23.06.2019, 01:05
Über den Becherrand hinweg beobachtete Sylas Lucien aufmerksam und war zugegeben gespannt, wie er auf die, doch ein klein wenig provozierenden Worte, reagieren würde. Gewiss war es nicht besonders nett den Captain eines Schiffes mit einer Landratte zu vergleichen, aber wenn er überlegte, was er sich so am Anfang hatte anhören dürfen, dann waren seine Worte gerade eben noch schmeichelhaft gewesen. Er war da wesentlich rauere Töne gewohnt und vermutlich war auch das der Grund, warum so vieles einfach an ihm abprallte.
„Moment!“, rief Sylas aus, gefolgt von einem tiefen und rauen Lachen. „Von aussuchen war nie die Rede gewesen. Helfen ja, aber aussuchen? Vergiss es!“
Sylas schüttelte den Kopf, schenkte sich aus der Rumflasche nach und lehnte sich, den Becher in der Hand in seinem Stuhl zurück. Aber nicht nur das, sondern er sank in diesem ein Stückchen tiefer und um das auszugleichen legte er seine Beine über die Ecke des Tisches. Wobei Beine wohl etwas übertrieben wäre, so waren es doch gerade einmal die Fesseln, welche die Oberfläche des Tisches berührten.
„Heiraten ist einfach nur eine andere Form von Gefangenschaft und ich will nicht derjenige sein, der dir die Fesseln anlegt“, kam es über Sylas Lippen und sein Blick bekam für einen kurzen Moment einen nachdenklichen Ausdruck. Ganz so, als wäre er für diesen kurzen Moment an einem vollkommen anderen Ort. Unterstrichen wurde dieser Ausdruck wohl auch durch das leichte Streichen seiner Finger über seine linke Brust. Niemand konnte es sehen, aber er konnte es durch den Stoff des Hemdes spüren. Er wusste, dass es da war.
„Kein Mensch sollte ein Leben in irgendwelchen Fesseln verbringen“, sprach er dann weiter und der Ausdruck in seinen Augen verschwand. „Abgesehen davon“, er nahm einen Schluck aus dem Becher und musterte Lucien ziemlich deutlich. „Würdest du glaube ich auch keinen guten Ehemann abgeben. Ich sehe Veranlagungen mal ein guter Captain zu werden, wenn auch das noch eine Ecke dauern wird, aber Veranlagungen für einen Ehemann? Jemand der an einem Ort verbleibt, die Felder bestellt und seinen ehelichen und unehelichen Pflichten nachkommt? Also um das zu sehen muss ich wohl noch mindestens eine Flasche von dem Zeugs hier vernichten.“
Er hatte Lucien in den letzten Tagen ausführlich beobachtet und im Auge behalten, so wie er jeden auf dem Schiff im Auge behalten hatte. Eine Angewohnheit von ihm, die ihm nicht nur einmal das Leben gerettet hatte. Eine gesunde Portion Misstrauen konnte einen nämlich vor so manch böser Überraschung bewahren und wenn er sich überlegte, wie er sich Zugang zum Schiff und letzten Endes zur Crew verschafft hatte, war Misstrauen alles, nur nicht unangebracht. Ja, Lucien hatte die notwendigen Veranlagung, die man zu einem Captain brauchte. Die Basis war also durchaus vorhanden, doch es gab noch so einiges, das er zu lernen hatte. Aber wer erwartete auch schon von so einem jungen Mann alles zu wissen? Nicht einmal er tat das und es hätte ihn wohl viel mehr verwundert, wenn es anders gewesen wäre.
„Oder denkst du, dass unser Captain hier einen guten und braven Ehemann abgeben würde“, fragte Sylas und richtete seinen Blick zu Enrique. Konnte doch sein, dass der eine ganz andere Meinung zu diesem Thema hatte.
[Im Wirtshaus | mit Enrique und Lucien an einem Tisch]