeln.
“Vielen Dank.“
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#9
Frau Tóta machte Anstalten Skaðis Hand zu nehmen - das machte sie immer, wenn sie jemanden trösten wollte; sie nahm jemandes Hand in ihre eine und tätschelte sie liebevoll mit ihrer anderen, während sie einem beruhigende Worte zusprach - aber sie zog ihre Hände wieder zurück.

"Ich denke wir sind in Ordnung," sagte Jón und versuchte überzeugend zu klingen.

Frau Tóta seufzte und legte den Kopf schief. "Na ..." Es klang, als hätte es zu einem zweifelnden Na ja werden sollen, aber sie seufzte nochmal und sagte: "Na gut." Sie stand auf, strich ihren Rock glatt, aber griff abermals angespannt in den Stoff. Sie warf Rúnar einen Blick zu und er nickte, auch, wenn seine geröteten Augen andeuteten, dass er alles andere als in Ordnung war. "Klingelt einfach, wenn ihr mich braucht, ich werde mit Hrafn und Hekla in ihrem Kinderzimmer sein."

Kjartan machte im Türrahmen platz für Frau Tóta und kam dann mit einem Tablett auf dem drei gemusterte Porzellantassen standen auf die Sitzgruppe zu. "Die arme Frau Tóta. Ich hätte ihr besser nichts gesagt. Ich hoffe, sie hat euch nicht noch mehr aufgewühlt." sagte er, als er die Tassen auf den Tisch stellte.

"Morgen weiß es eh die ganze Stadt," sagte Jón. Normal hätte er das in einem amüsierten Ton gesagt, aber diesmal war es emotionslos und abgeschlagen. Und Kjartan hätte gelächelt, weil er wusste, dass es stimmte, weil es immer so war, aber er tat es nicht.

Nói Freyssons gesegnetes Pferd war brutal umgekommen, weil sein Sohn und sein Neffe zu unfähig waren.

Sólfari. Bisher hatte Rúnar nur an Sólfari gedacht. Wenn nicht die Bären sein Todesurteil gewesen waren, dann der Bruch. Rúnar schloss die Augen, ehe die Tränen wieder flossen. Aber für Sólfari war alles nur sehr kurz und sehr schmerzhaft gewesen. Und jetzt war es wahrscheinlich schon vorbei. Nói hingegen ... wie wütend würde er sein, wie traurig, wie viel Unglück malte er sich aus? Und wie lange würde es anhalten?
Hatte sie die ganze Zeit ruhig neben den anderen gesessen und war allmählich eins mit der Stille und dem Polster geworden, auf dem sie saß, weiteten sich die Augen der Nordskov voller Schrecken bei Jóns Worten. Wenn die halbe Stadt davon erfuhr, dann vielleicht auch die ganze Insel. Ihr Vater würde derart zornig werden, dass der erste Gedanken, der in ihrem Kopf daraufhin aufblitzte, all zu verlockend war. Lieber erfror sie draußen in dieser hellen, weißen Kälte, als sich dem Zorn ihres Vaters zu stellen. Und dem, was damit einher ging.

"Ich..." Wie von selbst hatte sich der schmale Körper erhoben. Von etwas Unsichtbarem aufgescheucht, das gleichwohl Rúnar heimsuchte. Skadi hatte dafür allerdings keinen Blick mehr, sah noch immer gehetzt vom Boden zu Kjartan hinauf und schob sich die Hände beinahe fröstelnd über die Ellenbogen.
"... ich bin gleich wieder da."

Und schon floh die junge Nordskov aus dem Raum heraus. Stolperte über den Flur und stapfte fast blind durch das Anwesen, das so weit von der Heimat, der Wärme und ihrer Mutter war.
Rúnar hatte nicht mehr genug Nerven beisammen. Er saß nur da und sah zu, wie Skaði den Raum verließ. Starrte auf den leeren Türrahmen. Dann verließ Jón den Raum. Oder er war zumindest dabei -- er hielt im Türrahmen an und dreht sich um, hob die Schultern. "Kommst du?"

Rúnar blinzelte. "Ich?" Seine Stimme war noch etwas belegt.

"Ja, du! Rumsitzen macht nichts besser."

Aber ich kann nicht mehr. Er stellte seine halb leere Kakaotasse auf den Tisch und stand auf. Zögerte noch einen Moment -- und folgte Jón. Als Rúnar auf Jóns Höhe war tätschelte dieser ihm kurz die Schulter, dann lief er los.

Rúnar versuchte Schritt zu halten. Er konnte wirklich nicht mehr. Die mentale Anstrengung hatte ihm mindestens genau so viel abgerungen wie die körperliche.

"Skadi!" rief Jón.
Die erste Wand gegen die sie krachte, brachte sie fast zu fall. Wie angeschossen stand die junge Nordskov auf einer Kreuzung von Wegen und wusste nicht recht, wo sie hin sollte. Hinter sich hörte sie Jóns Stimme, die erst jemand anderem, dann ihr galt. Darauffolgend Schritte, die immer näher kamen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Mit solcher Kraft, dass sie sich immer wieder zu räuspern versuchte und doch am Ende nur noch panisch nach Luft rang. Wie ein aufgescheuchtes Reh sprang sie zur Seite, hetzte den Gang hinab und verfehlte mit nach hinten gerichteten Augen die ersten Treppenstufen vor sich. Rumpelnd segelte der schmale Körper die Stufen hinab und lag fluchend und zusammengekrümmt am Fuße der Treppe. Mit aufgeschürftem Knie und Ellenbogen. Kinn und Handrücken gleichfalls ramponiert. Das war einfach nicht ihr Tag.
Rúnar hätte das Krachen durch Jóns Rufe fast nicht gehört, aber gerade als Skaðis Name abgeklungen war, hörte er etwas. Im ersten Moment dachte er, es seien die Tritte eines Pferdes gegen eine Boxenwand gewesen, aber die Ställe waren außer Hörweite und die Pferde waren auf der Weide. Es war von der Treppe gekommen.

O-oh.

Rúnar zupfte Jón am Ärmel und ging Richtung Treppe.

"Huh?" machte Jón. Aber er verstand sofort. Er war schneller bei beim Treppenabsatz als Rúnar und Rúnar sah, wie Jóns ganzer Körper sich anspannte. "Oh, Götter."

Jón hastete die Treppe runter. Rúnar traute sich gar nicht hinzusehen, aber als er es tat, sah es weniger schlimm aus, als er es sich ausgemalt hatte.
Mit einem tiefen Atemzug versuchte sich Skadi aufzurichten und presste die Lippen aufeinander. Dass Jón bereits die Treppe hinab rannte, war ihr nun gänzlich egal. Der Schmerz, der sich durch ihren Körper zog, lenkte jegliche Aufmerksamkeit auf sich. Ohnehin war es jetzt zu spät weiter davon zu laufen.

"Alles... alles gut." Wenig überzeugend hob sich ihre Hand einige Zentimeter empor. Ihre Schulter zog. Entlockte ihr ein schweres Seufzen.
"Ja, ist klar", sagte Jón. Er war schon bei ihr, machte Anstalten ihr aufzuhelfen, seine Arme ausgestreckt, bereit sie hochzuziehen, falls sie das wollte.

Rúnar war noch nicht ganz unten -- und hörte ein paar schwere, hektische Schritte aus dem Flur. Sein Herz begann sofort zu rasen. Ihre Väter...
Niedergeschlagen und mit mattem Ausdruck auf den Zügen griff Skadi nach Jóns Händen. Zu sehr damit beschäftigt den Kloß in ihrem Hals und den Stein auf ihrer Brust zu entfernen. Und nur ein Blick über die Schulter und an dem dunklen Haar vorbei in Richtung Treppe verriet, dass es Rúnar ähnlich erging.

“Können wir uns irgendwo verstecken? Nur für eine Weile?“

Fast flehend huschten die braunen Augen zurück in ihre Winkel. Musterten den jungen Mann, dessen Hände sie auch dann nicht los ließ, als ihre Füße festen Boden unter sich spürten.
Jón und Skaði hielten sich fest, als hinge ihr Leben davon ab. Rúnar tat dasselbe mit dem Treppengeländer. Er fühlte sich auch so, als hinge sein Leben davon ab. Als würde er in Ohnmacht fallen, wenn er sich nicht an irgendwas klammerte, das ihn Aufrecht hielt.

Jón sagte: "Ich würde mich gerne für den Rest meines Lebens verstecken." Es war ein Scherz gewesen, aber das verständnisvolle Lächeln und das Nicken das er Skaði gab waren ernst.
“Rúnar?“

Skadi war Jón nur wenige Schritte gefolgt, kaum dass er ob ihres zustimmendes Nickens den Gang hinab lief. Sah sich zu dem Weißhaarigen um, der noch immer an der Treppe stand, als habe er sich keinen Millimeter bewegt. Das Poltern in ihrem Rücken schien nun so nah, dass selbst sie es nicht mehr unter dem starken Herzschlag überhören konnte.
Einem Reflex folgend löste sich die Nordskov von dem Jungen neben sich. Schritt auf Rúnar zu, der wie eingefroren am Geländer der Treppe festhing.

“Sie werden uns nicht finden, wenn wir es nicht wollen.“, flüsterte sie ihm zu. Berührte seinen Handrücken nur weniger Sekunden mit ausgestreckten Fingern.
“Du bist nicht allein.“

Weder in diesem Haus, noch in der Mensch gewordenen Angst, die ihn so starr und bewegungslos machte. Skadi konnte sich an allen Fingern abzählen, was auf sie wartete, sobald sie mit ihrem Vater allein war. Womöglich erging es Rúnar nicht anders- die Nordskov glaubte sogar fest daran. Sie kannte es nicht anders.
Rúnar schnappte aus seiner Starre heraus, als Skaðis Finger seinen Handrücken berührten. Reflexartig nahm er ihre Hand. Etwas Lebendes, an dem er sich festhalten konnte. Als würde man sich die Angst teilen, obwohl man genau so viel Angst hatte, wie die andere Person.

Er gab Skaði ein schiefes Lächeln, ein Nicken.

"Jón!" Onkel Nóis Stimme von oben. "Rúnar!" Rúnar konnte seine Tonlage nicht richtig deuten. Er klang nicht wirklich wütend. Aber irgendwie doch.

Jón zuckte fast unmerklich zusammen. Sein Blick schnellte nach oben, zum Treppenanfang, dann wieder zurück zu Skaði und Rúnar. Er winkte den beiden, ihm zu folgen. "Der Weinkeller."


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