05.04.2020, 16:14
Sie hatte auf seine Frage hin nur schwach genickt, ihn dann seinen eigenen Gedanken überlassen und den Szenarien, die sie sich ausmalten. Doch Lucien hatte den Drang, weiter nachzubohren, mühsamst unterdrückt. Die Sache mit einem leisen, aber doch tiefen Ausstoßen der Luft auf sich beruhen lassen, das durchaus verriet, wie schwer ihm diese Entscheidung fiel. Vorerst. Ganz sicher nicht für immer. Aber wie schon gesagt: Erst einmal sollten sie von der Straße runter und er verbot seinem Verstand mit aller Macht, Shanayas Andeutung weiter zu spinnen. Ihr eigener Bruder.
Er presste die Kiefer fest aufeinander, reagierte im nächsten Moment sichtbar, aber doch positiv überrascht, dass die Schwarzhaarige seinem vorsichtigen Versuch, aufzustehen, tatsächlich folgte. Ihren leicht schwankenden Körper zu stützen, lenkte ihn zumindest weit genug ab, um sich ganz auf sie zu konzentrieren – nicht darauf, was ihr möglicherweise zugestoßen war. Sie krallte sich nach wie vor Halt suchend in den Ärmel seines Hemdes, bedeckte mit der anderen Hand notdürftig ihre Bluse. Doch im Gegensatz zu jeder anderen sich bietenden Gelegenheit ruhten die tiefgrünen Augen nun gänzlich aufmerksam auf ihren Zügen und als sie ihre Stimme wieder fand, konnte er nicht anders, als flüchtig zu lächeln. Weder amüsiert, noch auf irgendeine Art abfällig. Sondern auf eine Weise sanft, die eine Frau bei ihm sonst vergeblich suchte.
Er schien zu ahnen, was in ihr vor ging.
„Nicht weit von hier ist eine dieser üblen Hafenspelunken. Bestimmt nicht der gemütlichste Ort, aber genauso gut wie jeder andere.“
Noch einmal und ebenso sacht wie zuvor, strich er Shanaya eine Haarsträhne aus dem Gesicht und zog sie aus der Bewegung heraus näher an sich heran. Weniger, um sie zu beruhigen, als vielmehr um ihren Körper gegen die belebtere Hauptstraße abzuschirmen, über die auch er selbst bis hier her gekommen war.
Selten hatte er sich so sehr einen Mantel herbei gewünscht, wie in diesem Moment. Irgendetwas, um sie zu bedecken und vor neugierigen Blicken zu verbergen. Sein eigenes Hemd konnte er dafür schwerlich hergeben. Mit nacktem Oberkörper zog er mehr Aufmerksamkeit auf sich, als wenn sie beide Arm in Arm durch die Seitengassen „turtelten“. Und in der schummrigen Dunkelheit einer Hafenkneipe sah wahrscheinlich ohnehin niemand genauer hin.
„Wir gehen durch die Seitenstraßen. Komm mit.“
Sanft aber bestimmt setzte Lucien sich in Bewegung, zog die junge Frau vorsichtig mit. Allerdings nicht zurück auf die Straße, die ihn hier her geführt hatte, sondern durch die schmalen Gassen, durch die Shanaya selbst vor vielleicht einer Stunde gekommen war. Zurück hinein in das Viertel aus Lagerhäusern und Spelunken.