Trevor und Gregory | an Mîluis zerklüftete Küste | 04. April 1822, nachmittags
Was ist ein Brief – ein Stück Papier, das man zerreißt, zerknittert,
aber auch als Schatz bewahrt, vergilbt schon und verwittert.
- Unbekannt
Es war ein leichtes gewesen, sich von Trevor bis zum Strand ziehen zu lassen, sich an seiner Freude zu erheitern und es so immer noch ein bisschen weiter hinauszögern. Doch dann erinnerte der Anblick der Mastspitzen der Sphinx den Schiffsarzt daran, dass er es jetzt tun musste.
Er hielt nicht an, sondern lenkte seine Schritte einfach zu einem kleinen Küstenstieg, den ihm ein Fischer gestern gezeigt hatte, damit er dort ein gebrochenes Bein versorgte. Scherzend lenkte er Trevor davon ab, dass das nicht der eigentliche Weg zu ihrem Schiff war, ließ immer wieder den Brief hochkommen oder den Schuhwurf oder hielt seinen Bruder einfach bei dessen Ideen, bis sie endlich den Grund der Bucht erreicht hatten, der jetzt, in der Nachmittagshitze verlassen da lag. Träge schwappten kleine Wellen an den Strand und die auf Sand gesetzten Fischerboote, Möven kreischten in den Klippen über ihnen und kaum ein Windhauch verirrte sich hierher. Ein kleines Stück den Strand hinauf lag einen Nische zwischen den hohen Steine, die sowohl eine Sitzplatz, als auch Schatten bot. Tief holte er Luft, dann setzte er den jüngeren Scovell dort ab und unterbrach damit etwas rüde dessen fröhliches geplapper.
"Ich muss mit dir reden."
Mehr sagte Gregory zunächst allerdings nicht, sondern sah Trevor eindringlich an, so wie er es nur dann tat, wenn es etwas wirklich ernstes zu besprechen galt und wartete ab, bis das bei seinem Bruder auch angekommen war.
„Also es gibt Rettungsmissionen, Entdeckungsmissionen, Schatzsuch– uff.“
Trevor lies sich bereitwillig auf den Stein plumpsen, auf den Gregory ihn manövrierte. Hey, jetzt musste er sich nicht mehr abstützen! Das hieß, er hatte die zweite Hand frei, um die Finger an seiner anderen abzuzählen! Vorher hatte er sich dafür ziemlich verrenken müssen.
„–missionen“, setzte er eifrig fort und tippte seinen Ringfinger an, „Missionierungsmissionen, das Wort mag ich, Aufklärungsmissionen – wobei ich nicht genau weiß, was das ist, vielleicht hat es irgendwas mit Wetter zu tun oder mit Aufräumen, weißt du das? Aber nee, das wäre ja voll langweilig, sie gehen doch nicht auf eine langweilige Mission, niemand macht das und sie schon gar nicht, hey, vielleicht haben sie uns deshalb nichts gesagt, weil es ihnen peinlich ist?“
Er hielt einen Moment inne, die Stirn gerunzelt und den Blick konzentriert auf seine zerkratzten Finger gerichtet, bis er schließlich energisch den Kopf schüttelte.
„Nein, das ist ein doofer Grund. Ich glaube, es ist eine Schatzsuch–“
Strahlend sah er zu seinem Bruder auf und stutzte abrupt. Greg hatte sein Achtung-super-ernstes-Gespräch-voraus-Gesicht aufgesetzt. Das fand Trevor ein bisschen komisch, schließlich führten sie gerade schon ein wichtiges Gespräch. Rasch blickte er nach links und rechts und über die Schulter rüber aufs Meer, aber da war nichts, und er konnte auch noch mit den Zehen am verletzten Fuß wackeln, also war der nicht auf dem Weg hierher irgendwo abgefallen und verloren gegangen.
„Was?“, fragte also, legte den Kopf schief und grinste.
Innerlich seufzte Gregory tief. Er wusste nicht auf was für einer Mission Aranne und Daniel waren. Auch hätte er jetzt stundenlang Trevor erklären können, was das für Missionen wären und warum sie in Frage kämen oder auch nicht. Die Vorstellung das zu tun und das andere Thema fallen, die Beweise verschwinden zu lassen und nie darüber zu reden war äußerst verlockend. Aber den Brief vernichten? 'Nein.'
Das konnte er nicht. Das wäre schlimmer als Lügen. Und selbst wenn er einfach nur dazu schwieg oder ihn den Brief irgendwann finden ließe (Ihn wunderte immer noch, dass das nicht schon längst geschehen war, wo Trevor doch normalerweise seine Nase nicht aus interessanten Dingen heraushalten konnte. Hatte der etwa wirklich nie gesehen, wie er ihn hastig verbarg?), er wusste, das Unausgesprochene würde ihn mit der Zeit zermürben. So gesehen hatte er eh schon zu lange gewartet.
Jetzt seufzte er vernehmlich.
"Ich muss dir was gestehen."
Wie sehr ihn das aufwühlte konnte der Jüngere daran erkennen, dass sein Bruder sich unruhig bewegte und es tatsächlich mal nicht schaffte, ihm in die Augen zu schauen.
"Ich—
"Ich habe dir etwas verschwiegen. Ich dachte, ich hätte gute Gründe. Ellhan war der selben Meinung.
"Aber jetzt?"
Hart presste der Schiffsarzt die Lippen aufeinander und zwang sich zum Stehen bleiben und Trevor direkt anzusehen. Er musste da durch, sich dessen Reaktion stellen — und im schlimmsten Fall dessen Zorn ertragen.
"Jetzt wirkt das alles auf einmal bedeutungslos. Auch deshalb muss ich es dir sagen."
Noch einmal holte er tief Luft und schloss für einen Moment die Augen, wandte den Blick aber nicht ab, sondern beobachtete die Reaktion seines Bruders, die jetzt kommen würde, genau.
Dieses Loch in seinem Hemd eignete sich perfekt für Momente, in denen er eigentlich konzentriert bei irgendetwas zuhören sollte. Man konnte seinen Finger da durchschieben, nein, jetzt sogar schon zwei, und an diesem losen Faden hier ziehen – vermutlich existierte es sogar nur deshalb, weil Trevor grundsätzlich nicht fähig war, sich auf nur eine Sache zu fokussieren. Er betrachtete das als ein Talent.
Bei Gregs ersten Worten jedoch lies er das Hemd los. Stattdessen rückte er sich auf seinem Stein zurecht, legte die Hände in den Schoß und beobachtete die unruhigen Bewegungen seines Bruders mit gerunzelter Stirn. Das belustigte Grinsen jedoch wich nicht von seinem Gesicht. Was immer ihm Greg da beichten wollte, so schlimm konnte es nicht sein. Schon gar nicht heute, heute war ein guter Tag. Okay, eigentlich waren alle Tage gute Tage, aber manche waren eben besser. Greg machte sich bloß zu viele Gedanken, das machte er immer. Bestimmt auch irgendwie ein Talent.
Mit einer halb aufmunternden, halb ungeduldigen Handbewegung bedeutete er ihm, jetzt endlich damit herauszurücken – und die Hand blieb in der Luft hängen. Noch ein Brief?
„Noch ein Brief?“, sagte er dann auch laut und wusste selbst nicht, was für einen Gesichtsausdruck er dabei hatte. Verwirrung vielleicht, Verwirrung passte immer gut zu undefinierbaren Gesichtsausdrücken oder undefinierbare Gesichtsausdrücke gut zu Verwirrung.
„Von Aranne und Daniel? Aber … das ist doch gut?!“
Der undefinierbar verwirrte Gesichtsausdruck verwandelte sich plötzlich in ein Strahlen.
„Nein, nicht gut – das ist grandios! Das ist doppelt so viel wie wir in den letzten fünf Jahren hatten und das an einem Tag! Wo hast ihn du ihn gesehen?! Bei Lissa?! Das macht nichts, wir laufen einfach zurück! Ich pack das, falls du dir deswegen Sorgen gemacht hast, der Fuß tut schon gar nicht mehr weh!“
Begeistert sprang er auf, stolperte fast, fing sich wieder und drehte sich um sich selbst, um auszumachen, von wo sie noch gleich gekommen waren. Er hatte Greg einfach zu schnell aus Lissas Zelt gezerrt, verdammt! Denn wenn sein Bruder den Brief schon dabei gehabt hätte, hätte er ihm bestimmt schon unterwegs davon erzählt. Schließlich waren sie eeeewig hierher marschiert! Nur wie Ellhan in die ganze Sache passen wollte, erschloss sich ihm nicht so ganz. Aber das konnte Greg ihm ja unterwegs erläutern.
Mehr konnte er auf Trevors Fragen nicht antworten, ehe dessen Begeisterung überhand nahm.
Ungewollt machte er einen Schritt zurück, als der Wirrkopf aufsprang, dann hatte er tatsächlich für einen Moment genug von den Eskapaden seines Bruder und dessen vorschnellen Schlüssen. Kurzerhand packte er ihn, drückte ihn zurück auf den Stein und funkelte ihn fast schon wütend an.
"Du kapierst es nicht!
"Ich habe ihn schon eine ganze Weile.
"Ich habe dir nichts gesagt, weil er nicht so positiv ist wie der Neue und die Umstände, wie er gefunden wurde, nahelegten, dass Daniel und Aranne so tot sind wie die Leiche, in deren Nähe er lag.
"Und...
"Und es ist—"
Weiter kam er im ersten Moment nicht, hatte er diesen Punkt doch bis jetzt absichtlich aus seinem Kopf verbannt. Und wie jedesmal, wenn er diese Wahrheit zuließ und das Papier nicht Brief nannte, musste er gegen die aufsteigende Verzweiflung ankämpfen. So auch jetzt, wo der Schiffsarzt sich zum Glück schwer auf Trevors Schulter stützen konnte. Und dieses Mal versteckte er sie auch nicht, sondern barg das Gesicht in seiner Hand.
"Es — es ist eigentlich auch kein Brief.
Es — es ist eine Seite aus Daniels Tagebuch und du weißt wie heilig ihm die sind!"
Er stieß sich vom Jüngeren ab und stapfte ein paar Schritte vor ihm hin und her, während er die Hände rang ehe er noch etwas anfügte:
"Mir ist bis heute kein Grund eingefallen, warum er sie hätte herausreißen sollen, verstehst du?!?
"Und auch Ellhan meinten, dass es vielleicht besser wäre, es dir deswegen nicht zu sagen, gerade weil der Text keinen Hinweis enthält, außer diesen tödlich-wasserlosen Ort von dem keiner eine Ahnung hatte, wo der überhaupt ist.
"Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht dir zu sagen, dass Alles daraufhindeutet, dass sie an diesem gottverdammten Ort verdurstet sind!
"Goddess! Auf Grund dieses verqueren Datums könnte Arannes Brief immer noch vorher geschrieben worden sein, auch wenn es hoffentlich andersherum ist!"
Im einen Moment war er noch voller Euphorie, im nächsten packte Greg ihn plötzlich und verfrachtete ihn mit einem Ruck zurück auf den Stein. Ein glühender Schmerz schoss von Trevors Knöchel hinauf bis zur Hüfte, verschlug ihm einen Moment den Atem, aber sein Bruder schien das nicht zu bemerken. Halb sauer, halb perplex starrte Trevor zu ihm hinauf. Sofort wich der Zorn gänzlich der Verwirrung und irgendetwas, das Trevor nicht einordnen konnte oder wollte, das ihn aber eiskalt packte. Dieses Funkeln – sein Bruder war wütend. Was zum Henker kapierte er nicht, was hatte er diesmal verbockt?
Was.
Eine Weile. So tot wie die Leiche. Leiche? Am Rande registrierte Trevor, dass ihm die Kinnlade heruntergeklappt war. Sein Atem ging flach, seine Hände zitterten, nein, zitterten seine Hände?! Er presste sie zu beiden Seiten auf die raue Oberfläche des Steins, doch sie waren taub bis auf einen entfernten, dumpfen Schmerz. Welche Leiche? Vor seinem innerem Auge flogen die Gesichter aller Toten der letzten Stunden, Tage, Wochen vorbei. Einer der Wachmänner am Juwelierstand? Jemand von der Morgenwind? Aus dem Kontor? Oder … weiter zurück?
Stumm beobachtete er, wie die Wut in den Augen seines Bruders sich zu etwas anderem wandelte. Verzweiflung. Oh, er hasste diesen Ausdruck. Als Greg das Gesicht in seiner Hand verbarg, war es sein erster Impuls, aufzuspringen und ihn in den Arm zu nehmen, denn was auch immer es auch war, sie konnten doch zusammen– Nein. Nicht zusammen. Trevor holte tief Luft und kämpfte den Gedanken nieder. Er hatte bei der ganzen Sache nichts zu sagen, das zumindest hatte Greg inzwischen deutlich genug gemacht. Nicht mal jetzt konnte er für verdammte fünf Minuten die Klappe halten, damit Trevor halbwegs seine Gedanken ordnen konnte. Stattdessen stieß er sich von ihm ab und hätte ihn damit vermutlich auch noch vom Stein geworfen, wäre nicht inzwischen jeder Muskel in Trevors Körper angespannt.
Und Greg lief vor ihm hin und her und jonglierte mit Entschuldigungen und Theorien und Ausreden und Trevors linke Hand ballte sich zur Faust, seine Fingernägel bohrten sich in die Handfläche und den Schmerz merkte er deutlich. Oh nein, er hatte nichts verbockt.
„Ja, verstehe ich“, sagte er sehr leise, nachdem Gregory endlich seinen Monolog beendet hatte. Im nächsten Moment schnellte er von dem Stein, packte seinen Bruder und rammte ihn rücklings gegen einen aufragenden Felsen, seine rechte Hand krallte sich in seine Schulter, der linke Arm drückte ihm die Kehle zu, sein Gesicht nur Zentimeter von Gregorys entfernt.
„Was ich nicht verstehe ist, warum bei der verfluchten achten Welt du glaubst, du seist der Einzige, der sich ‚Gründe einfallen‘ lassen darf.“
Er spuckte ihm die Worte geradezu ins Gesicht. Alles in ihm brodelte in einem widerlichen Gemenge aus Wut, Verachtung und grenzenloser Enttäuschung.
„Niemand gibt dir das Recht dazu!“ Er lockerte den Druck seines Armes, nur, um Gregory erneut gegen den Felsen stoßen zu können. „Kein Captain! Keine Göttin! NIEMAND!“ Jetzt schrie er doch. „Und komm mir nicht mit deinem armen, zerbrechlichen Herzlein, du warst zu feige, das ist alles! Du verdammter egoistischer FEIGLING!“
Er stieß ihn noch ein letztes Mal gegen den Stein, dann lies er abrupt von ihm ab. Trat einen Schritt zurück und wandte sich halb ab, um sich das verheulte Gesicht zu wischen. Sein Atem ging heftig und seine Hände und sein Knöchel brannten. Die Schnitte in der linken Handfläche waren aufgeplatzt, schon wieder. Trevor fluchte laut, ballte sie zur Faust, wirbelte herum und versetzte Gregory einen heftigen Schlag gegen das Kinn, die Nase, irgendetwas im Gesicht jedenfalls, seine Sicht verschwamm unter den Tränen.
„Seit wann, Greg?! Und belüg mich nicht, verdammt noch mal, wie viel Zeit haben wir verschwendet?! Sie könnten tot sein, ja! INZWISCHEN! Und es ist DEINE SCHULD!“
Gregory spürte, wie er gepackt wurde und wehrte sich nicht. Er zog lediglich den Kopf zwischen die Schultern, was gut so war, da krachte er nämlich auch schon rücklings gegen etwas hartes und bekam keine Luft. Fahrig griff er nach Trevors Arm, der ihm selbige abdrückte, doch selbst diese, von Instinkten gesteuerte Gegenwehr kam nur halbherzig.
Innerlich fluchend stellte er sich der Tatsache, dass er es mehr als gründlich verbockt hatte. Wenn sein Bruder ihm jetzt nicht mehr vertraute, ihn nicht mehr an seiner Seite haben wollte, dann war das sein gutes Recht. Damit würde er jetzt wohl leben müssen. Falls der ihn leben ließe.
Doch auch das half ihm nicht bei einer Strategie. Feigling
Ja, genau das war er gewesen. Ein Feigling, blind und dumm. All das hatte er sich schon auf dem Weg hierher selbst an den Kopf geschmissen.
Dann hörten Trevors Angriffe plötzlich auf. Benommen rang er um atmen. Er wollte etwas sagen, doch er konnte nur Husten. Halb streckte er eine Hand vor, eine bitte um eine Pause, eine Gelegenheit zum Reden.
Doch was er bekam, war ein Schlag ins Gesicht, der ihn seitlich zu Boden warf.
Hustend und stöhnend musste er sich erst einmal neu orientieren, während Trevors Worte ihn weit schlimmer trafen, als weitere Schläge es gekonnt hätte.
"Du hast recht", brachte er schließlich erstickt hervor. "Ich bin ein verachtenswerter Feigling."
Noch einmal musste er sich räuspern, ehe er Trevor vernünftig antworten konnte. Und er wusste, er musste jetzt ein paar Informationen einstreuen, denn auch wenn sie fast ein Fünftel der verstrichenen Zeit bereits auf der Sphinx weilte und ein paar Monate auf See nichts waren, so würde es für Trevor doch wie eine Ewigkeit klingen. Mühsam stemmte er sich in eine Sitzende Position.
"Ich dachte ich würde dich schützen aber ich hatte wohl einfach nur zu viel Angst davor, wie du reagieren könntest. Dass auch du sagst: 'Ja, sie sind tot.'
"Ellhan gab mir sein Wort, jeden anzuschreiben, der irgendetwas über diesen Ort wissen könnte und auch ich habe gefragt, wen ich konnte. Seltene Legenden sprechen von Orten, die aus Sand und Stein bestehen. Von giftigen oder feuerspeienden Monstern, alles verschlingenden Sandflächen, tödlichen Bildern in der Luft und brennenden Sümpfen. Aber wo? Wo diese Orte seien sollen? Das scheint keiner zu wissen."
Kurz konzentrierte er sich darauf, Luft zu holen. Dann schob er sich am Felsen hinauf und machte sich bereit für weitere Einschläge. Denn viel länger durfte er Trevors Geduld nicht auf die Probe stellen.
"Fünf. Ellhan gab mir den Brief vor fünf Monaten."
Er wandte sich abrupt ab. Oh, selbstverständlich, als würde sich das je ändern: Er schlug zu und Greg landete in einer Pfütze seines eigenen Selbstmitleids. Trevor hasste es, mit ihm zu streiten.
„Ja“, schnaubte er und starrte den Stein vor sich an, als würde der davon in Stücke springen, „weil ich ja so pessimistisch bin. Ich hätte mich bestimmt direkt über Bord geworfen.“
Er wandte sich kurz zu seinem Bruder um und legte die Hände theatralisch auf die Brust.
„Wie gut, dass du mich davor bewahrt hast.“
Was für ein Schwachsinn! Erwartete Greg wirklich, dass er ihm das abkaufte?! Aber das schien ihn gar nicht zu interessieren, anstatt Trevors Frage zu beantworten, schwafelte er nur weiter seine Rechtfertigungen vor sich hin. Trevor stöhnte auf, verschränkte die Arme, entschränkte sie wieder, zerrte an dem Loch in seinem Hemd, stapfte ein paar Schritte hin und her, ihm war nach Rennen zumute, aber sein Knöchel nervte ihn, verflucht war das ätzend, warum konnte er sich nicht ein einziges Mal nur auf eine Sache, auf Greg konzentrieren?! In seinem Kopf drehte sich alles. Außerdem war der blöde Stein immer noch nicht explodiert, eine Explosion wäre jetzt wirklich passend gewesen.
Da, endlich, Greg kam zum Punkt, nachdem er sich an seinem Felsen hochgehievt hatte, als hätte Trevor ihm jeden Kochen einzeln zermalmt. So eine Mimose. Fehlte nur noch, dass er anfing zu weinen.
„Okay, okay, hör auf zu schwafeln, ja?! Du hattest –“ Er hielt inne, um zu verarbeiten, was Gregory da gerade gesagt hatte. Die Hände, die er zum wütendem Gestikulieren erhoben hatte, sanken plötzlich kraftlos herab. „– du hattest fünf Monate dafür Zeit.“
Er starrte seinen Bruder ungläubig an.
„Fü– fünf Monate?! Fünf Monate?! Greg, das ist – das ist fast ein halbes Jahr!“ Für einen Moment war er nicht einmal mehr sauer, sondern, ja, was? Überrascht? Nein. Erschrocken – erschüttert. „Du hast es heute Morgen gewusst.“ Er erinnerte sich, wie euphorisch er beim Frühstück gewesen war, weil sie heute auf das Fest gehen würden. „Du hast es gestern gewusst – vorgestern – letzte Woche – letzten Monat. Du hast es gewusst und nichts gesagt, als du fast abgekratzt wärst wegen dieser hässlichen Wunde. Als wir auf die Sphinx gewechselt sind, weil wir mit der Sirène nichts –“
Er stockte, hob die Hände, lies sie wieder fallen.
„Sogar an meinem Geburtstag, Greg? An meinem Geburtstag. Und davor –“
Er brach endgültig ab. Starrte auf den blutigen Sand zu seinen Füßen, schloss alles aus, was Greg an Entschuldigungen und weiteren Ausreden hervorblubberte, wenn er das denn tat. Plötzlich lachte er bitter auf.
„Und du willst mir erzählen, dass du jeden gefragt hast?! Es haben alle gewusst? Albert, Finnion, Rayon, Shanny, Greo, Talin und – und niemand hat mir etwas gesagt?!“
Er schüttelte den Kopf, den Blick voller Verachtung.
„Als ob, Greg. Und weißt du was, selbst wenn, verdammt, du hättest es mir sagen müssen, ich dachte wir wären, keine Ahnung, ein Team?! Nicht, dass du den einzigen Hinweis in Jahren unter deinen dreckigen Teppich kehrst, nur damit du weiter in denselben ‚sicheren‘ Gewässern rumdümpeln kannst!“
Seine Stimme überschlug sich bei den letzten Worten fast, sein Körper bebte, die Hände, mit denen er gestikulierte, hatten sich längst wieder zu Fäusten geballt. Einen Moment wirkte er, als würde er erneut zu schlagen wollen. Er atmete durch die zusammengebissenen Zähne, zwei Mal ein, zwei Mal aus, dann machte er abrupt einen Schritt zurück.
„Okay. Schön. Nur zu. Wenn das deine Einstellung ist, behalt ihn doch ruhig noch ein paar Monate, oh, wieso nicht gleich Jahre für dich, ich hab ja jetzt meinen ‚eigenen‘ Brief.“
Er betonte das in einer Weise, die deutlich machte, dass er nie so gedacht hätte. Nicht bis heute zumindest. Er schüttelte den Kopf, zögerte einen Herzschlag und wandte sich dann doch um und marschierte, okay humpelte, aber verdammt entschlossen, auf das nächste Fischerboot zu.
Gregory reagierte nicht auf Trevors Einwurf, auch wenn er dessen Reaktion, samt beißenden Spott, durchaus mitbekam.
Nein. Er musste sagen, was er zu sagen hatte. Denn dass, was er sagte, das war die reine Wahrheit, wenn auch eine, die Trevor nicht hören wollte. Und Trevor wusste—
Nein.
Das stimmte nicht. Das hatte er beendet, hatte das blinde Vertrauen untergraben, was zwischen ihnen geherrscht hatte und dieses Wissen ließ alles, was er sagte, bitter schmecken. Das Einzige, was er tun konnte, war weiterhin ehrlich zu ihm zu sein und hoffen, irgendetwas davon zu retten oder mit der Zeit flicken zu können.
Denn jetzt drang er nicht wirklich zu ihm durch. Aber er baute darauf, dass sein Bruder sich später an seine Worte erinnern würde.
Dabei verdichtete sich der Knoten in seinem Magen mehr und mehr. 'Feigling', ertönte seine innere Stimme wieder und wieder in seinem Hinterkopf. 'Hör auf!'
Er wollte es nicht mehr hören, wusste es längst, doch sie ließ ihn nicht in Frieden. 'Feigling.'
'Ich sagte: Hör auf!'
Nein. So leicht würde sie nicht aufhören. Da würde noch viel Zeit vergehen müssen.
Dann war alles hinaus.
Trevors erste Reaktion glich einer Abfuhr, in die seine innere Unruhe mit einstimmte: 'Ja. Hör auf zu schwafeln!'
'Ich schwafel nicht!'
'Doch. Tust du.'
'Halte einfach die Klappe!'
Prompt schwieg sie. Allerdings brauchte sie auch nichts mehr sagen, denn Trevor sprach das aus, was sie ihm, was er sich selbst, schon so oft vorgehalten hatte. 'Zu lange.'
Viel zu lange hatte er sich von seiner Angst beherrschen lassen, nichts gesagt, seinem Bruder nicht genug vertraut. Und der würde nicht verstehen, dass es ab einem gewissen Zeitpunkt für den Schiffsarzt nur noch schlimmer geworden war, konnte es einfach nicht verstehen, weil sein Bruder einfach war, wie er war. 'Hör auf zu schwafeln', echote Trevors Stimme in seinem Kopf.
Greg schwieg, nickte bloß.
Was hätte er denn auch anderes als "Ja" sagen können? Weitere Entschuldigungen? Was hätte das gebracht?
Stattdessen glitt seine Hand über die versteckte Brusttasche und das Papier darin.
Gründlich überlegte er seine Worte, während er den ausgesprochenen Gedankengängen des jüngeren Scovells folgte. 'Hör auf zu schwafeln, Feigling!', kicherte seine innere Stimme, doch sie meinte nicht den Jüngeren.
Nein. Greg beschloß, er würde nicht schwafeln. Aber er würde ihm Rede und Antwort stehen. Trotzig hielt er Trevors Blick und der drohenden Faust stand.
"Trevor ...", kam es leise, wohl zu leise, als das sein Bruder darauf reagierte.
Der wandte sich schließlich ab und stapfte davon.
Da ballte er ebenfalls die Fäuste und stieß sich ab, fest entschlossen, dieses Gespräch jetzt auch zu Ende zu bringen. Er war lange genug ein Feigling gewesen. Damit war ab sofort Schluss! Ab Heute würde er sich nicht mehr ins Boxhorn jagen lassen, sondern sich stellen. Allem.
Gregory wusste, dass es verdammt schwer werden würde, doch jede Alternative wäre weit schlimmer. Mit wenigen Schritten schloss er zur wichtigsten Person seines Lebens auf, packte mit der Linken deren Oberarm und riss sie zu sich herum, hielt sie fest und stützte sie zugleich.
"Das ist nicht meine verdammte Einstellung!", fuhr er Trevor aufgewühlt an. "Was glaubst du denn, warum ich dir das alles sage?? Ich versuche gerade meinen Fehltritt wieder gut zu machen, verdammt!"
Seine Rechte löste sich, griff durch den Ausschnitt in sein Hemd, holte beide Texte hervor, den Neuen, sowie den in gewachstes Leder geschlagenen Alten, und drückte sie Trevor gegen die Brust.
"Hier! Nimm sie! Mach damit, was du willst."
Er hatte es nicht verdient, sie weiterhin zu verwahren, außer sein Bruder gäbe sie ihm zurück. Außerdem brauchte er sie nicht. Er kannte sie eh auswendig.
„Fehltritt?! Du nennst deinen Bruder – mich! – über Monate hinweg belügen einen ‚Fehltritt‘?!“
Statt einer weiteren hohlen Rechtfertigung drückte ihm Greg den Brief gegen die Brust. Nein, die Briefe, es waren zwei. Trevors Hände schlossen sich reflexartig um das Papier. Da war der von Lissa, ein bisschen zerknittert und ein bisschen blutbefleckt, und ein anderes, ledernes Ding, dessen Anblick Trevors Herzschlag aussetzen ließ. Verflucht, das kannte er.
Du hast den dabei? Erst als er zu Greg aufsah, bemerkte er, dass er bloß die Lippen bewegt und kein Wort herausgebracht hatte. „Du hast den DABEI?!“, wiederholte er, viel zu laut diesmal, wobei, nein verdammt, das war genau richtig so. „Du schleppst ihn die g a n z e Zeit mit dir rum und sagst NICHTS?!“
Und das nicht nur heute, er hatte das Papier schon dutzende Male in Gregs Händen aufblitzen sehen, aber er dachte – er hatte gedacht – Mann, keine Ahnung, dass es irgendein Medizinbuchkrams war! Ohne Bilder und mit komplizierten Wörtern, über denen sein Bruder eben mal wieder brütete. Nur irgendeine weitere stinknormale, langweilige Buchseite. Er war so dumm, er könnte heulen.
„Verdammt, nein!“
Nein, er war nicht dumm und er sollte nicht heulen und verdammt, es war unfair, dass ihm trotzdem die Tränen über die Wangen liefen.
„Ich hab dir gesagt, du kannst deinen ‚Fehltritt‘ behalten! Glaubst du wirklich, es geht mir um – um – ach vergiss es! Jetzt lass mich los!“
Mit einem Ruck befreite er sich aus dem Griff, schubste Greg von sich und warf ihm seine dämliche, langweilige Buchseite vor die Füße.
„Da.“
Abrupt wandte er sich um, überbrückte die letzten Meter und stützte sich auf das Fischerboot. Nicht nur, weil sein Fuß so hässlich brannte.